H. Sack: Moderne Jugend vor Gericht

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Titel
Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, "Sexualtragödien" und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik


Autor(en)
Sack, Heidi
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
André Postert, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Technische Universität Dresden

Die „Steglitzer Schülertragödie“ ist Ihnen kein Begriff? Hören Sie nicht gleich auf zu lesen, denn Heidi Sack rückt mit Ihrer Dissertation einen „der aufsehenerregendsten Gerichtsprozesse der Weimarer Zeit“ (S. 18) in das wissenschaftliche Licht. Am 28. Juni 1927 gaben sich zwei alkoholisierte Oberschüler aus Berlin, beide getrieben von Eifersucht, ein folgenschweres Versprechen: Günther Scheller, 19 Jahre alt, sollte seinen Freund Hans Stephan erschießen, der dessen Zuneigung nicht erwiderte. Und der 18-jährige Paul Krantz versprach, im Anschluss Scheller, dessen Schwester – die sich mit Stephan eingelassen hatte – und dann sich selbst zu töten. Ersterer führte die Verabredung aus, erschoss aber kurz darauf sich selbst. Krantz, der die verabredete Tat nicht ausführte, wurde 1928 zunächst wegen gemeinschaftlichen Totschlags vor Gericht gestellt, am Ende aber nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt. Der Prozess verdrängte alle politischen Neuigkeiten zeitweilig von den Titelblättern. Nicht nur ein Jugendlicher oder speziell die Taten von Vertretern der bürgerlichen Jugend standen vor Gericht, sondern eine ganze Epoche. Die Autorin präsentiert eine verunsicherte Gesellschaft, die über ihre sozialen und politischen Fundamente stritt – über Liebe, Hetero- und Homosexualität, Moral und Sittlichkeit, Alkohol- und Nikotinkonsum, über Liberalisierung einerseits oder den drohenden Verfall der Sitten andererseits. „Der Prozess wurde zu einer Plattform oder Bühne für die Beschäftigung mit der (modernen) Jugend und ihrer (vermeintlichen) ‚Krise‘“ (S. 225), unterstreicht Sack die Bedeutung ihres Themas.

Nach einem umfangreichen Einleitungskapitel zum Forschungsstand sowie zu Quellen und methodischen Grundlagen folgt zunächst eine überzeugende Erörterung des Jugenddiskurses, des Mythos der Jugend, des Begriffs der Krise sowie der Jugendgesetzgebung in der Weimarer Republik. Der Jugendmythos, meint Sack, sage mehr über die Gesellschaft aus, die ihn schuf, als über die Jugendlichen, die sich an Konventionen und Idealbildern messen lassen mussten. Die hier gelegten Grundlagen prägen die folgende Darstellung. Drei Kapitel über den Tathergang und die beteiligten Jugendlichen, das Prozessgeschehen sowie zur öffentlichen Umdeutung und Überbewertung des Geschehens zu „eine[r] geradezu prototypische[n] Sexualtragödie“ (S. 285) stehen im Zentrum der Arbeit. „Die Tat rückte“, wie Sack verdeutlicht, sowohl im Prozess selbst wie auch in der medialen Aufbereitung „immer mehr in den Hintergrund, wurde aber als Aufhänger dafür genutzt, mehr über das (intime) Leben der Jugend zu erfahren“ (S. 386). Große Stärken weist die Studie folglich dort auf, wo die Autorin dem Moabiter Prozessgeschehen – bei dem prominente Sachverständige wie Magnus Hirschfeld und Eduard Spranger beteiligt waren – und der medialen Kommentierung desselben nachgeht. Aufgezeigt wird, wie ein Mordprozess sich zum Sittlichkeitsprozess wandelt. Sack versteht ihre „Mikrostudie“ in erster Linie als „Momentaufnahme der Zeit“ (S. 21), als „Standbildaufnahme des Diskurses“ (S. 35). Das Unbehagen, welches mit der Erschütterung bürgerlicher Normen und den Sittlichkeitsvorstellungen des 19. Jahrhunderts einherging, wird ebenso überzeugend offengelegt wie die Widersprüche zwischen den politischen Lagern, die den Prozess kommentierend begleiteten. Einwände, die nicht nur von konservativen Sittenwächtern gegen den „Sensationsprozess“ angeführt wurden, lassen sogar spannende Analogien zur Gegenwart zu: Was durfte verhandelt, was in die Öffentlichkeit gebracht und dort scheinbar sensationslüstern ausgebreitet werden? „Da in der Sexualität ohnehin der Kern einer Krise der modernen Jugend ausgemacht wurde, avancierte der Prozess gewissermaßen zu einer Bühne für diese Krise. Seine jugendlichen Protagonisten wurden zu typischen Vertretern und Anschauungsobjekten für die Krisenhaftigkeit eines bestimmten Lebenswandels“ (S. 388). Den Krisendiagnostikern standen die Liberalen gegenüber, die – obgleich in geringerer Zahl – „einen offeneren Umgang mit der Sexualität und […] eine frühzeitige Heranführung an das Thema“ befürworteten (S. 390).

Der Autorin geht es aber nicht nur um den Jugend-Diskurs allein, um den Mythos Jugend oder um dessen vermeintliche Krise. Sie stellt in Aussicht, „an den größeren Moderne-Diskurs der Zeit zu gelangen“ (S. 35), das „Selbstbild der Jugend“ (ebd.) ebenso wie das unterschiedliche „Jugendbild der Parteien“ (S. 41) nachzuzeichnen. So soll ihre Studie auch einen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik liefern. Nicht zuletzt als „Kulturgeschichte des Gerichtsaals“ (S. 25) will Sack ihr Buch charakterisiert sehen – u.a. durch Einbezug von Fotos oder Karikaturen, welche Stimmungen generierten und transportierten. Aus Sicht des Rezensenten wird nicht alles am Ende mit Stringenz zusammengeführt. Absichtserklärungen, so zur Kulturgeschichte des Gerichts, werden im Fazit unvermittelt zur Aufgabe für künftige Studien erklärt. Die Methodologie ist zwar umfangreich, aber nicht durchweg kohärent erläutert: so soll das Buch zwar Diskurse aufdecken und überall „Diskursfäden“ identifizieren, aber „ohne Diskursanalyse zu sein“ (S. 33); mehrere Vergleiche mit anderen Prozessen werden gezogen, aber nicht in komparatistischer Absicht, sondern „nur zur Überprüfung bestimmter Thesen, als Abgleich oder Exempel“ (S. 18). Weil sich das Buch manchmal etwas schwer damit tut, zu entscheiden und zu begründen, wie es zum Ziel gelangt, werden auf rund 440 Textseiten umso mehr Einblicke gewährt: in die Jugend- und Sittlichkeitsentwürfe von Progressiven und Konservativen, zu Frauenbildern und Rollenvorstellungen – exemplarisch vorgeführt an der Schwester Hilde Scheller, die als Zeugin zeitweise zur „eigentlichen Angeklagten“ (S. 392) avancierte – sowie nicht zuletzt in das Gerichtswesen und die Mechanismen der Weimarer Boulevard-Berichterstattung. Alle zeitgenössischen Begriffe, die in einer solchen Arbeit zu erwarten sind, fallen: „Generationenkonflikt“, „Sexualnotstand“, „Verwahrlosung“ und mehr. Mit großer Akribie hat die Autorin Archivquellen unter anderem zum Gerichtsverfahren und Artikel aus insgesamt 30 Zeitungen herangezogen.

Sacks Mikroanalyse zur „Steglitzer Schülertragödie“ mündet in den Befund, dass hier „unter Heranziehung der Jugend über die Symptome der Moderne verhandelt“ wurde, doch in „keiner dieser Debatten und auch in der öffentlichen Diskussion über die Verfahren […] ein Konsens gefunden“ werden konnte (S. 443). Es habe einen solchen Konsens auch gar nicht geben können, da „ebenso wenig wie auf anderen Gebieten ein gemeinsames (politisches) Wertefundament“ vorhanden gewesen sei (ebd.). Sack schaltet sich mit ihrer Dissertation auf diese Weise in eine Weimar-Forschung ein, die zwar die Offenheit der Entwicklung für die Zeitgenossen stark betont, aber der politischen Kultur der ersten deutschen Demokratie doch weiterhin mit großer Skepsis begegnet. Über ihren eigenen, durchweg normativ grundierten Moderne-Begriff – Detlev Peukert wird zum geistigen Paten erklärt, inspirierend wirkte auch Rüdiger Grafs „Zukunft der Weimarer Republik“1 – kann man mit Gewinn streiten. Die gelegentlich schon für beendet erklärte Debatte, was Moderne ist oder sein soll, wo ihre Ambivalenzen und mitunter Abgründe liegen, scheint doch nicht endgültig erledigt. In Sacks Studie ist die Moderne nicht nur der Inhalt oder Gegenstand eines Diskurses und folglich ihr Analyseobjekt, wie es einleitend in Aussicht gestellt wird. Die Kennzeichen der Moderne werden vielmehr eindeutig und stets positiv gesetzt: Moderne beinhaltet demnach die „Genese neuer Vorstellungen über Frauen“ (S. 393), eine „liberalere Sexualmoral“ (S. 390), die Moderne erscheint ihr mitunter auch gleichbedeutend mit „neuen Werten der urbanen und industriellen Massenkultur“ (S. 425). Die Autorin bezieht Position, wird selbst ein Teil ihrer Geschichte: „Mentalitäten verändern sich langsamer als politische oder wirtschaftliche Strukturen. Dementsprechend kann es umso leichter zum Konflikt zwischen gesellschaftlicher Moderne und einer Mentalität kommen, die noch im vorigen Zeitalter steht“ (S. 439). Die Mikroanalyse zum Moabiter Schülerprozess wird auf diese Weise in eine viel größere Erzählung eingebettet. Sack blickt am Ende auf den Nationalsozialismus, die Nachkriegszeit und bis in die Gegenwart: „Die untersuchten Verfahren fanden zu einer Zeit statt, in der sich die Moderne noch nicht durchgesetzt hatte, oder, um Peukerts klassischen Terminus aufzugreifen, in ihre ‚Krisenjahre‘ geriet.“ Freilich sei für die Zeitgenossen noch nicht absehbar gewesen, „ob sich die Moderne […] durchsetzen, oder aber zurückgedrängt werden würde, wie es dann mit der Machtübernahme der NSDAP tatsächlich geschah“ (S. 444). Tatsächlich?2

Anmerkungen:
1 Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2008.
2 Zur Debatte bilanzierend: Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, München 2004.