D. Hoffmann (Hrsg.): Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990

Cover
Titel
Die Zentrale Wirtschaftsverwaltung in der SBZ/DDR. Akteure, Strukturen, Verwaltungspraxis


Herausgeber
Hoffmann, Dierk
Reihe
Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990 3
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 675 S.
Preis
€ 199,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonathan Zatlin, Boston University

Etwas vergraben in einer Diskussion der Braunkohlenindustrie in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) liegt folgendes historisches Schmankerl, das einer der Autoren dieses umfangreichen Sammelbands zur Geschichte der ostdeutschen Wirtschaftspolitik an den Tag brachte. Einige Monate nach dem Bau der Berliner Mauer, – die schon damals als konkretes Eingeständnis des Scheiterns vom Versuch verstanden worden ist, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu “überholen ohne einzuholen” – traf sich der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow mit seinem ostdeutschen Verbündeten Walter Ulbricht, dem Chef der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In der spielerisch-bedrohlichen Weise, die ihm eigen war, meinte Chruschtschow, dass die Staatliche Plankommission (SPK) die ganze Verantwortung für die Abriegelung der DDR tragen müsste, denn: “sie kontrolliert schlecht. Gut, dass wir jemanden haben, auf den wir das schieben können. Gäbe es die Staatliche Plankommission nicht, dann müssten wir sie erfinden, denn sonst wären wir ja selbst schuld” (294f.).

Chruschtschows schelmische Bemerkung erinnert an die sisyphushafte Aufgabe der SPK, einer unbeliebten Behörde, die mit der unablässigen Arbeit beauftragt wurde, jedes Jahr die sozialistische Wirtschaft über den Berg zu bringen, nur um zusehen zu müssen, wie das Ganze herabstürzte, weil sich Produzenten und Verteiler nicht an den Plan gehalten hatten. Wie dem sowjetischen Parteichef war es auch der SED-Führung bewusst, dass die SPK nicht mit ausreichender Macht ausgestattet wurde, um das Verhalten ökonomischer Akteure einzuschränken, wie es in der Marktwirtschaft durch die Drohung der Insolvenz geschieht. Insofern hatte Chruschtschow recht, als er meinte, die SPK würde schlecht kontrollieren. Die marxistisch-leninistische Theorie verlangte zwar die Abschaffung des Profitmechanismus, der nicht nur als Eckpfeiler des Kapitalismus, sondern auch seines skrupellosesten Verfechters, des Faschismus, kritisiert wurde, doch die Rechenschaftsfunktion von „market-clearing prices“, die sonst ökonomische Entscheidungen von Produzenten und Verteilern gestaltet, war eben nicht mit bürokratischem Zwang aufzuwiegen. So erfindungsreich waren Chruschtschow und Ulbricht dann doch nicht.

Es ist aber dieser zweite und erstaunlich ehrliche Teil von Chruschtschows Scherz, der das eigentliche Paradoxon der Planwirtschaft verdeutlicht. Wenn man die Geschichte der geplanten Misserfolge, der Engpässe in der Produktion und Konsumtion und der immer größer werdenden Kluft zwischen dem westdeutschen und ostdeutschen Lebensniveau betrachtet – oder gar erlebt hat –, hatte die SED es wohl nötig, die politische Schuld für die ökonomischen Schulden auf eine Bürokratie abzuwälzen, die eben im Parteistaat nicht in der Lage war, sich gegen solche Vorwürfe zu verteidigen. Der ständige Kampf von staatlichen Behörden, die Wirtschaftspolitik zu gestalten, sowie ihre Funktion als Sündenbock für die Unfähigkeit der SED-Führung, wirtschaftliche Tatsachen mit politischen Notwendigkeiten zu bilanzieren, – eben dies untersuchen die Autoren dieses Sammelbands, der als dritter Teil der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie beauftragten Geschichte der Wirtschaftspolitik Deutschlands von 1917 bis zur deutschen Einheit erschienen ist.

Nach einer hilfreichen Einleitung von Dierk Hoffmann in die DDR-Wirtschaftsgeschichte, der knapp wichtige Fragen aufwirft und einen Überblick des Forschungsstands liefert, folgt eine längere Untersuchung von Andreas Malycha über die interne Geschichte der SPK. Malycha beschreibt ausführlich die Gründung, Umstrukturierungen und Personalpolitik der Planungsbehörde, die lange Zeit mit Angestellten auskommen musste, die oft nicht über eine ausreichende wirtschaftliche Ausbildung verfügten. Der Mangel an Fachleuten hat der SPK gewiss nicht geholfen, sich im Zuständigkeitswirrwarr des Parteistaats durchzusetzen. Selbst starke Vorsitzenden der SPK wie Bruno Leuschner (1952–1961) waren nicht in der Lage, den von der SPK konzipierten Plan vor politischen Eingriffen der Parteiführung zu schützen, geschweige denn, die Ministerien zur Durchführung des Plans zu zwingen. Im Vergleich zu Malychas institutionellem Ansatz betont Marcel Boldorf die ordnungspolitische Transformation der ostdeutschen Wirtschaft unter der SED. Dabei spricht er einige Unzulänglichkeiten des Planungssystems an, wie etwa die zentral festgelegte Preisbildung, thematisiert wichtige Weichenstellungen der 1940er und 1950er, wie die Bodenreform und Währungsumstellung, und bietet den fehlgeschlagenen Versuch der 1960er, die Planwirtschaft durch Dezentralisierung effizienter und innovativer zu gestalten, als Beweis für die mangelhafte Reformfähigkeit des Staatssozialismus.

In seiner knappen Untersuchung der ostdeutschen Statistik identifiziert Rainer Fremdling wichtige personelle, organisatorische und methodologische Kontinuitäten zwischen der Nazizeit und der frühen DDR-Zeit. Besonders aufschlussreich ist seine Diskussion der Entscheidung vom neugebildeten Statistischen Zentralamt (StZa), den Industriezensus aus dem Jahr 1936 auszuwählen, um Eckdaten für die Investitions- und Preisentwicklung zu liefern. Die Erhebung von zuverlässigen empirischen Daten bleibt unentbehrlich für moderne Industriestaaten und Fremdlings Kapitel stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der DDR dar. Es ist daher verwirrend, dass er die Entstellung der Statistik unter der Diktatur nicht näher erläutert. Die oft fragwürdigen Meldungen von ökonomischen Akteuren nach oben sowie die Fülle von Subventionen und indirekten Preisstützungen haben zwar die Arbeit des StZa erheblich erschwert, doch hat die SED-Führung auch zunehmend die Politisierung oder gar Unterdrückung unangenehmer Fakten verlangt. Die Tatsache, dass sich Fremdling auf die Frühphase der DDR-Geschichte konzentriert, wie die meisten Autoren dieses Bands, wirft Fragen nach dem weiteren Verlauf der statistischen Darstellung auf.

In seinem Beitrag über die ostdeutsche Energie- und Rohstoffpolitik räumt Rainer Karlsch mit dem weitverbreiteten Klischee auf, dass die Minderleistung der DDR im Vergleich zu anderen Industrieländern ihrer Rohstoffarmut geschuldet war. Überzeugend zeigt er, dass es dem Arbeiter- und Bauernstaat zwar an notwendigen Eisenerz- und Erdölvorkommen mangelte, er aber über sehr reiche – und für die Industrie entscheidende – Braunkohle- und Kalivorkommen verfügte. Sorgfältig und über die ganze Geschichte der DDR hinweg unterscheidet Karlsch auch zwischen echten Erfolgen des ostdeutschen Planungssystems, wie etwa den Leistungen des Eisenhüttenkombinates Ost; vom kalten Krieg beeinflussten Fehlkalkulationen, wie den Autarkieprojekten im Energieerzeugungsbereich; politisch motivierten Fehlentscheidungen, wie dem Aufbau eines allzu anspruchsvollen Chemieprogramms; und planungsimmanenten Fehlern, wie etwa den fehlenden Modernisierungsinvestitionen im Energiebereich.

In seinem interessanten Kapitel über die Forschung und Technik analysiert Johannes Bähr die Instrumentalisierung der Naturwissenschaften durch das Planungssystem bis 1961. Zumindest theoretisch soll die strategische Lenkung von Forschungsvorhaben auf Gebieten, die der Industrie vom direkten Nutzen waren, mit den Stärken eines Planungssystems übereingestimmt haben, denn auch im Westen unterstützten Regierungen favorisierte Forschungsfragen durch Ressourcenverteilung. Doch haben DDR-Wissenschaftler kaum Entdeckungen gemacht, die zur Erhöhung der industriellen Produktivität beigetragen haben. Nach Bähr lag das magere Resultat zum Teil an der bürokratischen Organisation der Wissenschaftler, aber auch die Steuerung der Forschung, aus der der „wissenschaftlich-technische Fortschritt“ entspringen sollte, führte nicht zu den gewünschten Ergebnissen, da Forschungsmittel oft nicht in Anspruch genommen wurden.

Dierk Hoffmanns Kapitel über die Konsumgeschichte untersucht die Schwierigkeit des Sozialismus, eine nicht-kommerzielle Alternative zu der Konsumkultur des Westens zu entwickeln, die dennoch den Bedürfnissen einer industriellen Gesellschaft gerecht werden konnte. Unter Ulbricht war es noch möglich, den Konsum zugunsten der Produktion einigermaßen zu vernachlässigen. Doch die Nachkriegsrevolution in der Konsumtion, die Produkte wie Waschmaschinen, Autos, Fernseher und Jeans in die Reichweite immer breiter Kreise stellte, setzte die DDR unter enormen Druck. Versorgungsengpässe trieben die soziale Differenzierung voran und verdeutlichten zugleich den zunehmenden Rückstand des ostdeutschen Lebensstandards im Vergleich zur Bundesrepublik. Honeckers Lösung, den internen Frieden über eine bessere Produktion und Verteilung von Konsumgütern zu erkaufen, hat diesen Druck nur verschärft, weil seine „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ einerseits die industriellen und finanziellen Möglichkeiten der DDR überstieg, Konsumgüter in der erwünschten Qualität und Quantität zu liefern, andererseits aber die Erwartungshaltung vieler DDR-Bürger an einen konsumorientierten Lebensstil verstärkte. Die Unfähigkeit der SED-Führung, eine Alternative zum kapitalistischen Konsum zu erfinden, hat wesentlich zum Legitimierungsverlust der Planwirtschaft beigetragen.

Das letzte Kapitel setzt sich mit einem parallelen Problem in der Außenwirtschaft auseinander. Wie Ralf Ahrens erläutert, befand sich die DDR von Anfang an in einer Zwickmühle, die die Ankurbelung des Exports notwendig machte, um den notwendigen Import von Rohstoffen und Vorprodukten für den Export abzuzahlen. Wie sonst auch stand die Bundesrepublik im Zentrum des ostdeutschen Dilemmas. Das durch die deutsch-deutsche Teilung erzwungene Abreißen von historisch gewachsenen Handelsbeziehungen zwang die ostdeutsche Industrie nach neuen Import- und Exportmärkten zu suchen, die nur zum Teil in sozialistischen Ländern zu finden waren. Honeckers Politik der Annäherung an Westdeutschland schien zunächst das Problem zu lindern, aber das rasche Ansteigen der Importe aus dem Westen Ende der 1970er, die nicht durch den schwindenden Export von DDR-Gütern bezahlt werden konnte, brachte die DDR an den Rand der Insolvenz. Honecker suchte den Weg aus der finanziellen Krise wiederum in einer Annäherung an die Bundesrepublik, und zwar in der Form von Milliardenkrediten vom Klassenfeind. Er mag diese Schulden nur als Übergangslösung betrachtet haben, aber Millionen von DDR-Bürgern haben schließlich in einer noch viel engeren Anbindung an die Bundesrepublik eine dauerhafte Lösung der Wirtschaftskrise gewählt.

Dem sogenannten „Autorenkollektiv“ ist es also auf beeindruckende Weise gelungen, den Sammelband in ein nützliches Nachschlagewerk über die Geschichte der Wirtschaftspolitik in der DDR zu verwandeln. Wie auch damals in der sozialistischen Wirtschaft, so gibt es in jedem Sammelband Mängel. Es wäre etwa hilfreich gewesen, wenn die Autoren nicht nur auf Primärquellen sondern auch auf die mittlerweile reich gewordene Forschungsliteratur hingewiesen hätten, inklusive Studien aus Nordamerika und Großbritannien, die kaum erwähnt werden. Auch die Betonung der Entstehungsphasen der DDR bei den meisten Kapiteln hätte sinnvoll um eine Analyse der Honecker-Zeit ergänzt werden können, damit der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Einheit nicht als einsame Ereignisse dastehen. Zudem überrascht es, dass die Situation der Frauen fast völlig außer Acht gelassen wird, was besonders bedauerlich ist, weil sich die DDR damit brüstete, die Gleichberechtigung von Frauen voranzutreiben, sie aber in der Praxis nur zaghaft unterstützte, ob es bei der Rollenverteilung in der Arbeit zuhause oder der Belohnung und Beförderung am Arbeitsplatz war. Auch fehlt dem Band eine Grundsatzdiskussion der planwirtschaftlichen Theorien, die sich als Alternative zur Marktwirtschaft konzipierten. Doch wie Chruschtschow und Ulbricht fällt es dem Rezensenten allzu leicht, das Manko der Autoren zur Entlastung der eigenen Verantwortung einzusetzen.

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