Cover
Titel
Anna Pappritz (1861-1939). Die Rittergutstochter und die Prostitution


Autor(en)
Wolff, Kerstin
Erschienen
Sulzbach/Taunus 2017: Ulrike Helmer Verlag
Anzahl Seiten
401 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne-Laure Briatte, UFR d'Études Germaniques et Nordiques, Centre universitaire de Malesherbes, Sorbonne Université

Die Bundesrepublik Deutschland zog mit dem Prostitutionsgesetz (Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten – ProstG) von 2002, das die rechtliche Stellung von Prostitution als Dienstleistung regelt, die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Ziel war es, die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten zu verbessern. Doch bis heute steht das Prostitutionsgesetz in der Kritik von Befürworterinnen und Befürwortern eines Prostitutionsverbotes in der Bundesrepublik. 2015 beschloss Amnesty International, weltweit für die Legalisierung von Prostitution einzutreten. Damit sollten alle Aspekte der einvernehmlichen Sexarbeit entkriminalisiert und die Prostituierten letztendlich vor Diskriminierung, Gewalt und Risiko effizienter als bisher geschützt werden. In Frankreich wurden mit dem „loi de lutte contre le système prostitutionnel“ (Gesetz zum Kampf gegen das Prostitutionssystem) vom April 2016 die Straftat des Anwerbens von Kunden abgeschafft und die Kunden strafbar gemacht. Damit sollten die Prostituierten nicht länger als Straftäterinnen, sondern stattdessen als Opfer eines prostituierenden Systems dargestellt werden. Nach zwei Jahren wird darüber allerdings eine sehr gemischte Bilanz gezogen.

Diese Gesetze und Stellungnahmen zeigen allesamt die immerwährende Aktualität des Themas Prostitution und der Frage, wie mit Prostitution umzugehen ist. Die Monographie der Historikerin Kerstin Wolff über die Frauenrechtlerin und Abolitionistin Anna Pappritz erinnert daran, wie eingehend und – meist – professionell sich vor mehr als einem Jahrhundert die Befürworterinnen und Befürworter der sogenannten abolitionistischen Bewegung mit dieser Frage auseinandergesetzt haben. Diese internationale Bewegung nannte sich „abolitionistisch“, weil sie sich für die Abschaffung (engl. to abolish: abschaffen) der staatlich reglementierten Prostitution einsetzte.

Kerstin Wolff legt eine in der Frauen- und Geschlechtergeschichte lange vermisste Biographie von Anna Pappritz (1861–1939) vor, einer Hauptakteurin der bürgerlichen Frauenbewegung um die Jahrhundertwende zum frühen 20. Jahrhundert. So schließt sie eine Lücke in der inzwischen recht dichten Historiographie der Frauenbewegungen und spezieller der internationalen abolitionistischen Bewegung. Anna Pappritz ist als eine führende Persönlichkeit der deutschen abolitionistischen Bewegung bisher weitgehend im Schatten der Geschichtsschreibung geblieben. Sie war eine jener Frauen, die, nachdem sie „ihr“ Arbeitsfeld gefunden haben, sich darin spezialisierten und bald zu anerkannten Expertinnen wurden. Ihre langjährige Arbeitskollegin Katharina Scheven (1861–1922) ist dafür ein weiteres Beispiel. Anna Pappritz entwickelte sich zur Fachfrau in den Themenbereichen Prostitution, Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten, Sexualerziehung und gesundheitliche Fürsorge.

Auf einem Rittergut in der Mark Brandenburg geboren und groß geworden, erhielt Anna Pappritz von Hauslehrern eine dürftige Erziehung. Sie besuchte nicht einmal die Höhere Mädchenschule, die für die Töchter der bürgerlichen Familien beinahe ein Muss war. Sie musste also einiges an Mut und Willenskraft aufbringen, um sich als unverheiratete Frau ein selbstbestimmtes Leben in der Hauptstadt Berlin zu schaffen und sich darüber hinaus ausgerechnet mit dem Thema Prostitution zu beschäftigen. Ihr fundiertes Wissen in dieser Materie eignete sie sich als Autodidaktin an und ihre Autorität durch ihre unermüdliche Arbeit, die sie trotz schlechter gesundheitlicher Verfassung fast nie unterbrach. In der Weimarer Republik erreichte die offizielle Anerkennung von Anna Pappritz‘ Expertentum ihren Höhepunkt, als diese im März 1919 von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) zur Vorsitzenden des Unterausschusses für Sittlichkeitsfragen des Arbeitsausschusses der Frauen der DDP gewählt wurde. Von dieser Position aus konnte sie in den Folgejahren an der gesetzlichen Neuregelung der Prostitution kräftig mitarbeiten. Ihr lebenslanges Bemühen mündete schließlich im Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927, das das Ende der Reglementierung in Deutschland bedeutete.

Auch privat stand die Nachkriegszeit für Pappritz unter anderen Vorzeichen. Das vom Vater geerbte Vermögen, das ihr bisher ein sorgenfreies Leben gesichert hatte, verzehrte sich zunehmend, zumal mit der Geldentwertung der 1920er-Jahre. Also musste sie mit 61 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben einer bezahlten Arbeit als Aufseherin in einer Druckerei nachgehen und ihr Lebensniveau stark reduzieren, um sich ihr frauenbewegtes und politisches Engagement zu leisten. Nach dem Tod Katharina Schevens 1922 übernahm sie den Vorsitz des deutschen Zweiges der internationalen abolitionistischen Bewegung. 1934 legte sie mit knapp 73 Jahren endgültig ihre Arbeit als Vorsitzende nieder, verfolgte dennoch weiterhin die Entwicklung der abolitionistischen Arbeit. Doch versagte das nationalsozialistische Deutschland dem abolitionistischen Verband jegliche finanzielle Unterstützung, was zum Erlahmen seiner Aktivität führte. Anna Pappritz, die dem nationalsozialistischen Regime ablehnend gegenüberstand, litt zunehmend an ihrer Gesundheit und verstarb kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Juli 1939.

Kerstin Wolffs Buch zeichnet die Biografie einer ungewöhnlichen Frau nach, die mit den typischen Einschränkungen ihrer Zeit und ihres Geschlechtes zu kämpfen hatte. Es ist aber auch die Kampfgeschichte einer Aktivistin für die Abschaffung der staatlich geregelten Prostitution und für den Kampf gegen Geschlechtskrankheiten und bürgerliche Doppelmoral. Dabei überwiegt quellenbedingt die frauenbewegte und engagierte Seite ihres Lebens, da sich Anna Pappritz in ihren Tagebüchern – die nicht vollständig erhalten sind – über ihre persönlichen Erlebnisse und Emotionen sehr zurückhaltend und nur in Stichworten ausdrückte.

Genauso gut lässt sich dieses Buch aber auch als eine Geschichte der abolitionistischen Bewegung in Deutschland durch das Engagement einer ihrer Hauptvertreterinnen lesen. Es ordnet das Phänomen Prostitution und seine Begleiterscheinungen in ihren historischen Kontext ein und gibt auch für Nicht-Fachleute detaillierte und klare Auskunft über komplexe Sachverhalte, etwa über die Reglementierung der Prostitution im Deutschen Kaiserreich oder die unterschiedlich erfolgreichen Behandlungsmethoden der Geschlechtskrankheiten. Entlang des abolitionistischen Engagements von Anna Pappritz stellt Kerstin Wolff die Geschichte dieser Bewegung in Deutschland vor, und zwar von den gescheiterten ersten Versuchen Gertrud Guillaume-Schacks in den 1880er-Jahren bis zur Umsetzung von abolitionistischen Ideen im Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten von 1927. An der Seite Anna Pappritz‘ erfahren die Leser und Leserinnen von den vielfältigen Einflüssen und nötigen Abgrenzungen im „vielstimmigen Konzert“ der Sittlichkeitsdebatten um die Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. Im Krieg wurden die Prioritäten verschoben und einiges schien auf einmal möglich geworden zu sein, was bisher undenkbar schien, wie zum Beispiel die Verwendung des Kondoms als Schutzmittel gegen Neuinfektion mit Geschlechtskrankheiten.

Je nach Interesse kann das Buch also wahlweise als Lebensgeschichte einer sehr ungewöhnlichen Frau gelesen werden, die sich für die abolitionistische Sache einsetzte, oder als eine Geschichte der abolitionistischen Bewegung in Deutschland am Beispiel des Engagements einer ihrer Hauptakteurinnen. Der Aufbau des Buches mit dem regelmäßigen Wechsel (durch die Verwendung von zwei verschiedenen Schriftarten betont) von kurzen „Chroniken“ zu den privaten Erlebnissen mit längeren Kapiteln über verschiedene Aspekte der abolitionistischen Kämpfe spiegelt diese doppelte mögliche Lesart wider.

Das Buch ist mit zwei Dutzend Bildern, von denen einige aus der privaten Sammlung Anna Pappritz‘ im Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel stammen, mit dem Namensindex und zahlreichen Anmerkungen sehr sorgfältig aufgemacht. Vor allem ganz am Anfang weist das Buch ein paar Längen auf, was den eindeutigen Mehrwert des Inhaltes keineswegs mindert. Die wissenschaftliche Sichtweise auf die abolitionistische Bewegung wird mit diesem Band sowohl vertieft als auch erweitert: Leser und Leserinnen erhalten einen tieferen Einblick in die innerdeutschen Strömungen und Angelegenheiten der Bewegung und können die abolitionistischen Debatten in weitere gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Debatten der damaligen Zeit einordnen. Das Buch ist daher sowohl für ein Fachpublikum als auch für einfach interessierte Leser und Leserinnen eine sehr empfehlenswerte Lektüre.