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Titel
Migration macht Schule. Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960–1980


Autor(en)
Eigenmann, Philipp
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Béatrice Ziegler, Institut für Bildungswissenschaften, Fachhochschule Nordwestschweiz Email:

Philipp Eigenmanns Anliegen ist es, die Herausbildung von Bildungsmöglichkeiten und qualifizierenden Angeboten für die Berufstätigkeit von Migrantinnen und Migranten aus Italien in Zürich aus einer Perspektive darzustellen, die die Selbstermächtigung der Zuwandernden ins Zentrum stellt und Bildungsangebote und -organisation für Migrantinnen und Migranten als Ergebnis ihrer Bestrebungen und Entscheidungen fokussiert. Angestrebt wird damit ein Perspektivwechsel gegenüber bisherigen Sichtweisen, die die Weiterentwicklung des schweizerischen Bildungswesens als Ausdruck der Systemanpassung unter dem Einfluss von Zuwanderung interpretieren.

Der Untersuchungszeitraum der Studie setzt 1960 ein. Damals beginnt, so der Autor, das migrantische Bemühen um berufsbildende Maßnahmen und schulische Integration der Kinder. Mit den Verhandlungen und Verträgen zwischen der Schweiz und Italien sei zudem die Bleibeperspektive für eine große Zahl von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten realistischer geworden1, und die sogenannte „Bildungsexpansion“ in der Schweiz habe – meist günstige – Rahmenbedingungen für die Bildungsanliegen der Zugewanderten geschaffen.2 Er schließt die Untersuchungsperiode 1980, als die Bildungsangebote der Emigrantenorganisationen konsolidiert und die Modelle der Integration der Kinder in die Volksschule entwickelt waren.

Die Materialgrundlage sind Archivbestände der Migrantenorganisationen, die sich für die berufliche und schulische Bildung der Arbeitsmigrantinnen und -migranten und deren Kinder einsetzten. Es handelte sich dabei insbesondere um die „Missioni Cattoliche Italiane“, die „Colonie Libere Italiane in Svizzera“ sowie um Weiterbildungsorganisationen, die nicht nur unterschiedliche Ausrichtungen hatten, deren Angebote sich teilweise auch konkurrenzierten.

Abschließend hält Eigenmann fest, dass die Arbeit zeigt, „wie Italienerinnen und Italiener in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Schweiz Bildung und Berufsqualifikation für sich selbst und ihre Kinder zur Bewältigung gesellschaftlicher und individueller Herausforderungen heranzogen und welche konkreten Bildungsbestrebungen daraus resultierten“ (275–276). Dabei zieht er für die historische Nachzeichnung sechs Schlussfolgerungen: Erstens sei die Verflechtung von Bildung, Staat und Migration die Grundlage für das Verständnis des Gegenstandes (276–280).3 Zweitens hebt er die Aushandlungsprozesse in Gemeinden, Schulen und Unternehmen hervor, die lokal tragfähige Lösungen und eine Praxis des gemeinsamen Arbeitens an wahrgenommenen Problemen hervorbrachten (280–282). Drittens betont er, dass die Handlungsweisen der Akteure und die getroffenen Massnahmen auf dem Hintergrund unklarer Zukunftsszenarien zu beurteilen sind, indem weder Migrantinnen und Migranten noch die Bildungsbehörden noch die Emigrantenorganisationen wussten, ob die Zukunft der Zugewanderten im Herkunftsland oder in der Schweiz liege (282–284). Viertens betont der Autor die Heterogenität der Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die ihr Handeln auf unterschiedliche Ziele ausrichteten (284–287). Fünftens hebt Eigenmann hervor, dass die realisierten Bildungsangebote auf der Basis einer transkulturellen Vermittlungsleistung entstanden und davon geprägt waren (287–289). Zuletzt diskutiert der Autor die politische Dimension des Untersuchungsgegenstandes (289–291).

Eigenmann gelingt es verdienstvollerweise, die Anstrengungen des migrantischen „Milieus“ für die berufsbildende Aus- und Weiterbildung von Migrantinnen und Migranten und für die schulische Integration ihrer Kinder zu beschreiben und zu analysieren. Die allmählich realisierten Bildungsmöglichkeiten bezieht er, wenn auch nicht isoliert, auf diese Anstrengungen. Dies ist in der schweizerischen Migrationsgeschichte ein seltener, aber bedeutsamer Zugang, ist es damit doch möglich, transnationale Strategien und hybride Identitätsdefinitionen in ihren schweizerischen bzw. lokalen Prozesshaftigkeiten zu verfolgen.4 Seinem Anliegen kommt die Materialwahl entgegen, indem die Archive der Migrantenorganisationen am ehesten diesen Zugang ermöglichen.

Allerdings beinhaltet sie auch interpretatorische Tücken: Dem Korpus ist grundsätzlich eigen, dass die Migrantenorganisationen als Handelnde im Zentrum des Geschehens standen. Damit bleiben andere Aktive im Dunkeln, solange nicht ein In-Kontakt-Treten mit den genannten Organisationen sie ins archivalische Licht rückt. Der Verzicht auf deren Profilierung ist aus Gründen der Bewältigung des Materials wohl angezeigt, aber die gewonnenen Erkenntnisse hätten konsequenter an die Archivsituation zurückgebunden und sprachlich als deren Produkt erkennbar gemacht werden können.

Eine Unschärfe in der Untersuchung ergibt sich durch eine problematische Gegenüberstellung der Akteure in der Schweiz und allenfalls in Italien (Staat, Behörden, Schule und so fort) und „der Migrantinnen und Migranten“, indem häufig die konsequente Befragung des Materials danach fehlt, welche Migrantinnen und Migranten als Personen oder als Institutionen tatsächlich Akteure waren und welche Hierarchien und Diskursherrschaften sich auch innerhalb der Italienerinnen und Italiener in der Schweiz entwickelten.

Für die Würdigung der transkulturellen Vermittlungsleistung der Migrantenorganisationen, hätte der Autor mit Gewinn einen prominenteren Bezug auf heutige theoretische Konzepte der Hybridität und der transnationalen (Lebens-)räume Bezug nehmen können. Denn er versteht ja – im Rückblick – zurecht vieles, was durch die italienischen Migrantinnen und Migranten und den untersuchten Organisationen zwischen 1960 und 1980 erarbeitet worden ist, als Vor(denk)arbeit für die heutigen gesellschaftlichen und persönlichen Lebensentwürfe in den Migrationsgesellschaften, die zunehmend gerade mit derartigen theoretischen Konzepten beschrieben werden.

Was die politische Dimension seines Untersuchungsgegenstandes anbelangt, diskutiert Eigenmann die unterschiedlichen Diskurslogiken in Italien und der Schweiz. Dabei bezieht er die Diskurspositionen der migrantischen Organisationen etwas schematisch auf ideologische Positionierungen, weshalb er in ihnen Inkonsequenz oder Widersprüchlichkeit feststellt. Demgegenüber könnten die Positionierungen auch als folgerichtig eingeschätzt werden, indem sie sich sehr konsequent an migrantischen Interessen orientieren, wenn sie sich in den unterschiedlichen Diskursräumen bewegten. Dies hieß dann eben, für möglichst viele migrantische Lebenssituationen und -entwürfe zwischen Klassenkampf und Chancengleichheit Handlungsoptionen offen zu halten und diese Optionen optimal auszugestalten.

Die Arbeit von Philipp Eigenmann ist für die Geschichte der schweizerischen Gesellschaft der Nachkriegszeit bedeutsam, weil sie die Möglichkeit weiter öffnet, diese schweizerische Gesellschaft als eine Migrationsgesellschaft zu verstehen und Migrantinnen und Migranten als konstitutiv für die weitere Entwicklung zu begreifen. Sie ist aber auch wichtig, weil sie eine Rückblende aus einer Diskussion heutiger Migrationsströme erlaubt, deren Charakteristika mit Hybridität von Identitäten und Leben in transnationalen Räumen beschrieben und diskutiert werden. Die Arbeit leistet weiter einen wichtigen Beitrag zur Bildungsgeschichte der Schweiz, indem frühe Diskussionen um Vorschulerfassung von Kindern, die Fragen von Bildung und Ausbildung, Aus- und Weiterbildung und die Thematisierung der Bedeutsamkeit von Sprache für schulischen Erfolg angesprochen werden und insbesondere deutlich wird, dass und welche Rolle Migrantinnen und Migranten bzw. migrantische Organisationen in der Weiterentwicklung des Bildungssystems gespielt haben. Dies ist überdies in einem Forschungsfeld zu begrüßen, in welchem politische Sichtweisen immer wieder deutlichen Einfluss gewinnen, wobei stets von Neuem eine nationale Perspektive hegemonial zu werden droht, die Zuwandernde eher als passives Problem, denn als aktive Ressource für die Gestaltung der Gesellschaft und Politik versteht.

Anmerkungen:
1 Matthias Hirt, Die Schweizerische Bundesverwaltung im Umgang mit der Arbeitsmigration: Sozial-, kultur- und staatspolitische Aspekte. 1960 bis 1972. Riga 2010.
2 Die Rolle migrantischer Organisationen und die Beteiligung von Migrantinnen und Migranten im Prozess der sogenannten Bildungsexpansion ist kaum berücksichtigt worden. Vgl. etwa Lucien Criblez, Charles Magnin, Die Bildungsexpansion der 1960er- und 1970er-Jahre, Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 23 (2001), 1.
3 Auch der jüngste Beitrag zur Geschichte der Weiterbildungspolitik folgt dem nicht. Michael Geiss, Sanfter Etatismus. Weiterbildungspolitik in der Schweiz, in: Lucien Criblez / Christina Rothen / Thomas Ruoss (Hrsg.), Staatlichkeit in der Schweiz. Regieren und Verwalten vor der neoliberalen Wende. Zürich 2016, S. 219–246,
4 Die schweizerische Migrationsgeschichte ist nach wie vor ein Feld mit hohem Forschungsbedarf. Eine der wichtigen Publikationen dazu ist Hans-Rudolf Wicker / Rosita Fibbi / Werner Haug (Hrsg.), Migration und die Schweiz. Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms «Migration und interkulturelle Beziehungen», Zürich 2004. Eine Verschränkung von Migration, Schicht und staatlicher Politik diskutiert Ganga Jey Aratnam, Der Talent-Turn und seine staatliche Begleitmusik. Migration und die Politik der Hochqualifizierung, in: Lucien Criblez / Christina Rothen / Thomas Ruoss (Hrsg.), Staatlichkeit in der Schweiz. Regieren und Verwalten vor der neoliberalen Wende, Zürich 2016, S. 341–366.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/