J. Böhler u.a. (Hrsg.): The Waffen-SS

Cover
Titel
The Waffen-SS. A European History


Herausgeber
Böhler, Jochen; Gerwarth, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 372
Preis
£ 65.00; € 68,66
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Lieb, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

„Die Waffen-SS kennt jeder“1, urteilte Jürgen Förster lapidar vor knapp zwanzig Jahren. Gleichzeitig verwies er auf die Diskrepanz zwischen dem hohen Bekanntheitsgrad der Waffen-SS in der Öffentlichkeit einerseits und dem spärlichen Forschungsstand andererseits. In der Tat stand lange Zeit Bernd Wegners wegweisende Studie aus dem Jahr 1982 nahezu allein auf weiter Flur.2 Heute hat sich das Bild jedoch gewandelt. Dank einer Vielzahl von Arbeiten ist die Wissenschaft bei der Erforschung der Waffen-SS in den letzten Jahren einen guten Schritt vorangekommen.3 2014 trug ein Sammelband diese Ergebnisse zusammen und deckte damit weite Felder zur Waffen-SS ab wie die Stellung im NS-Staat, das Selbstbildnis, die Verbrechen, die Rekrutierungspolitik oder die militärische Effizienz.4

Nun liegt ein neuer Sammelband zur Waffen-SS vor, diesmal auf englischer Sprache und veröffentlicht bei der renommierten Oxford University Press. Die Untersuchung liegt dabei nicht auf der „klassischen“ reichsdeutschen Waffen-SS, sondern auf den Verbänden und Einheiten, die sich aus volksdeutschen und nichtdeutschen Freiwilligen zusammensetzten. In der Tat darf die Waffen-SS nicht als rein reichsdeutsche Organisation wahrgenommen werden. Bekanntlich rekrutierten sich bei Kriegsende 25 ihrer insgesamt 38 Divisionen sowie einige weitere kleine Verbände zumindest teilweise aus volksdeutschen bzw. nichtdeutschen Mannschaften. Die beiden Herausgeber Jochen Böhler und Robert Gerwarth betonen daher in ihrer konzisen und überzeugenden Einleitung, dass der Band einen transnationalen und kulturgeschichtlichen Ansatz verfolgt. Der griffige Untertitel „A European History“ verdeutlicht dies treffend.

Der erste Beitrag des Bandes entstammt der Feder von Peter Black und Martin Gutmann und behandelt die nationalsozialistische Rekrutierungspolitik gegenüber Nichtdeutschen in Osteuropa. Vor allem Heinrich Himmler widersetzte sich lange Zeit den Plänen einer Öffnung seiner SS für osteuropäische Freiwillige. Er befürchtete, zu viele politische Zugeständnisse an die einzelnen nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen machen zu müssen und glaubte stattdessen, die materielle prekäre Lage würde reichen, um genügend Kollaborateure rekrutieren zu können.

Die weiteren Aufsätze in diesem Sammelband beschäftigen sich mit den einzelnen Ländern und Gebieten, aus denen die Waffen-SS ihre Freiwilligen rekrutierte. Hinzu kommen je ein Beitrag zu Volksdeutschen und Moslems. Dabei steht immer wieder die Frage nach der Motivation für den Eintritt der einzelnen Soldaten in die Waffen-SS im Vordergrund, ebenso die Beteiligung an Kriegsverbrechen und Völkermord. Erwartungsgemäß fallen hier die Antworten unterschiedlich aus. Kennzeichnend waren dennoch bei vielen ausländischen SS-Soldaten ein virulenter Antibolschewismus, häufig gepaart mit Antisemitismus, sowie eine generelle Empfänglichkeit für rechtsextreme Ideologien. Abgerundet wird der Band mit zwei Aufsätzen zur Strafverfolgung und der Veteranenkultur nach 1945.

Als besonders gelungener Beitrag sticht der Aufsatz über die nordeuropäischen Freiwilligen von Claus Bundgård Christensen, Niels Bo Poulsen und Peter Scharff Smith heraus. Die Autoren zeigen, wie sehr Himmler Norwegen, Dänemark und die Niederlande als Teil eines deutschen „Großgermanischen Reichs“ begriff und sich daher für die Freiwilligen aus diesen „germanischen“ Ländern vergleichsweise gute Karrierechancen in der Waffen-SS eröffneten. So waren im III. SS-Panzerkorps 19 Prozent der dänischen Freiwilligen Offiziere oder Unteroffiziere. Zum Vergleich: In einer durchschnittlichen Infanteriedivision der Wehrmacht erreichten 22 Prozent der Soldaten einen Dienstgrad im Offizier- oder Unteroffizierkorps. Kenntnisreich ist auch die Analyse der italienischen Waffen-SS von Carlo Gentile. Nüchtern und sachlich weist der Autor nach, dass sich die italienischen SS-Soldaten im Gegensatz zu ihren deutschen SS-Kameraden deutlich weniger Kriegsverbrechen zu Schulde kommen ließen. Gleichwohl zeigt sich in einer Reihe anderer Beiträge (beispielsweise über die „germanischen“ und die moslemischen Freiwilligen) wie häufig nichtdeutsche Angehörige der Waffen-SS an Ausschreitungen und Verbrechen in verschiedener Form beteiligt waren.

Insgesamt erreichen die einzelnen Beiträge von wenigen Ausnahmen abgesehen eine hohe bis sehr hohe Qualität. Allerdings hat der Rezensent auch einzelne Kritikpunkte anzuführen. So fehlt weitgehend eine Analyse der militärischen Leistungen der nichtdeutschen Waffen-SS auf dem Schlachtfeld, so dass dieses Thema nach wie vor ein dringendes Desiderat der Forschung bleibt.5 Mag diese Kritik vielleicht auch dem persönlichen Faible des Rezensenten für die Operationsgeschichte geschuldet sein, so wiegt ein konzeptionelles Manko etwas schwerer. Einige der im Sammelband behandelten Formationen gehörten gar nicht zur Waffen-SS, wie die polnische „Blaue Polizei“, oder unterstanden der Wehrmacht, wie die Légion des volontaires français contre le bolchévisme (LVF). Die Herausgeber sprechen diese Problematik in der Einleitung nur kurz an und belassen es bei einem dünnen Verweis auf Ähnlichkeiten mit den Verbänden der Waffen-SS. Hätte der Sammelband einen Titel wie „Military and Paramilitary Collaboration in German Occupied Europe“ getragen, hätte dies die Thematik besser getroffen. Da aber nun einmal die Waffen-SS auf dem Buchcover steht, hätte man hier durchaus eine schärfere Trennlinie ziehen müssen.

Dies soll aber den Wert dieses Werks nicht weiter schmälern. Denn das Buch erfüllt alles, was einen guten Sammelband ausmacht: Es bietet dem Leser eine erste Orientierung in der Thematik, bildet den derzeitigen Forschungsstand sachkundig ab und regt zu weiteren Studien an.

Anmerkungen:
1 Jürgen Förster, Die weltanschauliche Erziehung in der Waffen-SS, in: Jürgen Matthäus u.a. (Hrsg.), Ausbildungsziel Judenmord? „Weltanschauliche Erziehung“ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der Endlösung, Frankfurt 2000, S. 87–113, hier: S. 87.
2 Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945, 7. Auflage, Paderborn 2006 (Erstauflage 1982).
3 Für die wichtigsten Studien der letzten Jahre vgl. Jean-Luc Leleu, La Waffen-SS. Soldats politiques en guerre, Paris 2007; Martin Cüppers, Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939-1945, 2. Auflage, Darmstadt 2011; Carlo Gentile, Wehrmacht, Waffen-SS und Polizei im Kampf gegen Partisanen und Zivilbevölkerung in Italien 1943-1945, Paderborn 2012; Jens Westemeier, Himmlers Krieger: Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn 2013; Franziska Zaugg, Albanische Muslime in der Waffen-SS. Von „Großalbanien“ zur Division „Skanderbeg“, Paderborn 2016; Roman Töppel, Kursk 1943. Die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs, 2. Auflage, Paderborn u.a. 2017.
4 Vgl. Jan Erik Schulte / Peter Lieb / Bernd Wegner (Hrsg.), Die Waffen-SS. Neue Forschungen, Paderborn 2014.
5 Am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr verfasst derzeit Chris Helmecke eine Doktorarbeit zur militärischen Effizienz der „klassischen“ reichsdeutschen Divisionen der Waffen-SS.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension