E. Dietrich-Daum: Über die Grenze in die Psychiatrie

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Titel
Über die Grenze in die Psychiatrie. Südtiroler Kinder und Jugendliche auf der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck 1954–1987


Autor(en)
Dietrich-Daum, Elisabeth
Reihe
Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 44
Erschienen
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maike Rotzoll, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg

„Gott und Maria schauen auf die Welt immer und jeder Zeit der Gott sieht alles was auch am geheimsten ist. Er bestraft die schlechten Dinge und belohnt die Guten. Gott hat auch gesehen wie ich mich benommen habe. […] er hat diese Strafe zugelassen hier im Turnsaal. Er hat es bestimmt im Schlechtentatenbuch eingeschrieben. Und wird mir es beim letzten Gericht vorhalten“ (S. 261). Dieses Zitat stammt aus der „Strafarbeit“ eines damals 12-jährigen Jungen aus Südtirol, die er 1956 wegen Schlagersingens im Unterricht während seines Aufenthaltes auf der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation anfertigen musste und die in seiner Krankenakte überliefert ist. Es wirft nicht nur ein Schlaglicht auf die „moralisierend-strafende ‚Auge-Gottes‘-Pädagogik der Nachkriegsjahrzehnte“ (S. 260)1, sondern auch auf die spezifische Situation der geradezu totalen Überwachung der Kinder auf Maria Nowak-Vogls (1922–1998) „Beobachtungsstation“ – der Name der Einrichtung war offenbar Programm, und so drängt sich beim Lesen des obigen Zitats unwillkürlich die Assoziation auf, dass beim Nennen der Muttergottes auch der Vorname der „Primaria“ mitschwingen könnte.

Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation ist in den letzten Jahren von mehreren Expert/innenkommissionen umfassend aufgearbeitet worden – fast drei Jahrzehnte nach der öffentlichen Skandalisierung durch die Ausstrahlung des Dokumentarfilms „Problemkinder“ von Kurt Langbein im ORF 1980, der die Missstände in Tiroler Heimen und eben auch die Praxis Maria Nowak-Vogls in den Blick nahm. Erst gut 20 Jahre später meldeten sich die ersten Betroffenen zu Wort, was 2010 schließlich zur Einrichtung der ersten österreichischen Opferschutzkommission zu dieser Thematik führte (S. 17). Gewalterfahrungen von Heimkindern und/oder ehemaligen Patient/innen Kinder- und Jugendpsychiatrischer Einrichtungen, aber auch Medikamentenversuche an dieser vulnerablen Gruppe sind in den vergangenen Jahren und aktuell ein nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland und der Schweiz ein vieldiskutiertes und medial beachtetes Thema. Einige Studien sind schon erschienen, manche Forschungsprojekte sind noch nicht abgeschlossen oder beginnen erst. So ist für die Schweiz das von Marietta Maier am Historischen Seminar der Universität Zürich geleitete Forschungsprojekt „Medikamentenversuche an der Klinik Münsterlingen“ zu erwähnen2, für Deutschland zunächst die bis 2010 durchgeführten Forschungen des „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“.3 Im Anschluss an den 2016 online erschienenen Aufsatz von Sylvia Wagner zu Arzneimittelstudien an Heimkindern4 sind zahlreiche Studien zur Thematik in Angriff genommen worden. Darunter sind das derzeit laufende, vom BMAS finanzierte Verbundprojekt „Wissenschaftliche Aufarbeitung des Leids und Unrechts, das Kinder und Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1975 (BRD) bzw. 1949 bis 1990 (DDR) in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen erfahren haben“5, aber auch mehrere Einzelstudien.6

Der Forschungsstand zu Tirol ist besonders dicht, hier sind mehrere Forschungsberichte und Publikationen von Horst Schreiber, Michaela Ralser, Elisabeth Dietrich-Daum und anderen zu nennen 7, aber inzwischen auch ein konziser Aufsatz von Sylvelyn Hähner-Rombach, der Dietrich Daums Kernaussagen zur Klientel der Innsbrucker Kinderbeobachtungsabteilung bestätigt.8

Elisabeth Dietrich-Daum bezieht sich in dem vorliegenden Buch insbesondere auf die Ergebnisse des Innsbrucker Forschungsteams, die „Studie betreffend die Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl“ (2017)9, und fokussiert nunmehr auf eine Untergruppe (ca. 5%) der in Innsbruck im Untersuchungszeitraum aufgenommenen Kinder und Jugendlichen, jene aus Südtirol. Die Konzentration auf eine relativ kleine Gruppe aus einem „Grenzland“ bietet eine große Chance: Sie vermittelt ebenso eine grenzüberschreitende historische Kontextualisierung im Europa der Nachkriegszeit wie eine besondere Tiefe bezogen auf die einzelnen Schicksale, auch wenn Elisabeth Dietrich-Daum eingangs wie ausgangs betont, es handle sich „nur“ um die „halbe Geschichte“, da relativ wenige Berichte von Betroffenen vorliegen.

Nach Einleitung und Forschungsstand knüpft sie im zweiten Kapitel „Die Kinderbeobachtungsstation – Räume und Akteur/innen“ an „raumtheoretischen und akteurszentrierten Überlegungen“ an (S. 23). Sie versteht die Räume als Aktionsfelder der handelnden Personen und Institutionen und zeichnet zunächst die Geschichte der Kinderbeobachtungsstationen im deutschsprachigen Raum nach, stellt dann mit Maria Nowak-Vogl, der Primaria, die zentrale handelnde Person dar und die Geschichte der Kinderbeobachtungsstation in nacheinander vier unterschiedlichen Innsbrucker Räumlichkeiten.

Das dritte Kapitel „Rechtliche Grundlagen, Fürsorge und Unterbringungsstrukturen in Südtirol nach 1945“ widmet sich dem nun italienischen Teil einer ursprünglich gemeinsamen „psychiatrischen Versorgungslandschaft“, bestehend aus Tirol und Südtirol, die auch nach 1945 noch über längere Zeit einen „mehr oder weniger informellen Wohlfahrtsraum“ bildeten, aus Südtiroler Sicht zumindest für den deutschsprachigen Teil der Bevölkerung. Der detaillierte und präzise Bericht über die gesetzlichen Fürsorgebestimmungen im italienischen Südtirol und der Überblick über die dortigen psychiatrischen Einrichtungen schließt nicht nur eine Forschungslücke, sondern lenkt den Blick auch auf die teils desolate Versorgungsituation der Randprovinz, nicht nur, aber gerade auch bezogen auf den deutschsprachigen Bevölkerungsteil, der sich auch schon in der mangelnden Bereitschaft zeigte, die Überlebenden der während der NS-Zeit in württembergische Anstalten verlegten Patient/innen nach Südtirol zurückzuholen.10

Das vierte Kapitel „Südtiroler Kinder und Jugendliche auf der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation“ gibt einen basalen soziodemographischen Überblick über die 163 Kinder und Jugendlichen aus Südtirol, die im Untersuchungszeitraum aufgenommen wurden, über Alter, Geschlecht, Sprachzugehörigkeit, regionale und soziale Herkunft, Beschulung und vorhergehende Unterbringung. Im fünften Kapitel „Akteur/innen und Wege der Einweisung“ wird gezeigt, welche zentrale Rolle Maria Nowak-Vogl im Netz der Institutionen besaß: Die Initiativen von (Pflege-) Eltern, Schulen, Heimen, Ärzt/innen, stationären Einrichtungen, Fürsorgekörperschaften und Gerichten liefen gewöhnlich und über Jahrzehnte bei ihr zusammen.

Besonders eindrucksvoll zeigt das sechste Kapitel „Am Ort der Beobachtung – auf der Station“ die Situation der Kinder- und Jugendlichen, die rund um die Uhr einer umfassenden Überwachung einschließlich Abhöranlage in den Zimmern, einem überaus strengen und strafenden Regime, eingreifenden Therapien einschließlich Arzneimittelstudien mit dem Hormon „Epiphysan“ zur Dämpfung sexueller Aktivität, häufigen Demütigungen und meist einer vollkommenen Ungewissheit bezüglich ihrer Zukunft ausgesetzt waren. Häufig wurden sie in die durchaus gefürchteten Heime und Erziehungsanstalten Tirols eingewiesen, doch selbst in weniger schwerwiegend erscheinenden Fällen begleiteten die häufig stigmatisierenden Diagnosen und Prognosen die Betroffenen wie ein „papierener Schatten“ (S. 346) und bestimmten ihre soziale Zukunft mit.

Diese Funktion der Kinderpsychiatrie als „Drehscheibe“ der Verteilung sozial auffälliger Kinder, die auch in Deutschland vor und nach 1945 wirkmächtig war11, wird im siebenten Kapitel unterstrichen. Das letzte inhaltliche Kapitel bietet einen konzisen Überblick über die für die Fremdunterbringung in Tirol zur Verfügung stehenden Einrichtungen und ihre in vielen Fällen von Leid und Unrecht geprägten Regime.

Insgesamt vermittelt das Buch den Leser/innen einen eindrucksvollen Einblick in die Abgründe pädagogischer und medizinischer Gewalt in einem grenzüberschreitenden Fürsorgeraum der Nachkriegsepoche, in dem über Jahrzehnte die Beobachtungsstation und deren Leiterin zentrale Akteure der jugendpsychiatrischen Versorgungslandschaft waren. In der hervorragenden Überblicksdarstellung fehlt nur die Stimme der Betroffenen, da diese ihre eigenen Geschichten bisher nur selten erzählt haben.

Anmerkungen:
1 Hier bezieht sich Dietrich-Daum auf Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol (transblick. Sozialwissenschaftliche Reihe 6), Innsbruck u.a. 2010, S. 307.
2 Vgl. https://www.histmedi.uzh.ch/de.html (6.10.2018).
3 Vgl. https://www.fonds-heimerziehung.de/fileadmin/de.fonds-heimerziehung/content.de/dokumente/RTH_Abschlussbericht.pdf (6.10.2018), hier auch der Hinweis auf Medikamentenversuche im Franz-Sales-Haus Essen bei Uwe Kaminsky, Die Verbreiterung der ‚pädagogischen Angriffsfläche‘ – eine medizinisch-psychologische Untersuchung in der rheinischen öffentlichen Erziehung 1966, in: Andreas Henkelmann u.a. (Hrsg.), Verspätete Modernisierung. Öffentliche Erziehung im Rheinland – Geschichte der Heimerziehung in Verantwortung des Landesjugendamtes (1945–1972), Essen 2010, S. 485–494.
4 Sylvia Wagner, Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte, in: Sozial.Geschichte Online 19 (2016), https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf (6.10.2018).
5 Vgl. https://www.dlr.de/pt/Portaldata/45/Resources/a_dokumente/gesundheitsforschung/AnlageA_Leistungsbeschreibung_WissAufarbeitung.pdf (6.10.2018).
6 Vgl. neuerdings Franz-Werner Kersting / Hans-Walter Schmuhl, Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945–1980). Anstaltsalltag, individuelle Erinnerung, biographische Verarbeitung, Münster 2018; Karsten Wilke / Hans-Walter Schmuhl / Sylvia Wagner / Ulrike Winkler, Hinter dem Grünen Tor. Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, 1945–1975 (Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Bethel), Gütersloh 2018; Heiner Fangerau u.a. (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Zur Geschichte ihrer Konsolidierung, Berlin 2017.
7 Vgl. grundlegend Schreiber, Ordnung; Elisabeth Dietrich-Daum u.a. (Hrsg.), Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830, Innsbruck 2011; Michaela Ralser, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie. Kulturen der Krankheit um 1900, München 2010; Michaela Ralser u.a., Heimkindheiten. Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 2017.
8 Sylvelyn Hähner-Rombach, Patientinnen und Patienten der Kinderbeobachtungsstation Innsbruck. Einweisung und Aufenthalt zwischen 1949 und 1989 im Spiegel der Krankenakten, in: Medizinhistorisches Journal 52 (2017), S. 308–351. Dieser Aufsatz lag der Autorin des hier zu rezensierenden Buchs bei Abschluss des Manuskripts offenbar noch nicht vor, sie zitiert jedoch den Abschlussbericht Sylvelyn Hähner-Rombachs zu deren medizinhistorischen Projekt zur Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation.
9 Vgl. https://www.uibk.ac.at/iezw/forschungen-zur-kinderbeobachtungsstation/dokumente/studie-kinderbeobachtungsstation-nowak-vogl-2017.pdf (6.10.2018).
10 Vgl. Stefan Lechner, Die Absiedlung der Schwachen in das „Dritte Reich“. Alte, kranke, pflegebedürftige und behinderte Südtiroler 1939–1945 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 40), Innsbruck 2016.
11 Vgl. Volker Roelcke, Erbbiologie und Kriegserfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der frühen Nachkriegszeit. Kontinuitäten und Kontexte bei Hermann Stutte, in: Fangerau u.a. (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 447–464; Maike Rotzoll, „Ein dringendes Erfordernis unserer Zeit“. Zur Entwicklung der pfälzischen Kinder- und Jugendpsychiatrie 1945–1986, in: Fangerau u.a. (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie, S. 511–532.

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