H. Börm u.a. (Hrsg.): The Polis in the Hellenistic World

Cover
Titel
The Polis in the Hellenistic World.


Herausgeber
Börm, Henning; Luraghi, Nino
Erschienen
Stuttgart 2018: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philip Egetenmeier, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg

Zur Polis im Zeitalter des Hellenismus wurden in den letzten Jahren zahlreiche und umfangreiche Studien veröffentlicht und das Thema dadurch in den Fokus der Forschung gerückt. Auch der vorliegende Band setzt an diesem Punkt an. Es handelt sich um eine Sammlung von insgesamt zehn Artikeln in englischer Sprache aus der Feder renommierter Forscher. Der Sammelband entstand aus den Beiträgen zweier Workshops in Konstanz 2014 und Princeton 2015 zum Thema „Rethinking the Polis in the Hellenistic Age“, wie aus dem kurzen Vorwort der beiden Herausgeber Henning Börm und Nino Luraghi hervorgeht. Ebendieser Titel würde dem Inhalt des Bandes besser gerecht werden, denn es handelt sich keineswegs – wie man bei „The Polis in the Hellenistic World“ vermuten könnte – um ein Überblickswerk. Die meisten Beiträge sind neu, also noch nicht anderen Orts in ähnlicher Form publiziert.1 Sie stehen thematisch unabhängig voneinander und geben Einblicke in laufende Forschungsprojekte.

Clifford Ando befasst sich mit den Grenzen politischer Partizipation in hellenistischen Demokratien („democratic boundary problem“) und der ideologischen Legitimierung dieser Grenzen durch die Eliten. Wie ‚demokratisch‘ waren hellenistische Demokratien und inwieweit können diese als Oligarchien verstanden werden? Ando versucht, auf Basis einer Vielzahl komparatistischer und theoretischer Zugänge außerhalb der Altertumswissenschaften demokratische Ideologien (wie ‚Gleichheit‘ trotz massiver materieller Ungleichheit) zu reflektieren. Er kommt zu dem Schluss, dass die Bezeichnung als „actual democracies“ für hellenistische Städte „close to no analytical or evaluative meaning“ hat (S. 23).

Christel Müller plädiert in ihrem Beitrag für die Notwendigkeit einer Neudefinition von ‚Oligarchie‘, die den Fokus auf Reichtum und dessen Verteidigung durch seine Inhaber legt. Zunächst untersucht sie die politische Terminologie bei Aristoteles, Polybios und in den Inschriften. Dabei geht es ihr um „oligarchic situations“ (so etwa Euergetismus, Gastmähler oder die dauerhafte Vereinnahmung der höchsten Ämter durch einzelne Familien), in denen reiche Bürger oder Fremde das innerstädtische Klima „in a spectacular way“ beeinflussen (S. 29).

Henning Börm widmet sich dem Bürgerkrieg (stasis) in hellenistischen Poleis und stellt anhand des (vor allem epigraphischen) Quellenmaterials exemplarisch Begründungsstrategien für Bürgerkrieg vor. Börm zeigt, dass negative Zustände eines Gemeinwesens im öffentlichen Diskurs vor allem ökonomischen Faktoren, zwischenstaatlichen Konflikten und unfairer Rechtsprechung zugeschrieben wurden (S. 60–65). Durch falsches Agieren konnte für die herrschende Klasse zudem ein „legitimacy deficit“ (S. 67) entstehen. Nach einer stasis wurden die Verlierer (bzw. Sündenböcke) von der siegreichen Partei entsprechend als Feinde von Freiheit und Demokratie gebrandmarkt.

Anna Magnetto untersucht zwischenstaatliche Konfliktlösung unter den drei Aspekten Ideologie, Entwicklung und Erinnerung. Auf ideologischer Ebene erkennt Magnetto einen erhöhten „propagandistic use“ von „core values of the polis“ (S. 88). Im Gegensatz zu früheren Epochen wurden im Hellenismus erstens eine größere Bandbreite an Problemen vor internationalen Richtern verhandelt und zweitens polis-übergreifende Standards für diese Verfahren etabliert. In Rechtsstreiten untermauerten Poleis ihre Ansprüche zunehmend mit eigener Lokalgeschichte und verliehen dieser Form der Geschichte durch Verinschriftlichung zukünftige Autorität (S. 101f.).

Peter Funke zeigt, wie Bundesstaaten (koina) zu einer „revitalisation“ (S. 125) ihrer Mitgliedstädte beitrugen. Sie erfuhren in hellenistischer Zeit sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht einen Aufschwung. Aufgrund ihrer „inclusive force“ (S. 115) besaßen sie eine hohe Stabilität, ohne Zentralisierungstendenzen zu entwickeln oder eine (problematische) interne Kompetitivität zu fördern. Funke erklärt institutionelle Veränderungen, welche die Kompetenzen des Rats (synhedrion) sowie der Magistrate gegenüber der Bundesversammlung erhöhten, als Anpassungsmaßnahmen gegenüber außenpolitischem Druck, die schnelleres politisches Handeln ermöglichen sollten.

Frank Daubner kritisiert, dass die nördlichen Regionen der griechischen Welt in der Hellenismus-Forschung gerne vernachlässigt werden, und möchte mit seinem Beitrag zeigen, dass auch die Regionen Makedonien und Epirus in die ‚Peer Polity Interaction‘ eingebunden waren, also als gleichwertige griechische Gemeinwesen von anderen Poleis anerkannt worden sind. Hierzu wertet Daubner die Theorodoken-Listen von Epidauros, Argos, Nemea und Delphi sowie die sogenannten Asylie-Dekrete im Rahmen der Einführung von Festen in Kos, Magnesia am Mäander und Stratonikeia aus.

Graham Oliver beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit sich signifikante Veränderungen oder Kontinuitäten im Wirtschaftsleben griechischer Poleis während der hellenistischen Zeit feststellen lassen. Zu den Veränderungen zählen nach Oliver die Intensivierung des Güterverkehrs, die er anhand von Schiffswracks (S. 162–164) feststellt, sowie der Einfluss der hellenistischen Könige und Roms auf die städtische Münzprägung (S. 165–167) im Rahmen von Soldzahlungen. Die Poleis als „economic nodes“ (S. 168–172) traten weiterhin proaktiv für ihre wirtschaftlichen Interessen ein und nutzten hierfür vor allem die Netzwerke ihrer Eliten (S. 172–176).

Angelos Chaniotis untersucht Veränderungen im Nachtleben der Stadtbevölkerung und ordnet diese in einen Prozess der zunehmenden „denocturnalization“ (S. 189), also ‚Entnachtung‘ ein, der im Hellenismus einsetze und sich bis in die Spätantike weiter intensivierte. Die Institutionalisierung von Nachtwachen zum Schutz vor Piratenüberfällen und von Gymnaikonomoi zur Beaufsichtigung des immer ausgeprägter werdenden nächtlichen Kultlebens bilden neben zunehmenden nächtlichen Vereinsaktivitäten sowie der steigenden Bedeutung von Inkubation, professionalisierter Traumdeutung und Magie die Grundlagen für seine Schlussfolgerungen.

Nino Luraghi befasst sich in seinem Beitrag mit politischer Ideologie in athenischen Dekreten im Zeitraum vom Tod Alexanders bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts v.Chr. Luraghi geht es dabei um die hinter den Narrativen und Auslassungen verborgenen ideologischen Grundlagen, die zur vorliegenden Darstellungsform geführt haben. Er kann dabei darlegen, wie schwer es den Athenern offenbar fiel, über Könige zu sprechen (S. 221–223), und wie bewusst internationale Umstände bei der Verewigung auf Stein ausgelassen wurden, um außenpolitische Krisen als innenpolitische zu verklären. Hans-Ulrich Wiemer geht der Frage nach, an welches Publikum sich die Lehre des stoischen Philosophen Panaitios, dessen Werk Peri tou kathekontos die Hauptgrundlage für Ciceros De officiis bildete, primär richtete. Nach einem Abgleich, wieviel Gedankengut in Ciceros Werk originär von Panaitios stammte und welche zentralen Inhalte darin vermittelt werden sollten, kommt Wiemer zu dem Ergebnis, dass die intendierte Leserschaft entgegen der derzeitigen communis opinio nicht aus der römischen Oberschicht, sondern vor allem aus den honoratiores der griechischen Poleis bestand.

In gleicher Weise muss sich nun auch der Rezensent nach dem intendierten Adressaten des vorliegenden Bandes fragen. Die Beiträge befinden sich ausnahmslos auf einem sehr hohen wissenschaftlichen Niveau und setzen entsprechende Vorkenntnisse über die hellenistische Zeit voraus. Das Buch richtet sich demnach primär an die wissenschaftliche Peer-Group, auch wenn die äußere Form zum Teil eher auf ein breiteres Publikum ausgelegt ist; darauf verweisen vor allem der allgemeine Titel sowie die Beschränkung auf eine englische Übersetzung unter Verzicht auf den griechischen Text bei der Wiedergabe längerer Quellenzitate. Neben dem (very!) General Index am Ende des Buches wäre eine Auflistung der verwendeten Inschriften noch wünschenswert gewesen. In formaler Hinsicht fallen lediglich wenige Flüchtigkeitsfehler auf.2 Insgesamt ist die Lektüre dieses Bandes für jeden zu empfehlen, der sich eingehender mit der hellenistischen Polis und vor allem der politischen Kultur befasst. Er eröffnet neue Perspektiven und regt in der Tat zum ‚Rethinking‘ einiger gängiger Ansichten an.

Anmerkungen:
1 Der Beitrag von Peter Funke ist eine überarbeitete und erweiterte Version von: P. Funke, Die staatliche Neuformierung Griechenlands. Staatenbünde und Bundesstaaten, in: Gregor Weber (Hrsg.), Kulturgeschichte des Hellenismus. Von Alexander dem Großen bis Kleopatra, Stuttgart 2007, S. 78–98; bei dem Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer handelt es sich im Wesentlichen um ein gekürzte Fassung von: H.-U. Wiemer, Römische Aristokraten oder griechische Honoratioren? Kontext und Adressaten der Verhaltenslehre des Stoikers Panaitios, in: Chiron 46 (2016), S. 1–45.
2 So etwa „SEG 66, 331“ (S. 138; gemeint ist SEG 36, 331); „asthe“ (S. 173); „for his s on“ (S. 234).

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