Titel
Matzpen. Eine andere israelische Geschichte


Autor(en)
Fiedler, Lutz
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 25
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angelika Timm, Berlin

Bereits im Vorfeld der Staatsgründung Israels bildete sich im jüdischen Jischuw ein differenziertes Parteienspektrum heraus. Die politische Landschaft reichte von der Ultra-Rechten über die Religiösen bis zur extremen Linken. Seit 1948 widerspiegelt sie sich in der Knesset, aber auch in außerparlamentarischen Zusammenschlüssen und in einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Linkssein bedeutete und bedeutet zunächst Einsatz für eine progressive Sozialpolitik. Parallel zur grundlegenden Positionsbestimmung existierte stets ein gespanntes Verhältnis zwischen jüdischer Bevölkerungsmehrheit und arabisch-palästinensischer Minderheit. In dieser Frage unterschieden sich von Anbeginn die Grundhaltungen zionistischer und nicht- bzw. antizionistischer Linker. Seit dem Junikrieg 1967 steht „links“ im Selbstverständnis und Sprachgebrauch der israelischen Öffentlichkeit zudem für die kritische Haltung zur Besatzungspolitik, verbunden mit Forderungen, die allgemeinen Menschenrechte zu achten, den israelisch-palästinensischen Konflikt einvernehmlich zu regeln und das nationale Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zu gewährleisten bzw. einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu akzeptieren. Während die maßgeblichen Gruppierungen der demokratischen Rechten wie Linken in Medien und thematischen Abhandlungen vielfältig dargestellt wurden, blieben die extremeren Facetten im linken Spektrum weitgehend unterbelichtet.

Es ist das Verdienst Lutz Fiedlers, dass er eine konkrete Bewegung der radikalen Linken Israels nunmehr einer gründlichen Analyse unterzieht. Die marxistische bzw. trotzkistische Ha-Irgun Ha-Sozialisti Be-Jisrael (Sozialistische Organisation in Israel), bekannt unter dem Namen Matzpen, entstand vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und des Nahostkonflikts. Sie war beeinflusst durch die Neue Linke in Westeuropa und Nordamerika, die sich von den traditionellen sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Parteien abgrenzte und in der sich zahlreiche Jüdinnen und Juden – häufig Kinder von Opfern oder Überlebenden des Holocaust – engagierten. In diesem Sinne reichte ihre Bedeutung über die israelische Gesellschaft hinaus.

Matzpen – das hebräische Wort für Kompass – stand zunächst für den Namen der Zeitschrift der 1962 nach Abspaltung von der Kommunistischen Partei Israels (KPI) selbständig agierenden Sozialistischen Organisation. Zunehmend firmierte der Begriff als Synonym für die gesamte Gruppierung. Er verdeutlichte, so Fiedler, „dass es um eine Richtungsbestimmung, einen Kompass der Geschichte gehen sollte“ (S. 49). Seine Studie beschäftigt sich dementsprechend mit dem „Streben nach Veränderung, ja nach Neuerfindung einer israelischen Gesellschaft im Sinne einer Überwindung des Palästinakonflikts und einer gemeinsamen Zukunftsperspektive von israelischen Juden und palästinensischen Arabern“ (S. 20). Basierend auf einer sozialistisch-internationalistischen Grundposition und einem säkularen hebräischen Selbstverständnis stellte Matzpen – lange vor den Postzionisten und den Neuen Historikern der 1990er-Jahre – den zionistischen Grundkonsens in Frage. Vorgelegt wurde ein Gegenentwurf, der das Ziel hatte, durch Regelung des Palästinakonflikts die Existenz Israels im Nahen Osten dauerhaft abzusichern.

Lutz Fiedlers Publikation basiert auf seiner 2015 an der Universität Leipzig verteidigten Dissertation. Sie gliedert sich in sechs größere Abschnitte, die jeweils eigene Fragestellungen für die Herausbildung und Wirkung der israelischen Neuen Linken zum Gegenstand haben. Das erste Kapitel „Kommunistische Dissidenten“ ist der Entstehungsgeschichte von Matzpen gewidmet. Zentrale Themen sind unter anderem die gegensätzlichen Positionen hinsichtlich sozialer Emanzipation (insbesondere Rolle der Histadrut) oder der Staatsgründung bzw. der palästinensischen Nakba. Im zweiten Abschnitt „Linke Kolonisatoren“ thematisiert der Autor die Haltung von Matzpen-Aktivisten zum Palästinakonflikt bzw. ihre Sicht auf die zionistische Siedlungspolitik seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Spannend liest sich auch Kapitel 3 „Die Erfindung einer hebräischen Gegenwart – Über israelische Selbstverständnisse im Konflikt“, enthält es doch bisher ungenügend diskutierte Aspekte der Entwicklung israelischer Kultur und Sprache. Eingebettet in den Diskurs ist die Wirksamkeit des unlängst verstorbenen Friedensaktivisten, Journalisten und Autors Uri Avnery und der von ihm 40 Jahre lang herausgegebenen Zeitschrift Haolam Haseh. Kapitel 4 „Hal’a HaKibbush! – Nieder mit der Besatzung“ ist auf die Haltung der radikalen israelischen Linken zum Junikrieg 1967 fokussiert. Als wichtiges Hintergrundgeschehen wird die Herausbildung neuer Strömungen und Haltungen innerhalb der europäischen Linken oder die Gründung der PLO bzw. deren politische Entwicklung von einer Terrororganisation zu einer international anerkannten Vertretung der Palästinenser thematisiert. Daran bindet sich ein fünftes Kapitel „Khamsin – Ein neuer Naher Osten en miniature“. In ihm wird die 1974–1987 in Paris bzw. London erschienene Zeitschrift Khamsin als Sprachrohr von Matzpen analysiert und als „Plattform und Sammelbecken für ganz unterschiedliche Dissidenten aus der arabischen und muslimischen Welt“ (S. 268) bewertet. Nicht primär chronologisch, sondern stärker sachbezogen ist das abschließende sechste Kapitel „Jenseits des Holocaust – Jüdische Vergangenheit, hebräische Gegenwart, sozialistische Zukunft“. Es setzt sich detailliert mit der Frage auseinander, inwieweit die israelische Neue Linke die Bedeutung des Holocaust und dessen Auswirkungen auf jüdisches Bewusstsein wahrgenommen bzw. verarbeitet oder aber weitgehend ignoriert hat. Anders als israelische Kommunisten oder linkszionistische Politiker habe Matzpen an die Traditionen der Vorkriegszeit angeknüpft und ein binationales jüdisch-arabisches Gemeinwesen befürwortet.

Auch durch Einbeziehung einer Anzahl hebräischsprachiger Quellen, Interviews und umfangreicher Archivrecherchen vermag es der Autor, der interessierten Leserschaft eine sachkundige und fundierte Analyse der radikalen israelischen Linken vorzulegen. In ihr verbindet sich historisches Wissen mit detaillierter Hintergrundinformation. Insbesondere deutschen Lesern werden Einblicke und Fakten vermittelt, die ihnen bisher weitgehend verschlossen blieben. Der akademischen und politischen Öffentlichkeit vermittelt die Publikation Einblick in innergesellschaftliche Debatten über Charakter, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Staates Israel. Gleichermaßen positiv gewertet sei auch die Nachzeichnung vieler biografischer Details. So werden Personen wie der Schriftsteller und Künstler Amos Kenan oder das erste jüdische PLO-Mitglied Ilan Halevy der Vergessenheit entrissen. Andererseits bleiben Hauptlinien des untersuchten Geschehens mitunter unterbelichtet bzw. ist die Relevanz zum übergeordneten Thema nicht immer nachvollziehbar (beispielsweise der Abschnitt über Hebräische Pornografie in Kapitel 3).

Wünschenswert wären konkretere Informationen über Kritik von außen und inneren Positionsstreit der israelischen Kommunisten gewesen, von deren Positionen sich Matzpen letztlich abgrenzte. Über zwei Legislaturperioden (1965–1973) hinweg existierten in der Knesset immerhin zwei kommunistische Parteien – die jüdische Maki und die jüdisch-arabische Rakach.

Zugestimmt sei Fiedlers Wertung, dass „die Geschichte von Matzpen […] auch die Geschichte einer jüdisch-arabischen Verbundenheit [ist], die unter der Flagge des sozialistischen Internationalismus beanspruchte, Wegbereiter einer gemeinsamen Zukunftsperspektive für die gesamte Region zu werden“ (S. 23). Trotz ihrer geringen Mitgliedschaft spielten Organisation und Zeitschrift keine unwichtige Rolle im innerisraelischen Diskurs. Um die reale gesellschaftliche Einflussnahme der Gruppe zu verifizieren, wäre es hilfreich gewesen, eingangs die Entwicklung des größeren Spektrums der israelischen Linken zu skizzieren bzw. das breit gefächerte Parteiensystem mit seinen einander gegenüberstehenden Flügeln vorzustellen. Für mit der Materie wenig vertraute deutsche Leser wäre zudem ein Glossar der relevanten Parteien und Organisationen nützlich.

Abschließend seien wenige Fragen benannt: Matzpen wird, beispielsweise auf Seite 90, als „binationale Gruppierung“ charakterisiert. Das macht neugierig. Welche Rolle spielten die arabischen Mitglieder und deren Interessen in der Organisation? Welche Position bezogen sie zu den Spaltungen 1970 und 1972? Wie entwickelte sich das Verhältnis von Aschkenasim und Mizrachim? Worin lag die Auflösung von Matzpen 1983 letztlich begründet? Wurde durch den Bruch des generellen nationalen Konsenses während der Libanoninvasion und durch Herausbildung einer relativ breiten Antikriegsbewegung in Israel die Existenz einer radikalen Linken obsolet? Existieren heute im Lande Gruppen oder Parteien, die in ihren Auffassungen und Wirkungen Matzpen nahestehen? Wer unter den Linken vertritt aktuell „das andere Israel“?

Die sachkundige und gründliche Analyse der mehr als zwei Jahrzehnte in Israel tätigen marxistischen Organisation Matzpen füllt – zumindest in Deutschland – eine wissenschaftliche und publizistische Lücke. Zu den Verdiensten Lutz Fiedlers gehört darüber hinaus, dass er, wissend und stringent, stets den Zeitgeist in seine Überlegungen einbezieht und auf wichtige internationale Bezüge und Zusammenhänge verweist. Im Interesse eines historisch abgesicherten facettenreichen Israelbildes ist der Publikation – über das wissenschaftliche Fachpublikum hinausgehend – ein breiter Leserkreis zu wünschen.