B. Bevernage u.a. (Hrsg.): Handbook of State-Sponsored History

Cover
Titel
The Palgrave Handbook of State-Sponsored History After 1945.


Herausgeber
Bevernage, Berber; Wouters, Nico
Erschienen
Anzahl Seiten
XXV, 877 S., 17 SW- und 8 Farb-Abb.
Preis
£ 183.50; $ 279.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Constantin Goschler, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Der moderne Nationalstaat hat nicht nur eine Geschichte, sondern sein Aufstieg ist in vielerlei Weise mit der Entwicklung der professionellen Geschichtswissenschaft verbunden. Nach 1945 hat sich dies nochmal verstärkt. Die Felder, auf denen die historische Forschung staatlich initiiert oder unterstützt wird, haben sich verändert und erweitert. Berber Bevernage und Nico Wouters breiten in einem Handbuch das Spektrum dieser Verknüpfungen eindrucksvoll aus und betten diese in ein analytisches Gesamtkonzept ein. Dabei legen die Herausgeber ein weites Verständnis von „State-Sponsored History“ zugrunde: Gemeint sind hier „diverse and complex series of processes and outcomes of direct and indirect state influence on the construction of history and public memory“ (S. 1). Der Staat verhindere und ermögliche Geschichtsschreibung gleichermaßen: Er könne zensieren, aber auch fördern und schützen, und so gehe die Haltung der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Staat auch nicht im Gegensatz von Freiheit oder Unterwerfung auf.

Die Herausgeber erwähnen zwar jene vor allem auf Foucault gestützte Kritik an der Konzeption des Staats, die insbesondere auf eine Verflüssigung seiner institutionellen Grenzen zielt. Am Ende schieben sie diese Diskussion jedoch beiseite, indem sie sich erstens auf die Praktiken konzentrieren, mit denen Staaten Macht und Ressourcen mobilisieren, um bestimmte Geschichten oder Erinnerungsregimes zu schaffen. Und zweitens blicken sie deshalb vor allem auf den „memorialised state“, d.h. auf die vielfältigen Ergebnisse solcher staatlichen Interventionen. Dabei unterscheiden die Herausgeber vier staatliche Handlungsdimensionen: Gesetzgebung, finanzielle Investitionen und Aufbau von Institutionen, die Vergabe symbolischen Kapitals sowie schließlich Rechtsprechung und Schiedsgerichtsbarkeit in gesellschaftlichen Konflikten (S. 5f.).

Bevernage und Wouters unterstreichen das Jahr 1945 – bei allen Kontinuitäten zum 19. und früheren 20. Jahrhundert – als eine entscheidende Zäsur. Erstens sei die staatliche Souveränität unter Druck geraten: Einerseits durch supranationale Akteure, die neue Normen mit Auswirkungen auf Geschichtsbilder entwickelten, etwa im Bereich des „Erbes der Menschheit“ oder der internationalen Strafjustiz. Andererseits hätten auch subnationale Akteure staatliche Souveränität herausgefordert, besonders indem sie das Recht auf Anerkennung durchsetzten. Zweitens sei (zumindest in den westlichen Ländern) die staatliche Geschichtspolitik durch die Folgen der Entkolonialisierung wie auch durch die Legitimationsprobleme des Wohlfahrtsstaats verändert worden. Die staatlich geförderte Geschichte habe sich immer mehr den „Opfern“ zugewandt und sei mitunter zur Therapie geworden, wie die Herausgeber in Anlehnung an Frank Furedi1 formulieren. Als dritten Faktor machen Bevernage und Wouters schließlich ein gewandeltes Verständnis von historischem Wissen und historischer Wissensproduktion aus: Die Entstehung einer Wissensökonomie habe einerseits das Verhältnis von Staat und Markt im Bereich historischen Wissens grundlegend transformiert, indem der ökonomische Nutzen solchen Wissens immer größer geworden sei. Andererseits habe dies die etablierte Grenzziehung zwischen akademischer und nicht-akademischer Geschichtsschreibung erodieren lassen.

Kurzum sehen die Herausgeber nach 1945 Entwicklungen, die über das traditionelle Engagement von Staaten auf dem Feld der Geschichtspolitik weit hinausgehen, wozu schon seit langem Archivpolitik, Schulbücher, Denkmäler, Gedenktage und anderes mehr gehörten. Der Trend zur Memorialisierung von Politik umfasse neue Aufgaben wie Erinnerungsgesetze, öffentliche Entschuldigungen, Wahrheits- und Expertenkommissionen oder auch die Verrechtlichung von Geschichte. Der gegenwärtige, in vielen Ländern stattfindende Trend zur Re-Nationalisierung staatlicher Geschichtspolitik erscheint den Herausgebern als eine Gegenbewegung zur Herausforderung der nationalhistorischen Legitimität durch die Globalisierung – und man könnte ergänzen, auch gegen die Herausforderung von „unten“ durch identitätspolitisch geformte historische Ansprüche einzelner Gruppen.

Bevernage und Wouters gelingt es so, vielfältige Entwicklungen der internationalen Geschichtswissenschaft nach 1945 überzeugend auf den Begriff zu bringen. Über die Trennschärfe des Konzepts der „State-Sponsored History“ kann man allerdings diskutieren: Auf der einen Seite ließe sich fragen, was eigentlich nicht zu dieser gehört. Sicherlich kann man Laienhistorikerinnen und -historiker herausnehmen, wenngleich auch manche von ihnen barfuß an die staatlichen Fleischtöpfe drängen. Ausnehmen könnte man gewiss auch Firmenhistorikerinnen und -historiker sowie Historikerinnen und Historiker, die für private Medien arbeiten – beide Gruppen haben es ja eher mit dem Markt als mit dem Staat zu tun. Doch stehen letzteren mindestens ebenso viele gegenüber, die für öffentlich-rechtliche bzw. staatlich finanzierte Medien tätig sind. Umgekehrt ist bei der in diesem Band gewählten breiten Definition fraglich, warum eigentlich die universitäre Geschichtswissenschaft ausgeschlossen wurde, während außeruniversitäre historische Forschungsinstitutionen sehr wohl beachtet werden. Doch ist dies allenfalls aus systematischer Sicht ein Makel, denn praktisch wäre der Band sonst unüberschaubar geworden.

Die Herausgeber haben nicht die Akteure der Produktion historischen Wissens als strukturierendes Prinzip ihres Bandes gewählt. Vielmehr zielen sie auf solche Praxisfelder der Entstehung historischen Wissens, bei denen in unterschiedlicher Weise ein staatlicher Einfluss erkennbar ist. Dabei interessieren sich einerseits für die institutionellen Arrangements, andererseits für die Ergebnisse. Sie betrachten vor allem jene Bereiche, die nach 1945 neu hinzugekommen sind. Insgesamt sind so auf 877 Seiten 45 Artikel in zehn thematischen Abteilungen versammelt. Letztere werden jeweils von einem sachkundigen Überblicksartikel eingeleitet und durch Fallstudien vertieft. Dabei werden thematisch keinesfalls nur die „üblichen Verdächtigen“ präsentiert, sondern die Perspektive ist wirklich global. Zu jedem Kontinent finden sich mehrere Fallbeispiele – man kann dies nicht genug loben, auch wenn selbstverständlich in den einzelnen Themenbereichen stets exemplarisch verfahren wird. Zwar sind bei den Fallbeispielen Demokratien gegenüber diktatorischen Systemen überrepräsentiert, doch liegt das vor allem an der Sache: Fraglos besitzen auch Diktaturen ein Interesse an historischer Legitimation und Herrscherlob. Viele der nach 1945 neu aufgetretenen Phänomene der staatlich geförderten Geschichte treten aber nur in Demokratien bzw. im Kontext post-diktatorialer Übergänge auf.

Der Inhalt der Beiträge kann allenfalls summarisch vorgestellt werden: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der gesetzlichen Regulierung von Erinnerung und Geschichtsbildern. Anschließend konzentrieren sich mehrere Kapitel auf staatliche Institutionen der Bewahrung, Erforschung und Vermittlung von Geschichte: Archive, Forschungsinstitute und Schulen. Die beiden folgenden Kapitel widmen sich geschichtskulturellen Institutionen, nämlich Museen, Denkmälern und Gedenkstätten. Während zunächst also vor allem die Veränderungen traditioneller Bereiche der staatlich geförderten Geschichte nach 1945 diskutiert werden, konzentrieren sich die folgenden Kapitel auf neu entstandene Felder, in denen die Anerkennung von „Opfern“ und die Übernahme historischer Verantwortung eine zentrale Rolle spielen. Es geht auch um die Juridifizierung der Geschichte, um Wahrheits- und historische Expertenkommissionen sowie schließlich um staatliche Entschuldigungen für historische Untaten.

Die Beiträge des Bandes sind von durchgehend hoher Qualität. Auch dank weiterführender Literaturverzeichnisse und eines Registers handelt es sich hier um ein hervorragendes Instrument nicht allein für einen ersten Überblick, sondern ebenso als Ausgangspunkt für weitere Forschungen. Dabei sollte es insbesondere auch darum gehen, die gegenläufigen Tendenzen zu den in diesem Band eindrucksvoll dokumentierten Entwicklungen zu untersuchen: Wie umfassend ist der Trend zu einer staatlich geförderten Geschichtspolitik der Anerkennung partikularer Identitäten und der Entschuldigung historischer Missetaten überhaupt? Wo hat dieser überhaupt nie stattgefunden, wo wird er in Frage gestellt oder gar umgekehrt? Der Band suggeriert keineswegs eine liberale, kosmopolitische Erfolgsgeschichte, sondern sensibilisiert für die Herausforderung durch eine staatlich geförderte agonale Geschichtskultur.2 In den Fallbeispielen werden immer wieder Spannungen und Gegenläufigkeiten thematisiert – diese Impulse gilt es aufzugreifen und fortzuführen. Das „Handbook of State-Sponsored History“ schließt das Thema somit nicht ab, sondern auf. Nicht nur diejenigen, die sich für die Rolle staatlicher Geschichtspolitik nach 1945 interessieren, sondern alle, die sich mit den institutionellen Entwicklungen von Geschichtswissenschaft im globalen Rahmen überhaupt beschäftigen, werden diesen vorzüglichen Band mit größtem Gewinn in die Hand nehmen.

Anmerkungen:
1 Frank Furedi, Therapy Culture. Cultivating Vulnerability in an Uncertain Age, London 2004.
2 Chantal Mouffe, Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt am Main 2007.