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Titel
Lebens Werk. Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte. Biographie eines Buches


Autor(en)
Nolte, Paul
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Wagner, Historisches Institut/ Abteilung Frühe Neuzeit, Universität Stuttgart

In seiner im Jahr 2015 erschienenen Monographie Hans-Ulrich Wehler. Historiker und Zeitgenosse würdigt Paul Nolte seinen akademischen Lehrer anschaulich, elegant und überzeugend als einen typischen Vertreter der 45er-Generation deutscher Geistes- und Sozialwissenschaftler. Dem damaligen Antipoden Wehlers Thomas Nipperdey widmet Nolte sein aktuelles Buch, welches, wie der Titel deutlich verrät, einen besonderen Aspekt in den Vordergrund rückt: Lebens Werk. Thomas Nipperdeys DEUTSCHE GESCHICHTE. Biographie eines Buches.

Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte ist wahrlich ein Lebenswerk, sie umfasst zwei Bände, verteilt auf drei Bücher, insgesamt 2.695 Seiten. Das Standardwerk, das seinen thematischen Schwerpunkt auf das lange 19. Jahrhundert legt, nimmt im Regal rund 16 cm Platz ein. Die Erscheinungsjahre der Erstauflagen: 1983, 1990 und 1992. Nipperdey bescherte es zahlreiche Preise, verbunden mit Ruhm und Geld.

Paul Nolte verfasst unter Bezugnahme auf den bisher unerschlossenen, umfangreichen Nachlass Thomas Nipperdeys und auf zahlreiche aussagekräftige Quellen aus dem Verlagswesen die Biographie eines geschichtswissenschaftlichen Lebenswerks in exemplarischer Absicht: „Woher kommt das – wie entsteht eigentlich nicht nur in den Geschichtswissenschaften, sondern in den Geisteswissenschaften (und vielleicht sogar darüber hinaus) ein großes Werk, ein bedeutendes Buch, ein wissenschaftliches Lebenswerk?“ (S. 12)

Wie versucht Paul Nolte dieses selbstgesteckte Ziel umzusetzen? Methodisch wagt er sich an eine Entschlüsselung der Geschichtsschreibung heran, dergestalt, dass er sich gelungen von den fachwissenschaftlichen interpretatorischen Paradigmen des Historismus und des cultural turns löst, ohne diese grundsätzlich aufzugeben. Die komplexe soziale und kulturelle Konstruktion von Geschichtsschreibung sowie die epistemische und soziale Konstitution von historischem Wissen und seinem inneren und äußeren Wirken rückt er gekonnt in den Vordergrund. Bereits im Prolog macht Nolte deutlich klar: Leben, Werk und Wissen sind in der (Geistes-)Wissenschaft zwangsläufig eng miteinander verflochten und bilden eine Trias, die die Entstehung und das Fortwirken eines Opus Magnum unmittelbar beeinflusst.

Nolte gliedert sein Buch in 15 Kapitel, beginnend mit einem ausführlichen Prolog. Der Hauptteil (Kapitel II–XIV) ist stimmig aufgebaut, so thematisiert der Autor, gemäß der benannten Trias, zunächst allgemein „Die Fabrikation von Erkenntnis: Wissen und Werk in den Geschichtswissenschaften“. Mit einem biographischen Ausschnitt Thomas Nipperdeys (Kapitel III) taucht Nolte in die Fallstudie ein und skizziert darauf anhand der Chronologie des Schaffungsprozesses der Deutschen Geschichte die komplexe Verknüpfung zwischen Leben, Werk und Wissen (Kapitel IV–XI). Sodann thematisiert Nolte die Rezeption des Lebenswerks (Kapitel XII und XIII), bevor er mit „Der Tod des Autors und das Weiterleben des Werks“ (Kapitel XIV) einen runden Abschluss der Fallstudie findet. Schließlich beantwortet er sodann die aufgeworfenen Fragen aus den allgemein gehaltenen ersten Kapiteln (Kapitel XV). Der Aufbau der Monographie ist insgesamt logisch und gut gewählt, eine feingliedrigere Einteilung, vor allem des Hauptteils, hätte der Übersicht dennoch gutgetan.

Nachdem der Prolog die Richtung des Buches anschaulich vorgegeben hat, thematisiert das zweite Kapitel die Kategorie Wissen – Wie entsteht Wissen? Welchen ökonomischen Bedingungen untersteht die Produktion und Kommunikation von Wissen? Wie wird soziales und kulturelles Wissen konstruiert? Thomas Nipperdeys bürgerliche Jugend, sein wissenschaftlicher Werdegang sowie sein politisches Engagement beschreibt Nolte zutreffend als grundlegend für die Entstehung seines Opus Magnum. Dass der „Raub eines Halbbandes“ den Stein ins Rollen brachte, erläutert Nolte mitsamt dem Entschluss zum Werk im vierten Kapitel. In den nachfolgenden Kapiteln (V–VII) werden am Beispiel der Deutschen Geschichte Probleme der Verlagsfindung, von Reihenbänden und des Seitenumfangs pro Band anschaulich und detailreich dargestellt. Gleichermaßen interessant sind der Blick auf die Verhandlungsfähigkeiten Nipperdeys und die Fertigstellung eines Buches. Auf den Einschub zur Produktion und Veröffentlichung kleinerer Schriften (Sonderfall politische Texte) folgen Einblicke in das Handwerk des Schreibens und die Bedeutung von Konkurrenz (Hans-Ulrich Wehler) und Intertextualität, bevor letztlich die Fertigstellung des Lebenswerks als erfolgreicher, aber mühsamer Wettlauf gegen die Krebserkrankung dargestellt wird. Das Nachleben der Deutschen Geschichte – Rezensionen, Preise, Übersetzungen – schildert Nolte in den Kapiteln XII bis XIV, um darauffolgend im letzten Kapitel die Ergebnisse der Fallstudie in anregenden Gedankengängen, aber zugleich in einer abschweifenden Fülle mit gegenwärtigen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu verknüpfen.

Der Schreibstil Paul Noltes ist anschaulich und flüssig zu lesen. Der sperrige Fließtext wird immer wieder durch Zitateinschübe aus Korrespondenzen Nipperdeys mit Kollegen, Verlegern und Lektoren aufgelockert, zusätzlich gewähren diese einen authentischen und persönlichen Einblick in den Entstehungsprozess der Deutschen Geschichte. Die neun Abbildungen, die zumeist Nipperdey selbst zeigen, nehmen eine ähnliche Funktion ein, wirken zu Teilen jedoch uninspiriert gesetzt – so zeigen ihn die Bilder mehrfach in ähnlicher Pose. Aufmachung und Schreibstil deuten auf ein populärwissenschaftliches Werk hin, das dem Geschichtsinteressierten wertvolle Einblicke in den Entstehungsprozess eines großen wissenschaftlichen Standardwerks bietet.

Die übersichtliche Sortierung nach Kapiteln lässt die Anmerkungen aus dem Fließtext schnell und einfach im Anhang wiederfinden. Das Literaturverzeichnis enthält mit Monographien, Sammelbänden, Zeitungs- und Fachartikeln sowie französischen und englischen Werken umfangreiche Möglichkeiten, um tiefer in die Materie einzutauchen – darunter eine separate Auflistung der Schriften Nipperdeys. Bei den genutzten Quellen handelt es sich im Wesentlichen um Korrespondenzen, Einschübe von Manuskriptseiten aus dem Schreibprozess wären, sofern vorhanden, ebenso von Interesse gewesen. Letztlich bleibt neben dem obligatorischen Personenregister, das fehlende Ortsregister zu nennen, welches bei diesem Werk jedoch auch nicht von Nöten ist.

Als einziger Wermutstropfen bleibt die thematische Ausuferung am Ende des Buches, sodass – trotz anregender Gedankengänge – der Versuch der Verknüpfung des Opus Magnum mit gegenwärtigen Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft in seiner Fülle zu viel und abschweifend wirkt. Nolte wird seiner einleitenden Ankündigung zwar gerecht, dass „dieses Buch auch einen exemplarischen Beitrag zur Situationsbestimmung der Geisteswissenschaften“ leistet (S. 16), jedoch wird deren Transformation in eine postheroische Phase am Ende des 20. Jahrhunderts überbordend mit den „ganz großen sozialkulturellen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte – der Krise des Fortschritts, der Krise des Westens, der Krise der Männlichkeit – “ (S. 309) in Bezug gesetzt. Das erscheint dann doch etwas zu viel.

Paul Nolte hat mit diesem Buch wahrlich eine Biografie über die Entstehung eines Lebenswerkes geschrieben, ihm gelingt eine übersichtliche Darstellung der engen Verknüpfung von Leben, Werk und Wissen Thomas Nipperdeys. Mit einer neuen Perspektive veranschaulicht er die komplexe soziale und kulturelle Konstruktion von Geschichtsschreibung sowie die epistemische und soziale Konstitution von historischem Wissen und seinem inneren und äußeren Wirken und gewährt dem außenstehenden Geschichtsinteressierten – vielleicht auch so manchem angehenden Historiker – einen Blick hinter die Kulissen des Entstehungsprozesses eines großen historiographischen Werks.

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