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Titel
Anna Siemsen (1882–1951) und die Zukunft Europas. Politische Konzepte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik


Autor(en)
von Bargen, Marleen
Reihe
Studien zur modernen Geschichte 62
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Robert Pfützner, Universität Hildesheim

Anna Siemsen ist vor allem als sozialistische Pädagogin bekannt. Wobei „bekannt“ wohl etwas übertrieben ist; die aktuelle Literatur zu ihr ist übersichtlich.1 Marleen von Bargens Dissertation nimmt daher eine Sonderstellung ein, da sie das Unternehmen wagt, nicht nur eine in Vergessenheit geratene und scheinbar antiquierte Sozialistin ins Zentrum ihrer Arbeit zu stellen, sondern Siemsen auch aus dem Korsett fast ausschließlich pädagogischer Interpretationen zu befreien.

Von Bargen arbeitet methodisch mit einem biographischen Ansatz, der chronologisch Siemsens Werdegang vor allem im Kontext der politischen Geschichte nachzeichnet, um „die Wechselbeziehungen von Persönlichkeit und politischen und gesellschaftlichen Strukturen [zu zeigen], über die sich Kontinuität und Wandel von politischen Ideen darstellen lassen“ (22). Die Frage nach den zu Tage tretenden Europa-Bildern bildet den roten Faden, der sich durch die Interpretationen der unterschiedlichen Texte Anna Siemsens zieht. Entsprechend ihres biographischen Zugangs gliedert von Bargen ihr Buch nicht nach allgemeinen gesellschaftlichen Epochen und Brüchen, sondern nach den Entwicklungsetappen und Umbrüchen in der Biographie Siemsens in drei Abschnitte. Jeder dieser Abschnitte wird von einer anschaulichen Rekonstruktion des Werdegangs Anna Siemsens und einer eindrücklichen Analyse des gesellschaftlichen, politischen und geistesgeschichtlichen Milieus, in dem sie sich bewegte und das ihre europapolitischen Ideen beeinflusste, eingeleitet. Nach diesen Kapiteleinleitungen werden die politischen Konzepte, insbesondere die Europabilder, die sich aus den Publikationen, hinterlassenen Dokumenten und Archivmaterialien von und über Anna Siemsen rekonstruieren lassen, im geschichtlich-biographischen Kontext dargelegt. Dabei geht es von Bargen nicht nur um eine inhaltliche Rekonstruktion der Europakonzepte, sondern auch um die Analyse der Rolle, die Europa für Siemens Argumentationsstrategien spielt.

Im ersten Abschnitt des Buches werden „Siemsens Weg nach Europa bis 1933“ (35), mithin ihre frühen Jahre im Studium und als Lehrerin sowie ihr mit dem Ersten Weltkrieg einsetzender Politisierungsprozess dargelegt, der Siemsen in die Berufspolitik führte. Allerdings war ihr Ausflug in die staatliche Bildungspolitik in Düsseldorf, Berlin und Thüringen recht kurz und endete schon 1924 mit der Versetzung in den „Wartestand“. Diese berufliche Erfolglosigkeit ermöglichte jedoch die enorme publizistische Aktivität Siemsens, die sich in dieser Zeit vorwiegend um die „Leitideen Herrschaftslosigkeit, Recht, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität“ (81) und den dazumal weit verbreiteten Begriff der Gemeinschaft organisierte. Auch wenn Siemsen später vom Begriff der Gemeinschaft abrücken sollte, macht von Bargen deutlich, wie die genannten Leitideen auch die künftigen Vorstellungen von Europa, das zu dieser Zeit noch nicht zentral für Siemsens Denken war, bleiben sollten. Der Fokus lag für Siemsen in dieser Zeit auf der Gesellschaftstransformation durch Erziehung, die jedoch jenseits des Staates, den Siemsen in guter marxistischer Tradition für eine „Organisation der herrschenden Klasse“ (93) verstand, stattfinden sollte. Mit ihrer Ablehnung des bürgerlichen und kapitalistischen Staates verband Siemsen auch die Ablehnung von nationalstaatlichen Grenzen. Europa bekam in diesem Kontext eine gewichtige argumentative Funktion, da es als friedliche Heimat einer sich international verbrüdernden Arbeiterklasse in Abgrenzung zum gewaltförmigen Nationalstaat imaginiert wurde. Jenseits des Arbeiters, den Siemsen als Wegbereiter eines europäischen Einigungsprozesses vorstellte, spielten geschlechterspezifische Erwägungen eine Rolle. So propagierte sie einen vermeintlich typisch weiblichen Politikstil, da „es [...] zum Wesen der Frauen [gehöre], Gegensätze zu versöhnen, für die Erhaltung des menschlichen Lebens einzustehen und durch den „mütterlichen“ Einfluss für eine Humanisierung der öffentlichen Sphäre zu wirken“ (182).

1933 war nicht nur politisch, sondern für Siemsen auch persönlich eine Zäsur. Aufgrund ihrer exponierten Stellung als Sozialistin verließ sie Deutschland und siedelte in die Schweiz über. Ihr Leben und Wirken in den bis 1946 andauernden Exiljahren stehen im Fokus des zweiten Abschnitts des Buches. In dieser Zeit rückte die föderale politische Organisation der Schweiz als Muster für eine europäische Einigung ins Zentrum der Überlegungen Siemsens. Darüber hinaus wurden die Arbeiter als von Siemsen adressierte revolutionäre Akteursgruppe von den Frauen verdrängt. Diesen Perspektivwechsel erklärt von Bargen nachvollziehbar sowohl mit Siemsens Tätigkeit in der Zeitschrift der sozialdemokratischen schweizerischen Frauenorganisation und der persönlich erlebten Entwertung politischer Rechte als Frau in der Schweiz.2 Anna Siemsen engagierte sich im Exil zunehmend in pazifistischen Organisationen. Ihre publizistischen Aktivitäten erweiterten sich somit über ihren kultursozialistischen Schwerpunkt hinaus um Fragen internationaler Rechtsordnung und sozialistischer Gesellschaftsreformen im Kontext einer föderativen Einigung Europas. Wobei von Bargen kritisch hervorhebt, dass für Siemens Europa-Ideen in dieser Zeit, wie generell, gelte, dass sie sich „kaum an realpolitischen Möglichkeiten [orientierten]. Diese wurden in ihrer Argumentation nahezu ausgeblendet.“ (164)

Im dritten Abschnitt stehen die letzten fünf Lebensjahre Siemsens nach ihrer Remigration nach Deutschland im Fokus. Ihre Versuche, beruflich – in Hamburg – wieder Fuß zu fassen, scheiterten zwar, aber Siemsen engagierte sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters und schlechten Gesundheitszustandes aktiv für eine demokratische und proeuropäische Erziehung und in der europäischen Einigungsbewegung. Bargens Ausführungen machen sehr deutlich, dass Siemsen in dieser Zeit verstärkt auf bildungsbürgerliche Argumentationsmuster zurückgriff. So nutzte sie den Bezug zum Christentum, zur griechischen Antike und auf das Römische Reich, um ihre Vorstellungen von Europa zu illustrieren. Auch wenn sie sich weiterhin in der sozialdemokratischen Frauenbewegung engagierte, trat die Forderung nach einem sozialistischen Europa zugunsten einer auf internationale Kooperation gerichteten Argumentation zurück. Darüber hinaus zeichneten sich Siemsens letzte Jahre durch einen heftigen europapolitischen Aktivismus aus, so dem Versuch eine europäische Lehrerakademie zu gründen. Politisch orientierte sich Siemens an der Forderung, Europa als „dritte Kraft“ (379) zwischen westlichem Kapitalismus und östlicher sozialistischer Planwirtschaft zu etablieren. An der Umsetzung eines solchen Projektes konnte sie freilich nicht mehr mitwirken, sie starb 1951.

Marleen von Bargen leitet die Leser/innen geschickt und kenntnisreich durch die biographischen Etappen, die zeitgenössischen Diskurse und geistesgeschichtlichen Motive, die für die Entwicklung der politische Ideen Anna Siemsens bedeutsam waren. Dabei thematisiert sie an Siemsens Schriften wie den „Literarischen Streifzügen durch die Entwicklung der europäischen Gesellschaft“ (1925), „Daheim in Europa“ (1928) oder „Deutschland zwischen Gestern und Morgen“ (1932), wie sie das Genre des literarischen Essays nutzt, um mit ihren „Vergangenheitsdeutungen […] eine Gegenwartsanalyse der bestehenden zeitgenössischen Zustände […] zu liefern“ (185). Dabei belegt sie gerade an dieser für Siemsen so zentralen Agitationsmethode deren Verhaftung in ihrem bildungsbürgerlichen Hintergrund, der zu einer spezifischen Ausformung ihrer sozialistischen Ideen führte. Interessanterweise haben die dargelegten Ideen viele Anknüpfungspunkte zum libertären Sozialismus, ohne dass diese aber weiterverfolgt würden. Trotz der engen Vertrautheit mit der Biographie und dem Werk Anna Siemsens verliert von Bargen nicht die kritische Distanz und problematisiert sowohl das biologistische Frauenbild, das Siemsen für ihre politische Argumentation nutzt, als auch die stark eurozentrische Schlagseite ihres Menschenbildes.

Auch wenn etliche Wiederholungen und Zusammenfassungen etwas redundant wirken, liest sich das Buch trotz seines stattlichen Umfanges und seiner quellengesättigten Dichte sehr flüssig. Gerade von Bargens ausführliche Exkurse und Verweise zu Diskussionspartner/innen, Inspirationsquellen oder Gegner/innen Anna Siemsens helfen auch mit der Materie nicht übermäßig vertrauten Leser/innen die Europa-Konzepte Siemsens im historischen Diskursfeld zu verorten. Die umfangreiche Literaturbasis, vor allem die intensive Auswertung der Veröffentlichungen Siemsens und der Einbezug zum Teil bisher unveröffentlichter Archivmaterialien, sorgen für eine anregende Leseerfahrung.

Anmerkungen:
1 u.a. Alexander Schwitanski (Hrsg.), Anna Siemsen. Aspekte eingreifenden Denkens, Essen 2016; Christoph Sänger, Persönlichkeit, Humanität, Sozialismus. Eine Einführung in die Pädagogik Anna Siemsens, Baltmannsweiler 2016; Manuela Jungbluth, Anna Siemsen – eine demokratisch-sozialistische Reformpädagogin, Frankfurt am Main u.a. 2012.
2 So galt in der Schweiz das Frauenwahlrecht erst ab 1971.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/