M. Pohlig: Marlboroughs Geheimnis

Cover
Titel
Marlboroughs Geheimnis. Strukturen und Funktionen der Informationsgewinnung im Spanischen Erbfolgekrieg um 1700


Autor(en)
Pohlig, Matthias
Reihe
Externa 10
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
457 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Externbrink, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im Herbst des Jahres 1711 gipfelten die seit Längerem gegen den Oberbefehlshaber der englischen Armeen im Spanischen Erbfolgekrieg, John Churchill, erster Herzog von Marlborough (1650–1722), laufenden Intrigen in der englischen Regierung in einer Anklage wegen der Veruntreuung von Staatsgeldern. Zu seiner Verteidigung führte Marlborough unter anderem an, er habe damit Informanten und Spione bezahlt. Dieses Argument hatte den Charme, dass er eben nicht die Verwendung des Geldes nachweisen musste, sollten seine Spione – es war ja noch Krieg – nicht enttarnt werden.

Diese Episode aus dem Umfeld des Sturzes des Favoriten Marlborough ist der Ausgangspunkt von Matthias Pohligs Münsteraner Habilitationsschrift. Der Autor setzt sich die Rekonstruktion des Marlborough‘schen Spionage- und Informationsnetzwerks zum Ziel, auf das alle Biographen Marlboroughs hingewiesen haben, ohne je Anstrengungen unternommen zu haben, es tatsächlich zu rekonstruieren. Ausgehend von Marlboroughs „Geheimnis“ interessiert sich Pohlig einerseits „allgemein für die Gewinnung primär außenpolitischer Informationen, aber auch für die innenpolitische, englische Informationsgewinnung, und zwar dann, wenn sie mit der außenpolitischen Dimension verknüpft ist“; und andererseits soll ein Einblick in „die Strukturen der Informationsgewinnung in der Frühen Neuzeit“ gegeben werden (S. 16).

Dies erfolgt durch die Konzentration auf zwei Problemfelder: die „Strukturen der Informationsgewinnung“ (S. 87–301) und die „Funktion der Information“ (S. 301–372). Vorangeschickt wird ein Überblick über die „Voraussetzungen“, d.h. eine Skizze der Biographie Marlboroughs und der „institutionelle[n] Mechanismen und politischen Mächteverhältnisse“ der englischen Regierung. Methodisch-theoretisch orientiert sich Pohlig jedoch weniger an politiktheoretischen decision-making process-Theorien, sondern am „soziologischen Neoinstitutionalismus“ und an Niklas Luhmann (S. 21).

Ausgehend von den Rahmenbedingungen frühneuzeitlicher Informationsbeschaffung – den Kosten, dem defizitären und unsicheren Postsystem, dem Brief als Medium der Kommunikation – werden die Strukturen von Marlboroughs Informationsnetzwerken in großer Detailgetreue rekonstruiert. Dabei gelingt es Pohlig, durch die Konzentration auf Marlborough weitaus präzisere Erkenntnisse über die im Schatten tätigen Informanten herauszuarbeiten, als es etwa Lucien Bély in seiner richtungweisenden Studie „Espions und ambassadeurs au temps de Louis XIV“ von 1990 möglich war, die Pohlig regelmäßig zitiert und kritisiert. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass sich Bély eben nicht allein auf einen Akteur beschränkte, sondern versuchte, die europäischen Dimensionen von Informationsgewinnung überhaupt zu erhellen.

Besonders interessant ist der Blick in die „Grauzonen“, etwa das Informationsnetzwerk des südniederländischen „Generalpostmeisters“ François Jaupain, eines erbitterten Feindes Ludwigs XIV. Jaupain hatte Informanten am Hof in Versailles, in französischen Kriegshäfen und am Hof Kurfürst Maximilians von Bayern in Brüssel bzw. später in Mons, war darüber hinaus im Kontakt mit anderen Informanten und Spionen und leitete deren Wissen nicht nur an Marlborough, sondern auch an andere Mitglieder der englischen Regierung weiter.

Die Frage nach der Funktion von Information beantwortet der Verfasser aus vier Perspektiven: im Kontext von Entscheidung, Unsicherheitsminimierung, Patronage sowie Kompetenz- und Legitimationsrepräsentation.

Was passierte mit den Informationen, die über Marlboroughs Netzwerke bei ihm und in London eintrafen? Ausführlich untersucht Pohlig, ob man nachvollziehen kann, wie Informationen der Spione Entscheidungen konditionierten. Nur ein konkretes Beispiel kann er anführen: Die Gegenmaßnahmen angesichts der Jakobiteninvasion in Schottland 1708 wurden ein Jahr später im Parlament untersucht, da man Versäumnisse der Regierung vermutete. Ansonsten gibt es keine – oder so gut wie keine – Hinweise darauf, was mit den Informationen geschah. Daraus schließt Pohlig, dass man die Informationen zur Kenntnis nahm – mehr oder weniger genau – und sie archivierte. Letzteres gestaltete sich im England des frühen 18. Jahrhundert – anders als in Frankreich – noch äußerst chaotisch. Daraus aber abzuleiten, dass der „größte Nutzen von Information darin [bestand], sie nicht nutzen zu müssen“ (S. 340), scheint zu weitgehend. Indem Pohlig bewusst auf die Frage nach den Inhalten der Informationen verzichtet, wird das Erkenntnispotential seines Materials meines Erachtens nicht völlig ausgeschöpft. Alle gesammelten Informationen gingen in ein „Bild“ ein, dass sich die Entscheidenden über die Lage machten. Auf dieser „Summe“ der Informationen gründeten Entscheidungen oder Konzeptionen. Wollte man also den decision-making process rekonstruieren, müsste man die Vielzahl möglicher Informationsquellen in Betracht ziehen, wie auch die Vorprägungen, Wissensstände, Vorurteile etc. der Akteure. Diese ermöglichten dann eine im Zeitkontext durchaus „rationale“ Entscheidung. Insofern darf man den in den Briefen transportierten Inhalt nicht völlig außer Acht lassen bzw. eine Entscheidung nicht allein auf den Erhalt einer spezifischen Information reduzieren.

Neben möglichen langfristigen Wirkungen von Informationen – zu Recht wird auf deren Präventionscharakter hingewiesen (S. 339f.) – konnte die Tätigkeit eines Informanten oder Spions natürlich auch den Beginn eines Patronageverhältnisses bedeuten. Im Gegenzug zu den Informationen erhielt der Briefeschreiber wie auch immer geartete Gunstbeweise seitens Marlboroughs zurück.

Mit der Untersuchung der Funktion von Information als Kompetenz- und Legitimationsrepräsentation kehrt Pohlig zurück zum Anfang der Studie: Marlboroughs Behauptung gegen den Vorwurf der Veruntreuung von Geldern, er habe sie benutzt, um Informationen und Spione zu bezahlen. Das Argument überzeugte jedoch seine Ankläger und Gegner nicht – Marlborough wurde bekanntlich entlassen.

Pohligs Fazit, dass Marlboroughs „Geheimnis“ auf eine „Informationsvormoderne“ verweist, die in hohem Maße von persönlichen Beziehungen bestimmt war, ist zuzustimmen. Die mikroskopische Rekonstruktion von Marlboroughs Informationskanälen zeigt, dass es sich lohnt, frühmoderner Spionage nachzugehen. Manchmal hätte man gerne mehr über die Inhalte der gesammelten Information erfahren. Ein nächster Schritt könnte darin bestehen, die englischen und zum Beispiel französischen „Geheimnisse“ zu vergleichen, vielleicht sogar „Doppelagenten“ zu enttarnen und die Persönlichkeit des frühneuzeitlichen Spions präziser zu konturieren. Pohligs Studie eröffnet viele neue Perspektiven und Anregungen für die „Diplomatiegeschichte“, egal von welcher theoretisch-methodischen Ausgangsposition aus sie betrieben wird.

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