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Titel
Jeanssozialismus. Konsum und Mode im staatssozialistischen Ungarn


Autor(en)
Müller, Fruzsina
Reihe
Moderne Europäische Geschichte 15
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Pelka, Institut für Geschichte, Universität Regensburg

Fruzsina Müllers im Wallstein Verlag veröffentlichte Dissertation stellt sich der Aufgabe, eine Konsumgeschichte des staatssozialistischen Ungarns zu schreiben. Auch wenn der Untersuchungszeitraum die gesamte Periode zwischen 1945 und 1989 umfasst, liegt der Schwerpunkt vor allem auf den 1970er-Jahren. Diese waren in Osteuropa nicht nur durch wirtschaftliche Krisensymptome, sondern auch durch den schleichenden Niedergang der kommunistischen Utopie von der gesellschaftlichen Gleichheit geprägt. Überall im „Ostblock“ reagierten die sozialistischen Staatsparteien auf den damit einhergehenden Legitimitätsverlust mit neuen Herrschaftspraktiken, insbesondere mit einer Verbesserung der Konsummöglichkeiten der Bevölkerung. In Ungarn begann diese Hinwendung zum Konsum jedoch am frühesten und am entschiedensten. Die ausgeprägte Konsumorientierung und der relativ hohe Lebensstandard im Ungarn der Kádár-Ära (1956–1988) waren also Ergebnis einer bewussten Politik, die, so die These dieser Arbeit, zur Stabilisierung des kommunistischen Systems beitrug.

Für die Analyse des Konsums als kulturelle Praxis wählt Müller den Themenkomplex „Mode und Kleidung“ aus, wobei sie sich insbesondere auf Jeans konzentriert. International avancierten Jeans in den 1970er-Jahren von einer jugendlichen Protestkleidung zu einer gesellschaftlich allgemein anerkannten Basiskleidung. In Ungarn kam Jeans jedoch eine besonders prominente Rolle zu, sodass sowohl Öffentlichkeit als auch staatliche Instanzen in vielerlei Hinsicht auf sie Bezug nahmen. Im Kontext der Wirtschaftsreformen Kádárs spielte die Versorgung mit Bekleidung und insbesondere mit Jeans deshalb eine wesentlich größere Rolle als andere Konsumprodukte. Müller bringt diese herausgehobene Bedeutung auf den Punkt, indem sie ihre Studie mit „Jeanssozialismus“ überschreibt und sich damit von dem etablierten Schlagwort des „Gulaschkommunismus“ abgrenzt.

Ihr breites Quellenkorpus, zu dem unveröffentlichte Akten von Ministerien und Unternehmen sowie publizierte Schriften und Zeitungsartikel gehören, befragt Fruzsina Müller nach Hintergründen, Auswirkungen und Bedeutungen des Modekonsums in Ungarn. Sie stellt sich in erster Linie die Frage, wie Konsum und Mode von den Kommunisten für die Machtlegitimierung eingesetzt wurden und welche Maßnahmen diese zur besseren Befriedigung der Konsumwünsche ergriffen. Zudem fragt sie nach öffentlichen Diskursen über Mode sowie nach konkreten Strukturen, Institutionen und Akteuren des Modekonsums. Sie analysiert daher die Rolle und die Spielräume der Bekleidungsindustrie, des Handels und des Ungarischen Modeinstituts. Da die Autorin die Konsumgeschichte Ungarns als Teil einer europäischen Entwicklung versteht, verortet sie diese in der gesamteuropäischen Geschichte, womit auch Transnationalisierungs- und Globalisierungsprozesse miteinfließen.

Müller baut ihre Analyse systematisch in zwei Teilen auf. Den ersten Teil widmet sie den Diskussionen und Debatten rund um Konsum und Mode, um dadurch deren gesellschaftlichen Stellenwert herauszuarbeiten. Zunächst zeichnet sie die Haltung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei zu Konsum und Mode seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die späten 1970er-Jahre nach. Wurden diese in der Frühphase des Kalten Krieges noch als Ausdruck des westlichen Imperialismus abgelehnt, fanden sie später zunehmend Anerkennung als gesellschaftliche Bedürfnisse in einem angestrebten sozialistischen Wohlstandsstaat. In ähnlicher Weise wandelte sich die Wahrnehmung der Jeans von einem verbotenen Kleidungsstück über eine aufgrund ihrer gesellschaftlichen Beliebtheit geduldete Modeerscheinung bis hin zum relevanten Gegenstand der staatlichen Versorgungspolitik. Dabei ist interessant zu sehen, wie sich die Vertreter des politischen Establishments, die anfangs noch ausschließlich ideologisch argumentiert hatten, seit den 1960er-Jahren immer mehr für pragmatisch-ökonomische Argumente öffneten. Dieser Verlust von ideologischer Argumentation im offiziellen Parteidiskurs rief jedoch auch linksorientierte Intellektuelle auf den Plan, die seit den 1960er-Jahren die Entwicklung einer sozialistischen Konsumgesellschaft von marxistischen Positionen aus kritisierten.

Da Jeans vor allem für Jugendliche von großer Bedeutung waren, richtet Müller ihre Aufmerksamkeit im Folgenden auf die Jugend. Sie analysiert zum einen den Wandel der öffentlichen Debatten über Jugend, in denen diese zunächst nur als Lebensphase galt, Jugendliche seit den 1970er-Jahren aber bereits als potenzielle Käufer mit spezifischen Bedürfnissen, Kaufwünschen und finanziellen Möglichkeiten wahrgenommen wurden. Zum anderen gibt sie auch den Jugendlichen selbst eine Stimme und versucht anhand von Leserbriefen, den hohen Stellenwert der Jeans als identitätsstiftende Kleidung zu demonstrieren. In diesem Kontext beschreibt sie auch diverse legale und illegale Konsumpraktiken und Erwerbsmöglichkeiten. Interessant sind hier vor allem die geschilderten Emotionen, die mit der Beschaffung einer Jeans verbunden waren.

Insgesamt liefert der erste Teil des Buches einen breiten und sehr informativen Hintergrund zum besseren Verständnis des zweiten Teils, der den Blick auf konkrete Akteure der Versorgung mit modischer Kleidung (etwa Kleidungsindustrie und Betriebe, das Ministerium für Leichtindustrie, das Ungarische Modeinstitut, Staats-, Genossenschafts- und Privathandel) richtet und deren Handlungsspielräume im Kontext der Wirtschaftsreformen von 1968 auslotet. Diese Reformen sollten dazu beitragen, im Zuge der von Kádár versprochenen Erhöhung des Lebensstandards auch die bis dahin stark vernachlässigte Bekleidungsversorgung zu verbessern. Zum einen geschah dies durch die Sanierung der Bekleidungsindustrie, zum anderen durch eine grundlegende Reform der Planwirtschaft.

Wie Müller zeigt, gab es zwar auch nach der Wirtschaftsreform weiterhin Abhängigkeiten und staatliche Kontrolle der Kleidungsbetriebe durch Partei und Zentralverwaltung. Den Betrieben wurde aber ein gewisser Grad an Selbstständigkeit eingeräumt, sodass diese teilweise eigenständige unternehmerische Entscheidungen treffen konnten. Zudem wurden Elemente aus der kapitalistischen Marktwirtschaft eingeführt, wie etwa Lizenzkooperationen mit westlichen Unternehmen (etwa mit Levi Strauss & Co.), Marketing, Markenkultur (Tisza-Schuhe), Werbung (Textilunternehmen Buda-Flax) und eine attraktive Konsuminfrastruktur (Genossenschaftswarenhaus Skála). Im Ergebnis gelang trotz der weiterhin bestehenden hemmenden Wirkung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung eine Verbesserung der Versorgung mit modischer Kleidung, wie die Autorin illustrativ anhand konkreter Beispiele erläutert.

So experimentierte das Textilunternehmen Buda-Flax seit dem Beginn der 1970er-Jahre mit der Jeansherstellung, doch gelang es ihm erst 1978, den westlichen Jeansstoff zu imitieren. Die Produktion wurde nämlich ständig durch finanzielle und technische Probleme gebremst, da die Beschaffung von notwendigen Technologien und Fachwissen aufgrund des fehlenden Eigenkapitals nicht möglich war. Zwar durfte der Betrieb infolge der reformierten Planwirtschaft selbst über Investitionen entscheiden, musste diese jedoch von den Behörden genehmigen lassen. Positiv wirkte sich dagegen die Möglichkeit zu Kooperationen mit westlichen Herstellern aus. Diese brachten regelmäßige Qualitätskontrollen und Technologieinvestitionen mit sich und führten zur Übernahme westlicher Produktionseigenschaften der Originaljeans sowie zur Einführung von Marketing- und Werbestrategien, die sich in Inhalt und Gestaltung an westlichen Mustern orientierten.

Mit dieser Fallstudie zeigt Müller, wie unter den Bedingungen der reformierten Planwirtschaft die Produktion einer Jeans nach westlichem Vorbild möglich wurde: Einerseits bedurfte sie staatlicher Förderung, andererseits fand sie in einer marktähnlichen Konkurrenzsituation und unter Einsatz von Werbung statt. Besonders bemerkenswert ist, dass die Studie stets konkrete Akteure in den Blick nimmt, etwa Unternehmen, Ministerien, Komitees, aber auch Direktoren, Designer und Ingenieure. Auf Verallgemeinerungen wie Staat oder Obrigkeit verzichtet Müller hingegen. Damit gelingt es ihr herauszuarbeiten, dass nicht nur politische Vorgaben oder Strukturen, sondern oftmals auch persönliche Konstellationen und Führungsstile von ausschlaggebender Bedeutung waren.

Insgesamt liefert Müller eine gut recherchierte, breit aufgestellte Kulturanalyse, die Mode als Teil einer Konsumgeschichte versteht, in der kulturelle Praxis mit wirtschaftlichen und sozialen Aspekten sowie Alltagsperspektiven bereichert wird. Durch die Einbeziehung des internationalen Kontextes zeigt sie hervorragend, dass im „Ostblock“ vieles zwar ähnlich ablief, aber dennoch auch Besonderheiten und Unterschiede je nach Land und Tradition oder politischer Strategie festzustellen waren. Sie überzeugt mit ihrer Argumentation, dass die Förderung der Jeansversorgung zu Systemstabilisierung und Machtlegitimierung in Ungarn beitrug. Die Annahme, dass die Integration kapitalistischer Elemente in die Planwirtschaft ein spezifisch ungarisches Phänomen gewesen sei, muss jedoch mit gewissen Vorbehalten betrachtet werden. Mit kapitalistischer Marktführung experimentierte man zum Beispiel auch in Polen (etwa im Handelsbereich), was allerdings oft auf persönliche Führungsstile zurückzuführen war. Da es jedoch noch zu wenige internationale Studien gibt, die Konsum und Mode nicht auf der diskursiven Ebene, sondern mit Fokus auf den Funktionsmodus der Betriebe analysieren, steht eine Prüfung dieser These noch aus.

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