M. Frese u.a. (Hrsg.): Verhandelte Erinnerungen

Cover
Titel
Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945


Herausgeber
Frese, Matthias; Weidner, Marcus
Reihe
Forschungen zur Regionalgeschichte 82
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
385 S., 93 SW-Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Gundermann, Historisches Institut, Universität zu Köln

Matthias Frese und Marcus Weidner stellen mit „Verhandelte Erinnerungen“ einen Sammelband vor, der auf Beiträgen der Tagung „Erinnerung, Ehrung, Politik. Zum Umgang mit Ehrungen und Erinnerungen nach 1945“ beruht, zu der die Herausgeber im Frühjahr 2016 geladen hatten.1 Im Fokus des Buches steht die Frage, wie auf lokaler und kommunaler Ebene mit Erinnerungen vor allem an die NS-Zeit umgegangen wurde. Um das Thema möglichst breit zu fassen, haben die Herausgeber ihr Werk in drei Teile gegliedert: „Denkmäler und Gedenkorte“, „Personen in der öffentlichen Ehrung“ sowie „Revision von Straßennamen“. Ein Solitär von Wolfram P. Kastner über seine „künstlerische[n] Interventionen“ schließt den Band ab. Jeder Abschnitt wird von einem Text eingeleitet, der das jeweilige Feld in der geschichtswissenschaftlichen Forschung und in konkreten Beispielen erfasst und so eine Folie für die darauf folgenden Forschungen – überwiegend Mikrostudien – entwirft. Der größte Teil der Beiträge konzentriert sich dabei auf den Raum Westfalen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, da es hier, so die am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte tätigen Herausgeber, nach wie vor ein Forschungsdefizit gebe (S. 15). Gleichzeitig verweisen fast alle Beiträge auf aktuelle gesellschaftliche Aushandlungsprozesse.

Den Abschnitt zu Denkmälern und Gedenkorten eröffnet Kirsten John-Stucke, die als Leiterin des Kreismuseums Wewelsburg diesen Ort als paradigmatisches Beispiel für die „erinnerungspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 37) in das Zentrum ihres Beitrages stellt. Christoph Laue, Stadtarchivar und Leiter der Gedenkstätte Zellentrakt im Herforder Rathaus, stellt anschließend die Geschichte dieses Rathauses vom Bau (1914–1917) bis zur Einrichtung der Gedenkstätte (2005) in den Fokus seines Aufsatzes und berichtet praxisnah aus den vergangenen Jahren der dortigen Arbeit. Jens Hahnwald präsentiert seine Forschungen zu einem Massaker an Zwangsarbeiter/innen im Arnsberger Wald im März 1945; er zeichnet Gerichtsverfahren sowie erste Verdrängungs- und Erinnerungsversuche (in Meschede) bis in die 1980er-Jahre nach. Jörg Militzer widmet seinen Beitrag der Denkmallandschaft Porta Westfalica, hier besonders der Erinnerung an Zwangsarbeit und an die Außenlager des KZ Neuengamme in direkter Nähe zum Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Militzer verweist deutlich auf die Pluralität der Erinnerungslandschaft, in der das Gedenken an Zwangsarbeiter/innen und nun auch jüngst „Jüdisches Leben an der Porta Westfalica“ (S. 112) vor allem ein gesellschaftlicher Kompromiss zu sein scheint. Stephan Scholz widmet sich im letzten Beitrag dieses Abschnitts Vertriebenendenkmälern und ihren versuchten Re-Interpretationen. Beispiele wie das Siegener Vertriebenendenkmal von 1968 widerlegen die These, die Vertreibung sei aus dem bundesrepublikanischen Erinnerungshaushalt in den 1960er-Jahren verschwunden. Mit Blick auf Westfalen zeigt Scholz zugleich bundesdeutsche Trends auf. Die Darstellung der Deutschen als Opfer des Krieges ist dabei auch im frühen 21. Jahrhundert als häufiges Narrativ bei Neuerrichtungen oder verweigerten Denkmalserweiterungen und -umdeutungen zu beobachten.

Den zweiten Teil des Buches zu öffentlich geehrten Personen leitet Petra Spona am Beispiel Hannovers ein. Individuelle Ehrungen in Form von Straßen-, Platz- oder Gebäudenamen, Gedenktafeln und Denkmälern, Ehrenbürgerschaften, aber auch verweigerte Anerkennung von Verfolgung stehen nun im Fokus der Beiträge von Marcel Oeben (über Wilhelm Gräfer, 1924 bis 1945 Bürgermeister von Lemgo), Christoph Spieker (über Paul Wulf als Sterilisationsopfer und Symbolfigur der Neuen Sozialen Bewegungen) und Franz-Werner Kersting (über den Psychiater Hermann Simon als lange positiv gewürdigte, heute aber sehr kritisch gesehene Symbolfigur der deutschen Psychiatriegeschichte). In diesen Beiträgen zeigt sich deutlich die Stärke des Bandes durch die Erweiterung des eher klassischen Blicks auf die zunächst vergessenen Opfer hin zu den „Ehrregimen“ (S. 11) des 20. Jahrhunderts.2 Die Autoren belegen eindrücklich, mit welchen politischen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Strategien bestimmte Städte und Gemeinden zu historisch notwendig gewordenen Neubewertungen dieser geehrten Personen gelangten. Sie dekonstruieren Mythologisierungsprozesse über die betreffenden Personen und binden diese an lokale Identitätsbildungen und Strategien der „Vergangenheitsbewältigung“ zurück. Zwei Beiträge zu „Stolpersteinen“ und deren Verlegungspraxis schließen das Kapitel ab. Während Terry Swartzberg als „ethical campaigner“ und Leiter der Initiative Stolpersteine für München das künstlerische Werk Gunter Demnigs vorstellt und für diese Form der Erinnerung eintritt, argumentiert Ulrike Schrader als Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal eloquent gegen die Praxis und gegen diverse Beweggründe für die Patenschaft eines entsprechenden Steines. Sie legt pointiert die Probleme der nun auf breiter Basis etablierten Gedenkpraxis der „Stolpersteine“ offen. Ihre von persönlichen Begegnungen geprägte Position hätte dabei auch ohne Suggestivfragen deutliche Argumentationskraft entfaltet.

Der dritte Teil des Bandes ist der Revision von Straßennamen gewidmet. Saskia Handro führt in das Thema umfangreich ein, und die folgenden äußerst aufschlussreichen Beiträge von Alfons Kenkmann zu Münsteraner Debatten, Dietmar von Reeken zu Oldenburger Konflikten und Florian Wenninger zu österreichischen Praxen der Umbenennung von Straßen und Plätzen eröffnen eine zentrale Ebene von Geschichtspolitik, sind doch „Stadtpläne [nicht etwa Geschichtsbücher, sondern] vielmehr Hegemonieverzeichnisse“ (Wenninger, S. 319). Alle drei Beiträge beruhen auf unterschiedlichen Formen von Auftrags- als Kommissionsarbeiten, in denen Fachhistoriker/innen eine Bewertung der ehemals geehrten Persönlichkeiten im Hinblick auf ihr Verhalten im NS-System vornehmen sollten. Dietmar von Reeken gelingt dabei die differenzierte Positionierung der eigenen Person als Autor und gleichzeitigem Analysesubjekt seiner Darstellung eindrucksvoll. Ebenso sticht der Beitrag von Florian Wenninger hervor – zunächst, weil er durch die dem Text zugrunde liegende Studie nicht nur eine Kommune, sondern ein ganzes Land betrachtet und damit in großem Bogen und gekonntem Blick fürs Detail Entwicklungslinien nachzuzeichnen vermag, die in den Mikrostudien so nicht sichtbar werden können; zum anderen aber auch, weil er mit Österreich einen potentiellen historischen Vergleich im Sammelband anbietet, der jedoch wegen der deutlichen Ausrichtung des Gesamtwerkes auf Westfalen etwas verpufft.

Die Beiträge zeichnen in verschiedensten Versionen die Verdrängungs- und Verschweigens-Strategien eines Großteils der bundesdeutschen Bevölkerung nach. Sie zeigen jedoch ebenso den enormen Einfluss engagierter Bürgerinnen und Bürger – seien es Schülerinnen und Schüler oder Geschichtswerkstätten und Lehrende in Volkshochschulen (siehe etwa Militzer, S. 108ff.), die sich für eine aktive Erinnerung an Opfer nationalsozialistischer Verbrechen im eigenen Ort stark machten – und zwar überwiegend und mit erkennbaren Erfolgen erst seit den 1980er-Jahren. Solche Initiativen sind auch heute in großen Teilen auf ehrenamtliches Engagement angewiesen; sie agieren weitgehend unabhängig von oder teilweise parallel zu den großen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen – zumindest im Raum Westfalen. Einschneidende politische Ereignisse führten – auch das zeigen die Studien insgesamt – vor allem zu kurzfristigen Top-down-Prozessen bei der Gestaltung nationaler und lokaler Erinnerungskulturen.

Die im Band versammelten Studien schließen damit Forschungslücken zur kommunalen Gedenkpraxis und verweisen gleichzeitig auf ein Forschungsfeld mit vielen offenen Fragen: Es ist äußerst lohnend, (kommunal-)politische und zivilgesellschaftliche Erinnerungsformen an die nationalsozialistischen Verbrechen und den Zweiten Weltkrieg in lokal begrenzten Studien zusammenzubringen – nur so lassen sich Dynamiken des Erinnerns erkennen, die hier mit dem Spannungsfeld von Helden- und Opfergedenken gezeigt, aber bei weitem nicht erschöpfend aufeinander bezogen wurden. Nur so lassen sich auch Darstellungen zu nationalen Erinnerungskulturen auf (un-)zulässige Verallgemeinerungen hinterfragen. Das können die einzelnen Beiträge lediglich begrenzt leisten, das Gesamtwerk jedoch fordert diese Fragen geradezu heraus. Das Buch liefert damit über die einzelnen Beiträge hinaus einen methodisch durchdachten und in exemplarischen Mikrostudien aufgezeigten Weg zu neuen Erkenntnissen der Memory Studies, die es aber noch um die Frage von translokalen (und zuweilen auch transnationalen) Wechselwirkungen zu erweitern gilt.

Anmerkungen:
1 Siehe den Bericht von Sebastian Werner Frolik, Christian Pöpken und Anna-Lena Többen, in: H-Soz-Kult, 05.08.2016, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6644 (12.09.2018).
2 Die Herausgeber beziehen sich hier auf Dietmar von Reeken / Malte Thießen, Ehrregime. Perspektiven, Potenziale und Befunde eines Forschungskonzeptes, in: dies. (Hrsg.), Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne, Götttingen 2016, S. 11–29. Siehe dazu auch die Rezension von Daniel Siemens, in: H-Soz-Kult, 21.04.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26438 (12.09.2018).