D. Kowalski: Polens letzte Juden

Cover
Titel
Polens letzte Juden. Herkunft und Dissidenz um 1968


Autor(en)
Kowalski, David
Reihe
Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 30
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christian Dahlmann, Hamburg

In Polen kam es 1968 nicht nur zu Studentenprotesten, sondern auch zu einer antisemitischen Kampagne, in deren Folge ca. 15.000 Personen jüdischer Herkunft emigrierten. In den Medien hieß es, hinter den Studentenprotesten stünden "Zionisten". Tatsächlich waren sehr viele der führenden Oppositionellen jüdischer Herkunft. Sie identifizierten sich allerdings nicht mit dem Judentum und waren vollkommen säkular sozialisiert. Manche wussten nicht einmal von ihrer Herkunft, weil ihre Eltern sie ihnen verschwiegen hatten.

David Kowalski fragt in seiner 2015 an der Universität Leipzig als Dissertation angenommenen Arbeit, wie es sich erklären lässt, dass in der studentischen Oppositionsbewegung der 1960er-Jahre in Polen überproportional viele Menschen jüdischer Herkunft engagiert waren (S. 23f.). Zur Untersuchung dieser Frage hat er Archivquellen untersucht, Literaturstudien betrieben und 20 Zeitzeugen der damaligen Protestbewegung befragt, darunter auch seine eigenen Eltern Danuta und Henri Kowalski. Etwa die Hälfte seiner Zeitzeugen stellt Kowalski näher mit ihren Familiengeschichten und Lebenswegen vor. Auf diese Weise macht Kowalski den Forschungsgegenstand sehr greifbar und seine Ergebnisse entsprechend aussagekräftig. Diese Teile der Arbeit lesen sich ausgesprochen spannend.

Die Untersuchung ist in drei Teile geteilt. Im ersten Teil widmet sich Kowalski zunächst der Identifikation der Oppositionellen mit der polnischen Kulturnation und schildert ihre Aktivitäten im Jahre 1968, die sich an der Absetzung des polnischen Nationalepos "Dziady" von Adam Mickiewicz am Warschauer Nationaltheater entzündeten und in den Studentenprotesten im März dieses Jahres kulminierten. Im zweiten Teil geht es um das kommunistische Selbstverständnis der Rebellierenden und ihr darauf beruhendes politisches Engagement von 1962 bis 1967. Im dritten Kapitel wird schließlich die jüdische Herkunft der Aktivisten betrachtet.

Kowalski stellt fest, dass die protestierenden Studenten jüdischer Herkunft in einem bestimmten Milieu aufgewachsen sind (S. 210). Ihre Eltern kamen häufig aus der kommunistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit. Das kommunistische Engagement der Eltern war, so Kowalski, nicht zuletzt eine Antwort auf die "jüdische Frage" gewesen (S. 208). In der Volksrepublik hatten sie hohe Positionen erlangt. So wuchsen ihre Kinder in privilegierten Verhältnissen auf. Sie lebten überwiegend in der Warschauer Innenstadt und gingen auf die gleichen Schulen. Politisch durch die Eltern geprägt, führten sie deren Engagement in einem neuen Kontext fort (S. 208). Der hohe Anteil von Personen jüdischer Herkunft unter den Aktivisten der 1960er-Jahre ging also wesentlich auf den hohen Anteil von Menschen jüdischer Herkunft in der kommunistischen Bewegung der Zwischenkriegszeit zurück.

Doch zu Hause wurde in diesen Familien nicht über die jüdische Herkunft gesprochen. Die Elterngeneration hatte sich mit ihrer Entscheidung für den Kommunismus bewusst vom Judentum abgewandt. Dennoch wuchsen ihre Kinder unter besonderen Umständen auf. Sie hatten kaum Familienangehörige, ihre Eltern waren als Überlebende des Holocaust traumatisiert und schwiegen über die Vergangenheit, und sie kannten keine Form von Religiosität.

Es stellt sich allerdings die Frage, welche Identität eigentlich primär konstitutiv für das politische Engagement der 68er-Aktivisten war: die polnische, die kommunistische oder die jüdische? Kowalski rückt den jüdischen Aspekt stark in den Vordergrund. Aber waren die Oppositionellen nicht im Wesentlichen durch ihre kommunistischen Elternhäuser und ihr sozioökonomisch privilegiertes Herkunftsmilieu geprägt, wie etwa Agnes Arndt akribisch herausgearbeitet hat?1

Kowalski hat die Publikation seiner Dissertation vorbildlich auf gut 200 Seiten beschränkt. Seine Arbeit ist auf eine klare Forschungsfrage konzentriert und im Fokus steht eine kleine, eindeutig definierte Personengruppe. Immer wieder kontextualisiert er seinen Forschungsgegenstand durch Exkurse in die polnische Geschichte. Dies macht sein Werk auch für diejenigen Leser gut verständlich, die keine expliziten Kenner Polens sind.

Manchmal wäre jedoch eine breitere oder vergleichende Perspektive wünschenswert gewesen. Wie positionierten sich beispielsweise die Kinder kommunistischer Funktionäre, die nicht jüdischer Herkunft waren? Warum gab es unter den rebellierenden Studenten so wenige Personen jüdischer Herkunft, die sich selbst bewusst auf ihre jüdische Identität beriefen? Auch sie waren ja in einem speziellen Milieu aufgewachsen. Ist dies nicht ein Hinweis darauf, dass die politische Sozialisation der Opponenten viel bedeutender war als der Kontext der jüdischen Herkunft? Solche Fragen fehlen in der Arbeit; sie ließen sich nur im Vergleich durchdenken und beantworten.

Mit einer solchen vergleichenden Perspektive wäre dem Buch auch der unpassende Titel erspart geblieben. Es geht darin nämlich nicht um "Polens letzte Juden", sondern, wie der Autor selber schreibt, um ein "letzte[s] Aufbäumen […] der jüdischen Hoffnung in den Kommunismus" (S. 212). Wenn man angesichts des Fortbestands jüdischen Lebens in Polen überhaupt von "Polens letzten Juden" sprechen möchte, so wären dazu vielmehr diejenigen polnischen Juden zu zählen, die sich bewusst der Pflege des marginalisierten polnisch-jüdischen Kulturerbes verschrieben, etwa die Schauspielerin Ida Kamińska vom Jüdischen Theater, der Historiker Artur Eisenbach vom Jüdischen Historischen Institut oder auch der Publizist Konstanty Gebert, der seine jüdische Identität erst nach 1968 entdeckte und 1997 die polnisch-jüdische Zeitschrift "Midrasz" gründete.

Vielleicht wäre es treffender gewesen, die protestierenden Studenten von 1968 als "Polens letzte Linke" zu bezeichnen. So lautet jedenfalls die These Michał Siermińskis, dessen Buch sich gut im Kontrast zu Kowalski lesen lässt.2 Siermiński untersucht in seiner Arbeit den geistigen Wandel der polnischen Oppositionellen nach 1968. Ähnlich wie die 68er des Westens entradikalisierten sich auch Adam Michnik und seine Mitstreiter. Mehr noch: Sie gaben die soziale Frage auf und wandten sich der nationalen Thematik rund um die polnische Unabhängigkeit zu. Gleichzeitig näherten sie sich der katholischen Kirche an.

Zweifellos haben sich die polnischen 68er später noch wichtige Verdienste erworben. So ist Kowalski zuzustimmen, wenn er die Beiträge seiner Protagonisten zu einer veränderten Erinnerungskultur in Polen hervorhebt. Dies gilt insbesondere für Jan Tomasz Gross, ebenfalls eine Hauptfigur in Kowalskis Untersuchung, der Polen mit seinen Büchern über den Pogrom von Jedwabne eine Diskussion über den Antisemitismus aufgezwungen hat.

Aber über die Oppositionellen zu schreiben, sie seien schon immer Liberale gewesen, die in den 1960er-Jahren nur im Mäntelchen des Marxismus aufgetreten seien, geht zu weit (S. 150f.). Siermiński zeigt in seiner ideologie- und begriffsgeschichtlichen Untersuchung sehr deutlich, wie sich die Akteure erst in den 1970er-Jahren vom Marxismus abwandten. Wenn die polnischen 68er ihre eigene Vergangenheit so umdeuten, sollte man dies nicht einfach übernehmen.

Anmerkungen:
1 Agnes Arndt, Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956-1976), Göttingen 2013; rezensiert von David Kowalski, in: H-Soz-Kult, 07.01.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21458 (25.09.2018).
2 Michał Siermiński, Dekada przełomu. Polska lewica opozycyjna 1968-1980 [Das Jahrzehnt der Wende. Die polnische oppositionelle Linke 1968-1980], Warszawa 2016. Vgl. aus anderer Perspektive, jedoch mit ähnlichen Befunden auch Dariusz Gawin, Wielki zwrot. Ewolucja lewicy i odrodzenie idei społeczeństwa obywatelskiego 1956-1976 [Die große Wende. Die Evolution der Linken und die Wiedergeburt der Idee der Zivilgesellschaft 1956-1976], Kraków 2013.

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