: Hübinger, Gangolf; In Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Uta Hinz (Hrsg.): Briefe 1875–1886. Max Weber-Gesamtausgabe: Band II/1. Tübingen 2017 : Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-154153-7 XXIII, 758 S. € 320,00

: Aldenhoff-Hübinger, Rita; In Zusammenarbeit mit Thomas Gerhards und Sybille Oßwald-Bargende (Hrsg.): Briefe 1887–1894. Max Weber-Gesamtausgabe: Band II/2. Tübingen 2017 : Mohr Siebeck, ISBN 978-3-16-154927-4 XX, 682 S. € 280,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hettling, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Karl Heinz Bohrer provozierte in seiner universitären Zeit Jungakademiker gerne mit dem schnoddrig verkündeten Satz, bis zur Habilitation müsse man es schaffen, ein unabhängiger Kopf zu bleiben, danach bleibe man es ohnehin. Ob dem so ist, darüber kann man lange streiten. Am Beispiel Max Webers, der zweifellos einen unabhängigen Kopf trug, lässt sich an den beiden Briefbänden nun die in manchen Bereichen typische, in anderen wiederum sehr untypische Phase bürgerlicher Lehr- und Wanderjahre bis zur wissenschaftlichen (Habilitation 1892), beruflichen (außerordentlicher Professor in Berlin 1893, ordentlicher Professor in Freiburg 1894) und privaten (Heirat mit Marianne Schnitger 1893) ‚Reife' verfolgen. Da mit diesen beiden Bänden zugleich die Edition der Weber‘schen Briefe insgesamt abgeschlossen ist, ist nun neben den älteren und neueren Biographien1 ein intensiver, quellengesättigter Blick auf Max Weber möglich, wie er in dieser Dichte für kaum einen bürgerlichen Gelehrten zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert möglich ist. Auch wenn die Edition ‚nur‘ die Briefe Webers bringt, bieten die Bände im Grund eine genuine Biographie – mit den Einleitungen als Haupttext und den edierten Briefen als Zusatzmaterial zur Vertiefung. Hier überzeugen die beiden Bände nicht nur durch die (gewohnte) editorische Sorgfalt, sondern auch durch die Einleitungen, welche einen konzisen Überblick über die zentralen Themen und auch die jeweiligen biographischen und historischen Kontexte bieten.

Legt man die Matrix des Bildungsromans zu Grunde, so ermöglichen die Briefe der ersten 30 Lebensjahre, die 1875 beginnen, als Weber 11 Jahre alt ist, aber vor allem seit 1878/79 dichter werden, sowohl einen Einblick in die vier grundlegenden Sozialisationsinstanzen (Familie und Schule / Universität sowie Militär und Verein / Verbindung) als auch in vier klassische Bewährungsfelder (Wissenschaft, Beruf, Politik und Liebe), auf denen das sich entwickelnde bürgerliche Individuum praktisch handelnd tätig wird.2

Für alle Dimensionen des Lebens findet man reizvolle und anschauliche Beispiele und Episoden, kann auch den sich ändernden Stil des jungen Max Weber verfolgen. Dieser beginnt mit den oft altklugen Bemerkungen des Pubertierenden, bleibt gegenüber dem Vater immer im Förmlichen und Formelhaften, ist gegenüber der Mutter viel offener und subjektiver, gegenüber dem jüngeren Bruder Alfred oder dem Vetter Baumgarten schon früh lehrend-belehrend. Typisch bürgerlich sind die Berichte über die Reisen, etwa zu den Schlachtfeldern des deutsch-französischen Krieges, mit Wanderungen zu den Orten des Krieges nur wenige Jahre zuvor, oder auch zu den Stätten der Bildungserlebnisse der väterlichen Familienangehörigen. An die Mutter wird aus Jena selbstverständlich über Goethe und Schiller geschrieben, und, vom 14-jährigen Max mit mehr Begeisterung, vom Burgkeller, „dort hat ja einst Onkel Hermann gekneipt“ (2. Juli 1878). Der Alkohol war für den männlichen Bildungsbürger erstens bereits in jungen Jahren üblich, und zweitens selbstverständlich. An die Eltern schreibt der junge Student, dass er erst jetzt zu einem Brief komme, da er gestern „in Folge unvermeidlichen continuierlichen Kneipens in zweifelhaftem Zustande war“ (24. April 1882). Untypisch für den durchschnittlichen Bildungsbürger war hingegen das Lektüreprogramm und -pensum des jungen Max.3 Und untypisch zumindest im Vergleich zu heutigen Pubertierenden war es, wenn der 12-Jährige die Großmutter fragt, ob er seinem Cousin für erhaltene Schmetterlinge als Dank selbst angefertigte „vollständige Stammbäume“ (20. September 1876) mittelalterlicher Fürstenhäuser schicken solle. Die Familie jedenfalls, hier der weite Kreis inklusive der Verwandtschaft, bei welcher der Student dann regelmäßig verkehrt und zum Teil auch studiert, bildet den primären Erfahrungsraum für Freundschaften, später auch für die Entwicklung emotionaler Gefühle gegenüber Frauen (Emmy Baumgarten als erste Schwärmerei bzw. Liebe war Webers Cousine ersten, Marianne Schnitger, die Ehefrau, seine Cousine zweiten Grades).

Wenn der Bildungsroman einen diachron strukturierten Erzählstrang vom Reifungsprozess des Individuums bietet, der eben mit der erfolgreichen Persönlichkeitsbildung oder dem Scheitern endet, so liefert die Briefedition eher – erzähltechnisch gewissermaßen sehr modern – jeweils einzelne Spots auf und aus diesem Bildungsgang, in unterschiedlicher zeitlicher Dichte. Das ermöglicht Einsichten auch in die Sprache. Eher typisch die Wendung, mit welcher der Jungakademiker seine Braut bzw. Frau immer wieder adressiert, „mein Kind“. Das trieft von patriarchalischer Fürsorge und Bevormundung, wozu passt, dass Marianne den Ehe- und Erbvertrag, den die beiden Väter der Heiratenden vereinbarten, noch wenige Tage vor der Hochzeit nicht kannte.4 Doch das verhinderte nicht, dass die Webers bei allen Schwierigkeiten ein partnerschaftliches Lebensmodell praktizieren und leben lernten, welches sich vom bürgerlichen Patriarchalismus der Jahrhundertwende weit entfernte und Marianne eine intellektuelle, berufliche und später auch öffentliche Rolle ermöglichte. Auffallend auch Webers Vorliebe für Kampfbegriffe. Er spricht vom Vorteil des Mannes, dem der „äußere Arbeitszwang Ableitung“ gebe (17. Juli 1893), schreibt im berühmten Brautbrief vom „göttlichen Zwange der vollen bedingungslosen Hingabe“ (16. Januar 1893), berichtet an anderer Stelle vom „Weinzwang“, unter dem der Einjährige im Militärdienst leide, weil er privat zu Mittag speise und im Lokal esse, was dazu beitrage, den Militärdienst zu einer „ganz niederträchtig teuren Geschichte“ zu machen (6./9. Februar 1884). Die Militärzeit erscheint immer wieder als geradezu zwanghafte Ruhigstellung des im intellektuellen Aufbruch befindlichen Kopfes. Beklagt wird eine geistige Leistungsunfähigkeit im und nach dem Dienst, „ich denke an nichts, – wirklich an gar nichts“ (19. Januar 1884).

Im Unterschied zum Militär gelten die drei anderen Sozialisationsinstanzen zu den Kernzonen, in denen das bürgerliche Individuum sich bildete. Bei Max Weber kann man in den Briefen den Eindruck gewinnen, dass jeweils in Familie, Schule und – später – den studentischen Verbindungen die freie, selbständige Persönlichkeit nicht so sehr aktiv befördert wurde, dass in ihnen aber immerhin ein Raum existierte, der Möglichkeiten zur Verfügung stellte, für ein geschütztes Ausprobieren eigener, mit dem Älterwerden sich erweiternder Möglichkeiten. Wer so viel, und so Unterschiedliches las wie Weber, der konnte nur skeptisch sein gegenüber Lehrern („aber ich wüßte nicht, von meinem lateinischen Lehrer irgend ein wichtiges Wort über Cicero's Charakter oder Politik gehört zu haben“, 25. Oktober 1878) oder Professoren (die Rechtsgeschichte Bekkers gefalle ihm nicht, „weil ich dabei den Grund der eigentümlichen Disposition nicht einsehe“, 9. Mai 1882). Der berichtete den Eltern über Lektüren, Reisen, Erlebnisse, politische Wahrnehmungen mit der Erwartung eines relativ großen Freiraums des Sag- und Tolerierbaren. Das nicht Sagbare daraus zu ermitteln, wäre vielleicht eine eigene Studie wert. Auch das Verbindungsleben scheint Max Weber mehr als Selbsterfahrungsraum (für Alkohol, Pauken, Debattieren) gereizt zu haben, als dass tiefergreifende Sozialisationsspuren einen brieflichen Niederschlag hinterließen.

Wenn Weber sich in seiner Antrittsvorlesung (13. Mai 1895), also nach dem hier sich abbildenden Zeitraum als Mitglied der bürgerlichen Klassen bezeichnet, beanspruchte er damit auch, ein bürgerliches Individuum geworden zu sein, das seinen eigenen Kopf habe und zu nutzen verstehe. Und er bewies sich sogleich als unabhängiger, analytisch scharf denkender, streitbarer und streitlustiger Geist. Dahin hatte sein Handeln seit den späten 1880er-Jahren mehr und mehr gezielt, seit der Habilitation war er gemäß den Standards des akademischen Lebens im späten 19. Jahrhundert dafür auch satisfaktionsfähig. Das bewies er nun in einer Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten in unterschiedlichen Themen und in darauf sich stützenden politisch-publizistischen Tätigkeiten.

Die ersten 30 Lebensjahre Webers im Spiegel seiner Briefe so zu schildern, gerät in die Nähe bürgerlicher Heldengeschichten. Doch offenbart gerade die Offenheit der brieflichen Intimität auch Blicke in die Brüche und Widersprüche dieses Lebens. Wenn es im Brautbrief (16. Januar 1893) heißt, „komm mit mir mein hochherziger Kamerad ... wenn die Empfindung Dir hoch geht, mußt Du sie bändigen, um mit nüchternem Sinn Dich steuern zu können“, so war das als Liebeswerbung zumindest ungewöhnlich, und vielleicht mehr eine Selbstbeschreibung. Jedenfalls ist der Werdegang dieses ‚Seemannes‘ der privaten und politischen Leidenschaften in den beiden Bänden mustergültig ediert und mit dem richtigen Maß zwischen prägnanter Knappheit und ausreichender Fülle kommentiert – so dass der Leser dadurch einen Kompass für die Lektüre hat. Man kann über den Sinn papierner Editionen in heutiger Zeit lange diskutieren. Mir scheinen sie nach wie vor sinnvoll, wenn es die Edierten lohnen, wie es bei Max Weber der Fall ist, worüber man nicht lange debattieren muss. Aber wenn man sie macht, dann bitte so.

Anmerkungen:
1 Neben Marianne Webers Lebensbild und den Arbeiten von Wolfgang J. Mommsen, Guenther Roth, Jürgen Kaube, Jochen Radkau, sei aber auch auf die Arbeiten zu den Frauen 'von' Max Weber verwiesen: Bärbel Meurer, Marianne Weber. Leben und Werk, Tübingen 2010; Eberhard Demm, Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber, Düsseldorf 2014.
2 Religion war für Weber besonders wichtig als ethische Instanz, doch tritt sein religiöser Werdegang in den Briefen kaum in Erscheinung, sie begegnet eher indirekt in der normativen Fundierung der sozialpolitischen Reformvorstellungen gegen die bestehende Ordnung und gegen den Liberalismus der Vätergeneration.
3 Jürgen Kaube hat dies illustriert am Beispiel der Buchweihnachtsgeschenke, die der 14-Jährige 1878 erhielt. Vgl. Jürgen Kaube, Max Weber, Berlin 2014, S. 27–37.
4 Zum familialen Kontext, der in der Krankengeschichte von Mariannes Vater seinen Ursprung hatte, vgl. Band II/2, 31f. (Einleitung).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch