: Entlassungsgrund: Pazifismus. Albrecht Götze, der Fall Gumbel und die Marburger Universität 1930–1946. Münster 2015 : Waxmann Verlag, ISBN 978-3-8309-3193-5 248 S. € 38,00

: Ich wusste, was ich tat. Emil Julius Gumbel und der rechte Terror in der Weimarer Republik. Köln 2016 : PapyRossa Verlag, ISBN 978-3-89438-621-4 131 S. € 12,90

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christian Jansen, Universität Trier

Emil Julius Gumbel hat derzeit (wieder) Konjunktur. Nach einem ersten Revival in den 1980er-/90er-Jahren mit dem Reprint einiger Werke, vor allem im Heidelberger Verlag Das Wunderhorn, und mehreren Biografien war er in den letzten 25 Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten. Aber nun hat der SWR den jungen Filmemacher David Ruf beauftragt einen Dokumentarfilm mit Spielszenen über Gumbel zu drehen, der 2019 ausgestrahlt werden soll. Matthias Scherer, ein junger Professor für Finanzmathematik an der Technischen Universität München, und seine Mitarbeiterin Lexuri Fernández haben Gumbel als Statistiker wiederentdeckt, knüpfen an seine Forschungen im Bereich der Extremwertstatistik an und haben darüber in den Zeitschriften „Risiko-Manager“ (Heft 5/2016) und „Extremes“ (DOI 10.1007/s10687-017-0299-z) publiziert. Am Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum gibt es seit 2016 eine von der Brandenburgischen Landesregierung finanzierte „Emil Julius Gumbel-Forschungsstelle“ (https://www.mmz-potsdam.de/antisemitismus-und-rechtsextremismus.html), die in der Tradition des Kampfes ihres Namensgebers gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus forscht und dessen Akteure, Taten und Äußerungen dokumentiert.

Dieses gewachsene Interesse an dem ersten Heidelberger Professor für Statistik, der 1932 bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme wegen seines Engagements gegen Nationalismus, Militarismus und die Gegner der Weimarer Verfassungsordnung seine Lehrberechtigung verlor und ins Exil ging, zeigt sich auch auf dem Buchmarkt. So sind gleich zwei Neuerscheinungen über Gumbel zu vermelden. Sie haben recht unterschiedlichen Charakter, weshalb sich eine kontrastive Besprechung anbietet.

Das Buch von Dietrich Heither, einem Lehrer, der bereits mehrere Bücher vor allem zum studentischen Rechtsextremismus (Korporationen, Burschenschaften) vorgelegt hat, bietet für alle, die noch nie etwas über oder von Gumbel gelesen haben, einen kostengünstigen Einstieg auf 130 Seiten auf der Basis der neuesten Forschung, die er konzise zusammenfasst, ohne selbst biographisch geforscht zu haben. Man erfährt im Stile wenig kritischer Heldengeschichtsschreibung die wichtigsten Fakten über den „Kämpfer gegen die Wegbereiter der Barbarei“ und seine „antifaschistische Aufklärung im besten Sinne“, zuweilen im überholt geglaubten DDR-Jargon, obwohl Heither die Politik der KPD und später der DDR durchaus kritisch betrachtet. Gumbel wird gegen „Entlastungsbemühungen“ hinsichtlich der deutschen Schuld am Ersten Weltkrieg bemüht, die Heither Christopher Clark und Herfried Münkler unterstellt. An manchen Stellen werden lange verjährte, aber offenbar immer noch identitätsbestimmende Kontroversen, etwa mit dem konservativen Historiker Michael Stürmer und CSU-Chef Franz Josef Strauß aufgewärmt und linke Überväter wie Reinhard Kühnl und Wolfgang Abendroth ins Feld geführt. Statt dieser Politisierung hätte ich eine nüchternere Darstellung bevorzugt. Denn Sachlichkeit schließt keineswegs Empathie mit dem couragierten Zivilisten Emil Julius Gumbel aus, der als unabhängiger Linksintellektueller und Wissenschaftler seine politische Verantwortung zeitlebens ernst genommen und sich vorbildlich für Werte engagiert hat, die erst seit den 1960er-Jahren in Deutschland mehrheitsfähig waren. Vielleicht wären mit mehr Nüchternheit und weniger linkem Jargon sogar mehr Leser/innen für den Querkopf und bis heute anschlussfähigen Denker Gumbel zu begeistern! Es bleibt ein zwiespältiger Gesamteindruck: Einerseits hat Heither die vorhandenen Publikationen genau gelesen und bietet nicht nur die wichtigsten Stationen der Biografie auf knappem Raum, sondern auch (vor allem in den Fußnoten) neue Details, zum Beispiel aus den 2016 von Carsten Dutt und Eike Wolgast edierten Jaspers-Briefen. Andererseits fehlt an manchen Stellen die wissenschaftliche Sorgfalt, zum Beispiel wenn Heither für die extreme Rechte die apologetische Selbstbezeichnung „national“ oder „rechtsnational“ übernimmt (S. 64f.), oder wenn er einen Artikel Heinrich August Winklers auf 1914 datiert (S. 116).

Zu den jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen, denen auch Heither neue Erkenntnisse zum Konflikt Gumbels mit seinen Heidelberger Kollegen entnommen hat, gehört das zweite hier zu besprechende Buch eines weiteren, inzwischen pensionierten Lehrers, Harald Maier-Metz. „Entlassungsgrund: Pazifismus“ schildert quellengesättigt und auf der Basis akribischer Forschung das Leben eines der wenigen Heidelberger Hochschullehrer, der sich gegen die verfassungsfeindlichen Attacken der nationalistischen Studentenbewegung und der Mehrheit im Lehrkörper mit Gumbel solidarisierte, des Altorientalisten Albrecht Götze. Maier-Metz analysiert insbesondere, wie Götze in die Stigmatisierung nicht-nationalistischer und gar pazifistischer Überzeugungen hineingezogen wurde und 1933 seinen Marburger Lehrstuhl verlor, auf den er erst 1930 berufen worden war. Götze gehörte zu den relativ wenigen Hochschullehrern, die wegen § 4 des Gesetzes mit dem zynischen Titel „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, also aus politischen Gründen, entlassen wurden. Maier-Metz hat sein Buch sorgfältig recherchiert, interessante neue Quellen erschlossen und, was bei akademischen Außenseitern keineswegs selbstverständlich ist, auch die Sekundärliteratur weitestgehend rezipiert.

Beeindruckend an Albrecht Götze sind seine Geradlinigkeit und sein Einsatz für die von ihm geschätzten Werte wie Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit gegen den Zeitgeist ohne Rücksicht auf Nachteile für die eigene Person. Sechs Jahre jünger als Gumbel hatte Götze mit ihm zahlreiche biografische Gemeinsamkeiten: Studium in München, Teilnahme am Ersten Weltkrieg, in dem auch ihn die Fronterfahrung zum Pazifisten machte; beide engagierten sich politisch in der Sozialdemokratie und in der Deutschen Liga für Menschenrechte; dann parallele Karrieren an der Ruperto Carola: 1922 Habilitation Götzes für vergleichende Sprachwissenschaft und semitische Philologie, 1923 zogen beide in die Heidelberger Beethovenstraße. Während Gumbel dort ein kleines Häuschen kaufen konnte, wohnte der lange Zeit prekär beschäftige Götze mit seiner Familie zur Miete. 1927 Ernennung zum außerordentlichen Professor, 1930 bekam Götze mit dem Ruf als Ordinarius für semitische Philologie und altorientalische Geschichte erstmals eine feste und unbefristete Beschäftigung. Allerdings wurden nun wegen der Weltwirtschaftskrise und der mangelnden Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien die politischen Verhältnisse prekär. Die endlich erreichte Sicherheit für seine Familie und seine Forschungen hielten Götze aber nicht davon ab, sich mit Gumbels pazifistischem Engagement zu solidarisieren, wodurch er angesichts des rasanten Aufstiegs der NSDAP selbst unter Beschuss geriet. Wie Gumbel hatte er wegen seiner außerordentlichen Qualifikation, aber vielleicht auch wegen seiner relativ frühen Vertreibung Glück und fand im Exil schnell eine neue Anstellung – 1934 in Yale, wo er bis zur Emeritierung 1965 blieb.

Neben der politischen wie freundschaftlichen, durch die politische Verfolgung gestärkten Beziehung Götze-Gumbel präsentiert Maier-Metz zahlreiche Neuigkeiten zur Geschichte der Universitäten Heidelberg und Marburg in der Weimarer Republik, der Machtergreifungsphase und der Nachkriegszeit, als es um Rehabilitierung, Rückruf und „Wiedergutmachung“ ging. Außerdem erfährt man, wie systematisch die Unterstützer Gumbels 1933 verfolgt wurden. Fast 20 Hochschullehrer, die sich seit 1930 öffentlich mit Gumbel solidarisiert hatten, wurden nach 1933 entlassen und oft zudem ausgebürgert. Das Buch ist trotz seiner wissenschaftlichen Akribie sehr lesbar geschrieben, trefflich mit Fotos und Faksimiles illustriert. Das ist vorbildlich recherchierte, anschauliche Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, wie sie sein sollte!

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/