S. Walch: Triebe, Reize und Signale

Cover
Titel
Triebe, Reize und Signale. Eugen Steinachs Physiologie der Sexualhormone. Vom biologischen Konzept zum Pharmapräparat, 1894–1938


Autor(en)
Walch, Sonja
Reihe
Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte 6
Erschienen
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leander Diener, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich

Die studierte Pharmazeutin Sonja Walch promovierte ab 2006 am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien und war als Kollegiatin in das „Initiativkolleg – Naturwissenschaften im historischen Kontext“ der Universität Wien eingebunden. Das Buch „Triebe, Reize und Signale“ geht aus ihrer 2011 abgeschlossenen Dissertation hervor und ist als sechster Band in der Böhlau-Reihe „Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte“ erschienen. Diesem institutionellen Kontext und der Einbindung in die Böhlau-Reihe entspricht Walchs Ansatz, mit dem sie die Geschichte der Erforschung von Sexualhormonen durch Eugen Steinach während gut 50 Jahren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht. Es soll eine Untersuchung des „Spannungsfeld[s] von Medizin, Biologie und Pharmazie“ sein, die zudem „Überlegungen und Reflexionen zur Ausprägung des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur in Österreich“ (S. 15) leistet. Walch orientiert sich dabei an jüngeren Studien, die sich mit den Zusammenhängen von Sexualität, Geschlecht und Hormonen im frühen 20. Jahrhundert auseinandersetzen.1 Das vorliegende Buch soll aber dezidiert „materiell und epistemisch konstruierte Experimentalkulturen“ untersuchen, die letztlich die Genese von Sexualhormonen evozierten“ (S. 14). Dieser Fokus auf historische „Experimentalkulturen“ erlaubt eine Untersuchung der Erforschung und Konstruktion von Sexualhormonen, bevor diese selbst als Sexualhormone konzipiert und bezeichnet wurden. Daher umfasst Walchs Zeitraum nicht nur Arbeiten wie die Verjüngungsforschung oder die Experimente zur Geschlechtsumwandlung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, sondern auch die Forscherbiografie Steinachs inklusive seiner frühen elektrophysiologischen Experimente. Der Text bleibt im Wesentlichen auf Österreich und Deutschland beschränkt und bewegt sich zwischen Steinachs Arbeitsort in Wien und der Geschäftsstelle der Pharmafirma Schering und deren Laboratorien in Berlin.

Die epistemische Vorstufe der Sexualhormone bestand zunächst nur in einem vermuteten „Ding“, das für die Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen und für die Fortpflanzungsfähigkeit verantwortlich sein sollte. Die Vorstellung von diesem „Ding“ nahm im Laufe der Zeit verschiedene Gestalten an: Von einer Drüse wurde es zu Pubertätszellen, inneren Sekreten und schließlich zu den Sexualhormonen. Walch unterlegt diese Abfolge lose mit drei naturwissenschaftlichen Leitdisziplinen, welche die jeweiligen Vorstellungen und gleichzeitig deren Experimentalisierung beeinflussten. Diese drei Disziplinen strukturieren die drei Hauptteile des Buches chronologisch: Elektrophysiologie (I. Teil), Endokrinologie (II. Teil) und Pharmakologie (III. Teil). In dieser Folge zeichnet sich Eugen Steinachs Forschungsbiografie durch eine Reihe von verschiedenen Faszinations- und Problemgeschichten aus: die Trennung von Sexualität und Geschlecht, das Verhältnis von Tier- und Menschmodellen im Rahmen des anwendungsorientierten Konnex Labor-Klinik-Pharma, die versprochene „Heilung“ von Homosexualität, die Hoffnung auf hormonelle Verjüngung und schließlich die potente Behandlung von Frauenleiden. Diese Themen lassen sich allerdings nicht eindeutig einer Disziplin und einem Kapitel zuordnen; Walch zeigt sie vielmehr als ineinander verwoben und führt so die Vielschichtigkeit der jeweiligen Forschungsetappen vor.

Diese Abfolge der Forschungsgegenstände und Forschungsdisziplinen wird in Walchs Darstellung angereichert mit Kontextinformationen, etwa einer Skizze des Antisemitismus in der späten Habsburgermonarchie, einer Institutionengeschichte der Biologischen Versuchsanstalt in Wien mit Details zu historischen Salären und Wechselkursen, und modernistischen, beinahe stichwortartigen Verweisen auf die aufkommende Konsumgesellschaft, auf die „Politik-, Volks- und Lebensreform“ (S. 189) der 1920er-Jahre oder die problematische Autorität von Ärzten über ihre Patient/innen (zum Beispiel bei der Verabreichung von neuen Präparaten). Diese Informationen dienen der Verortung der Forschungszusammenhänge in einem großen kulturhistorischen und soziopolitischen Rahmen, mit dem Anspruch, die verschiedenen Akteure und Interessen von Forschung, Klinik, Pharmaindustrie, Politik und Gesellschaft in ihrer Interdependenz zu zeigen. Besonderes Gewicht wird auf die schwierige Arbeitsbeziehung zwischen Steinach und der Firma Schering gelegt. Interessant wäre hier gewesen, die dargestellten Netzwerke und Zirkulationsprozesse konsequent quellenkritisch zu analysieren und beispielsweise zu fragen, wie sich die gegenseitigen Verstrickungen konkret auf die jeweiligen Diskurse und Akteure auswirkten.

Im abschließenden vierten Teil schildert Walch die Ereignisse rund um den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, den Steinach während eines Ferienaufenthaltes in Zürich erlebte. Das Kapitel endet mit Steinachs Tod und der Schilderung einer Stiftung, die mit dem hinterlassenen Vermögen von Steinach ins Leben gerufen wurde.

Wollte man Walchs Geschichte der Sexualhormone auf einen konzeptuellen Nenner bringen, so läge der Verweis auf Hans-Jörg Rheinbergers „epistemische Dinge“2 nahe. Walch verwendet denn auch Begriffe wie „epistemisches Ding“ und „technisches Ding“, allerdings nicht um analytisch mit Rheinbergers Konzepten zu arbeiten. Dafür ist ihre Verwendung seiner Begrifflichkeiten zu undifferenziert. Vielmehr markiert die Verwendung des Begriffs „epistemisches Ding“ die verschiedenen dynamischen Erscheinungsformen dessen, was im Verlaufe der Forschung als Sexualhormone identifiziert wurde. Es zeichnet dieses Buch aus, dass es deskriptiv diese „Verkörperungen des noch-nicht-Bekannten“3 vorführt. Der Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck dient im leider sehr kurzen Kapitel zur „Experimentalkultur“ der Beschreibung denkstilgeleiteter Experimente, bei denen sich Steinach über bestimmte Forschungsergebnisse bereits im Vorfeld der tatsächlichen experimentellen Arbeit klar gewesen sein soll. Die ebenfalls naheliegenden „boundary objects“ von Susan Leigh Star und James Griesemer werden als dritte methodisch-theoretische Referenz beigezogen. Walch formuliert in der Einleitung nämlich die These, dass „Sexualhormone solche Grenzobjekte [boundary objects] darstellen“ (S. 21). Leider taucht der Begriff der „boundary objects“ später nicht mehr auf und wird aus diesem Grund auch nicht den „epistemischen Dingen“ gegenübergestellt. Zugegeben, das Buch ist nicht als theoretische Erörterung angelegt; vielleicht aber hätte es gerade die Diskussion der ambigen Natur von Sexualhormonen, die laborgenerierte und gleichzeitig anwendungsbezogene und bedeutungsüberladene „Dinge“ waren, ermöglicht, die verschiedenen Erscheinungsformen der späteren Sexualhormone konzeptuell einzuordnen.4

Das Buch liest sich stellenweise nicht ganz leicht, weil man über sperrige Sätze, unsaubere kausale Zusammenhänge, offensichtliche Redundanzen und zuweilen über einen Mangel an begrifflicher Feinfühligkeit stolpert. Und – so viel Pedanterie sei erlaubt – der Text weist relativ viele orthographische und grammatikalische Fehler auf. Formal fällt zudem die nahezu durchgehende unkommentierte Verwendung des generischen Maskulinums auf (mit wenigen Ausnahmen, zum Beispiel S. 30). Auch wenn Walch sich explizit von einer vielleicht poststrukturalistisch zu nennenden Geschlechtergeschichte distanziert (S. 17), würde man von einer Arbeit über die Geschichte von Sexualität und Geschlecht einen Kommentar erwarten, warum immer nur von Ärzten, Physiologen, Histologen und Wissenschaftshistorikern gesprochen wird.

Nichtsdestotrotz trägt Walch mit dieser Studie zur Erforschung der Geschichte von Sexualhormonen bei, indem sie in ihrer Darstellung nachdrücklich die verschiedenen Akteure in diesem Forschungszusammenhang ineinander verschränkt und so die Komplexität und gesellschaftliche Bedingtheit labor- und klinikbasierter Forschung vorführt. Es gelingt ihr insbesondere, die gegenseitigen Verstrickungen aufzuzeigen, wenngleich durch den Fokus auf die großen Zusammenhänge die strukturelle Klarheit und analytische Tiefenschärfe der Argumente etwas auf der Strecke bleiben.

Anmerkungen:
1 Z.B. Heiko Stoff, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln 2004; Anne Fausto-Sterling, Sexing the body. Gender politics and the construction of sexuality, New York 2006; Chandak Sengoopta, The most secret quintessence of life. Sex, glands, and hormones, 1850–1950, Chicago 2006; Cheryl Logan, Hormones, Heredity, and Race. Spectacular Failure in Interwar Vienna, New Brunswick 2013.
2 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt am Main 2006.
3 Kevin Hall / Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, in: Diana Lengersdorf / Matthias Wieser (Hrsg.), Schlüsselwerke der Science & Technology Studies, Wiesbaden 2014, S. 221–234, hier S. 228.
4 Vgl. Susan Leight Star, This is Not a Boundary Object. Reflections on the Origin of a Concept, in: Science, Technology & Human Values 35 (2010), S. 601–617.