J. Le Gac u.a. (Hrsg.): L'Europe des femmes

Cover
Titel
L'Europe des femmes. XVIIIe-XXIe siècles – Receuil pour une histoire du genre en VO


Herausgeber
Le Gac, Julie; Virgili, Fabrice
Erschienen
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 23,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Estelle Klein, Gleichstellungsbüro, Universität des Saarlandes

Das in französischer Sprache von der Historikerin Julie Le Gac und dem Historiker Fabrice Virgili herausgegebene Buch gibt einen Einblick in die frauenpolitischen Entwicklungen in Europa seit dem 18. Jahrhundert und vermittelt einen Eindruck von den Widerständen, gegen die sich emanzipierte Frauen der letzten drei Jahrhunderte zur Wehr setzten. Der Sammelband ist als Gemeinschaftsprojekt von Mnémosyne1, einer im Jahr 2000 gegründeten Gesellschaft, die sich der Frauen- und Geschlechterforschung im internationalen, europäischen und frankophonen Raum widmet, und der Arbeitsgruppe «Genre & Europe» des Exzellenzlabors «Écrire une nouvelle histoire de l'Europe» (EHNE) entstanden.2

Die elf Kapitel des Sammelbandes sind jeweils gleich aufgebaut: Zunächst werden den Leser/innen Kurztexte und Bilder präsentiert, die anschließend mit biographischen Angaben der Autor/innen in den historischen Kontext eingeordnet werden. Alle Texte sind in ihrer jeweiligen Originalsprache abgedruckt. Nicht frankophone Texte wurden ins Französische übersetzt. Für weitergehendes Interesse zu einem Kapitel sind Quellenangaben mit weiterführender Literatur angegeben. Kurzweilig lesen sich so die einzelnen Kapitel mit insgesamt 77 Beiträgen über den Zugang von Frauen in Bildung (Kapitel VII), Wissenschaft (Kapitel XI), Politik (Kapitel I & II )und Kunst (Kapitel X), Frauen im Exil (Kapitel VIII & IX) und Krieg (Kapitel III), das Recht der Selbstbestimmung über den eigenen Körper (Kapitel IV), die Stellung der Frauen im christlichen und muslimischen Weltbild (Kapitel VI).

Die wichtigsten Protagonistinnen der Frauenbewegung sind in diesem Kompendium vertreten: Mary Wollstonecraft, Olympe de Gouges, Virginia Woolf, Florence Nightingale, Simone de Beauvoir, Hedwig Dohm, Olive Schreiner und Simone Veil. Ebenfalls sind frauenpolitische Stellungnahmen von Jean-Jacques Rousseau, Nicolas de Condorcet, August Bebel und Caterina Franceschi Ferrucci in den ausgewählten Texten nachzulesen. Enttäuschend ist allerdings, dass von Olympe de Gouges nicht einmal die vollständige Präambel der «Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne», geschweige denn die 17 Artikel ihrer Frauenrechtserklärung in den Sammelband mit aufgenommen worden sind, mit denen sie 1791, drei Jahre nach der Verabschiedung der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" durch die Französischen Nationalversammlung, die Gleichstellung von Frauen und Männern in einem Brief an Königin Marie-Antoinette gefordert hatte. Überraschend ist der Abschnitt «Une petite fille pas modèle» zu einer fiktiven Romanheldin: Pipi Langstrumpf. Die rothaarige, sommersprossige Pipi Langstrumpf ermutigt auch noch nach 70 Jahren dazu, die klassischen Geschlechterrollen zu hinterfragen und findet daher nicht zu Unrecht als «icone féministe» Erwähnung in diesem Sammelband. Die Idee, auch eine fiktive feministische Ikone in den Sammelband mit aufzunehmen, sensibilisiert die Leser/innen für die Vielfältigkeit emanzipatorischen Schreibens. Weitere fiktive Heldinnen aus der europäischen Literatur wie "Momo" von Michael Ende, "Miss Marple" von Agatha Christie oder Hermine Granger aus "Harry Potter" von Joanne K. Rowling finden allerdings in diesem Kompendium keine Beachtung.

Bereits im Vorwort von «L'Europe des femmes» wird deutlich, dass sich der Sammelband ganz bewusst auch mit den "Grenzregionen" des aktuellen Europas auseinandersetzt: "Women for Brexit" oder "women for In" waren 2016 Wahlsogans, die sich gezielt an die weibliche Wählerschaft in Großbritannien richteten. Die Briten stritten über diese Slogans, als ob allein die Stimmenabgabe der Frauen über die Zukunft Großbritanniens innerhalb oder außerhalb der EU entscheiden würde. «L'Europe des femmes» wirft aber nicht nur einen Blick auf die Frauenrechtsbewegung in Großbritannien, sondern auch auf die Türkei, die seit 2005 Beitrittsverhandlungen zur Aufnahme in die EU führt. Der Abschnitt «Une paysane au parlament d'Ankara» skizziert den Weg der Türkin Hatı Çırpan von der Bäuerin im ländlichen Anatolien zur Abgeordneten im türkischen Parlament. Aslan Tufan Egemen, der die ersten 17 Frauen im kemalistischen Parlament von 1935 interviewt hat, arbeitet die tatsächlichen Gründe für die Gleichstellung von Frauen – im Sinne einer Zuerkennung von Rechten durch Männer – in seinen Interviews heraus: Der Grund, warum türkische Frauen den Zugang zur politischen Bühne in Ankara und somit Mitspracherechte erhalten haben, liegt darin, dass Mustafa Kemal Atatürk sein politisches System legitimieren und modernisieren wollte. Die Umsetzung erfolgte sukzessive. So gewährte er Frauen den Zugang zum Bildungssystem und gestand ihnen 1925 per Gesetz zu, den Schleier in der Öffentlichkeit abzulegen. Frauen erhielten 1930 das regionale, 1935 das nationale Wahlrecht und schließlich erhielten sie 1935 auch das Recht, für politische und öffentliche Ämter zu kandidieren. Durch das Instrument der politischen Gleichstellung ist es Atatürk schließlich gelungen, seine Akzeptanz und Beliebtheit auszubauen. Gleichzeitig ergriffen emanzipierte Frauen die Gunst der Stunde und machten von den neuen rechtlichen Freiheiten Gebrauch, um aus den ihnen zugewiesenen Rollenmodellen auszubrechen, Missstände zu benennen und damit Veränderungen in Gang zu setzen.

Das Kapitel «À corps perdus» behandelt die Freiheit, über den eigenen Körper selbst zu entscheiden. Gerade die aktuelle Diskussion über den Paragraphen §219a StGB ("Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft") zeigt, dass dieser Kampf noch immer nicht gewonnen ist und die tatsächliche Gleichstellung von Männern und Frauen eine Jahrhundertaufgabe bleibt. Le Gac und Virgili haben mit der Enzyklika "Humane Vitae" (1968) von Papst Paul VI, der Rede von Simone Veil vor der «Assemblée nationale» zur Legalisierung von Abtreibungen (1974) und „The Truth about Veneral Disease“ (1921) von Marie Carmicheal Stopes Texte aufgegriffen, die sich mit den Themen Schwangerschaftsabbruch, Verhütung und Schutz vor Geschlechtskrankheiten auseinandersetzen. Der Slogan: "Mein Körper gehört mir!" trifft auch auf die sexuelle Befreiung der 68er zu, die ebenso wie das klare Statement von Magnus Hirschfeld (1914) zur gleichgeschlechtlichen Liebe in diesem Kapitel behandelt wird: "Die Homosexualität ist weder Krankheit noch Entartung, noch Last, noch Verbrechen, sondern stellt ein Stück der Naturordnung dar [...]."

Die Quellensammlung «L'Europe des femmes» macht darüber hinaus auch Pionierinnen sichtbar, die die Herrschaft der Männer erfolgreich durchbrochen haben: Laura Boldrini, die von 2013 bis 2018 Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer war, die Medizinerin Franziska Tiburtius (1843–1927), die als erste praktizierende Ärztin in Deutschland tätig war oder Valentina Tereshkova, die 1963 als erste Frau im Weltall war.

Insgesamt enthält der Band viele wichtige, teilweise auch weniger bekannte und durchaus lesenswerte Texte. Die Gründe für die Auswahl der Texte bleiben jedoch unklar. Eine historische, soziale oder literaturwissenschaftliche Begründung, warum gerade diese Auswahl an Texten in den Sammelband aufgenommen wurden, wird von Le Gag und Virgili nicht gegeben.

Bei den weiterführenden Literaturhinweisen zu den einzelnen Texten fällt auf, dass deutschsprachige Standard-Werke zur europäischen Frauenforschung und -bewegung nicht referenziert werden. Die Kontextualisierung ist genügsam und beschränkt sich auf Trivia-Wissen.

«L'Europe des femmes» beantwortet keine wissenschaftlichen Fragestellungen und setzt sich auch nicht kritisch analytisch mit dem Thema Feminismus auseinander. Damit stellt der Band, im Gegensatz zu der durch den Titel geweckten Erwartung, keine fundierte Gesamtschau auf die Thematik dar. Wer jedoch an einer Textsammlung von und über Frauen interessiert ist, die sich zu ihrer Zeit für die Rechte von Frauen eingesetzt sowie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern eingefordert und/oder praktiziert haben, wird die Lektüre des Kompendiums als bereichernd und kurzweilig empfinden.

Anmerkungen:
1 Mnémosyne – Association pour le développement de l'histoire des femmes et du genre, online unter: http://www.mnemosyne.asso.fr (17.08.2018).
2 LabEx EHNE. Écrire une nouvelle histoire de l'Europe, online unter: www.labex-ehne.fr (17.08.2018).

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