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Titel
Grabgesang der Demokratie. Die Debatten über das Scheitern der bundesdeutschen Demokratie von 1965 bis 1985


Autor(en)
Schletter, Christian
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kleßmann, Senior Fellow, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Wohin treibt die Bundesrepublik?“ lautete der Titel einer vom renommierten Philosophen Karl Jaspers 1966 veröffentlichten Schrift, die auch als SPIEGEL-Serie erschien und beträchtliches Rauschen im Blätterwald auslöste. Bald gab es eine Entgegnung von Erhard Eppler „Wohin treibt Karl Jaspers?“, deren letzter Satz lautete: „Wie vergiftet muß die politische Atmosphäre eines Landes sein, in dem ein solches Buch zum Bestseller wird?“ Eppler nahm die alarmistischen Warnmeldungen und Katastrophenprognosen aufs Korn und forderte zu mehr Nüchternheit auf. Wer die Zeit, die Christian Schletter in seiner Dissertation unter dem wohl bewusst etwas spektakulär formulierten Obertitel behandelt, miterlebt hat, wird sich gut an viele der hier analysierten Debatten erinnern, wird sich aber nachträglich auch (ebenso wie der Autor) wundern über den oft lautstarken Fehlalarm in einer vergleichsweise stabilen Demokratie. Die Frage liegt nahe, wann und wo die „geglückte Demokratie“ (Edgar Wolfrum) denn nun wirklich gefährdet war und wie man als Historiker mit den zeitgenössischen Ängsten und Befürchtungen umgehen soll.

Der Zeitraum der Untersuchung mag zunächst überraschen: Die großen Gefahren mit Koreakrieg und Kuba-Krise waren vorbei, das Ende von Adenauers Kanzlerdemokratie und der Übergang zum Vater des Wirtschaftswunders Ludwig Erhard legten kaum Anlässe für Grabgesänge nahe. Aber Erhards Scheitern, die erste Rezession, die Aktionen gegen die Notstandsgesetze, der Einzug einer neofaschistischen Partei in etliche Landesparlamente, der Tod Benno Ohnesorgs 1967 und die beginnenden spektakulären Aktivitäten der Studentenbewegung signalisierten offenbar für manche den Beginn einer neuen Unsicherheit.

Die „augenfällige Diskrepanz zwischen Deutungen vieler Zeitgenossen“ und den eher harmonischen oder nüchternen Urteilen der neueren Historiografie bildet den Ausgangspunkt der Arbeit. Der Autor greift dabei zurück auf ein Diktum von Hans-Peter Schwarz, dass die bundesrepublikanische Geschichte ohne die Angst vor dem erneuten Scheitern der Demokratie nicht zu verstehen und daher auch „als die einer ausgebliebenen Katastrophe zu schreiben“ sei. Ein solcher Zugang ist bisher kaum systematisch versucht worden. Die Frage bleibt, ob und wie man ein solches, bei näherem Hinsehen außerordentlich diffuses und schillerndes Phänomen mit vertretbarem Aufwand erfassen kann. Um das Thema einigermaßen für die Analyse handhabbar zu machen, beschränkt sich Schletter auf die veröffentlichte Meinung anhand zweier wichtiger Presseorgane, den „Spiegel“ aus dem linken und den „Rheinischen Merkur“ aus dem konservativen Spektrum. Beide werden als Kern eines jeweiligen linken beziehungsweise konservativen „Wahrnehmungsmusters“ interpretiert. Das mag als Notbehelf einleuchten, aber es ist ein grobes Konstrukt, das viele Zwischentöne kaum einfangen kann. Die Szenarien, die im Hinblick auf markante und häufige Ängste in der westdeutschen Gesellschaft analysiert werden, sind: ein neuer Krieg, eine neue totalitäre Massenbewegung, ein neuer Führer, ein anonymer Machtapparat. Dazu führt der Autor zunächst eine ziemlich aufwendige quantitative Analyse über die Häufigkeit der Nennungen in den beiden Presseorganen durch, der dann eine umfangreichere Diskursanalyse der Inhalte folgt.

Ängste vor Katastrophenszenarien und scharfe „positive Kritik“ können auf sehr unterschiedlichen Ebenen liegen. Insofern wird zu Recht in der Sorge vor einem erneuten Scheitern des demokratischen Systems ein Teil seiner Stärke gesehen. Lautstarke „Grabgesänge“ gab es sicherlich reichlich, vor allem in Wahlkampfzeiten, aber welches Gewicht hatten sie bei wem und wie lange? Halbwegs genaue Antworten darauf lassen sich nur sehr schwer ermitteln, zumindest nicht mit der synthetischen Konstruktion von zwei Wahrnehmungsmustern, so wichtig diese in der politischen Kultur der Bonner Republik auch gewesen sein mögen. Die Debatten über und die Aktionen gegen die Notstandsgesetze in den sechziger Jahren sind ein herausragendes Beispiel für eine Mischung von Orientierung an autoritären Restbeständen (Notstand als Stunde der Exekutive), radikaldemokratischer Kritik und ans Hysterische grenzender Polemik. Das Ergebnis aber war schließlich ein durchaus akzeptables Produkt. Michael Schneider hat die Entwicklung dieses bedeutsamen Konflikts und seine Veränderungen bereits 1986 in seiner gründlichen und differenzierten Studie analysiert („Notstand der Demokratie?“). Diese wichtige Arbeit taucht aber nicht einmal im Literaturverzeichnis auf.

Schletters Ergebnisse sind aus meiner Sicht nicht sonderlich überraschend. Als ein allgemeines Fazit formuliert der Autor, dass die beiden meist konträr sich gegenüberstehenden Gefahrenwahrnehmungen immerhin darin übereinstimmten, „dass der Glaube in die Wehrhaftigkeit der Demokratie getrübt war“, weil man fürchtete, Demokratie werde nur so lange akzeptiert werde, „wie sie reibungslos funktioniere und wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand bereitstelle“ (S.362). Wieweit solche Generalisierungen für den gesamten Untersuchungszeitraum tragen, lässt sich kritisch diskutieren. Ebenso lässt sich aus meiner Sicht der methodische Zugang in Frage stellen. Zwischen den Wahrnehmungsmustern der beiden Presseorgane gab es doch ein relativ breites und auch nach Themen und Zeitpunkt variierendes Spektrum von Meinungen und Einstellungen, die aus diesem Set herausfallen. Zudem waren die ausgewählten Untergangs- und Angst-Szenarien von sehr unterschiedlicher Relevanz. Versucht man gar über zeitliche Phasen hinaus ansatzweise auch nach Generationen, sozialer Schichtung oder Regionen zu differenzieren, wird es noch komplizierter als ohnehin. Zwar kommen einschränkende Hinweise im Text häufig schon vor, aber eben nur am Rande und nicht im Konzept. Man kann etliche der Debatten der jeweiligen Zeit mit Staunen, Aha-Effekten oder auch Erschrecken zur Kenntnis nehmen, weil viel interessantes Material hier wiedergegeben wird. Wirklich überzeugt hat mich der Ertrag im Verhältnis zum Aufwand nicht.

Schwer erträglich aber sind der hölzerne Stil sowie unklare oder kuriose Formulierungen. So ist an einer Stelle vom „damaligen Bundeskanzler Friedrich Wilhelm IV.“ die Rede (S. 236). Auch an grammatischen Fehlern mangelt es nicht (zum Beispiel S. 229, 242, 362). Verlags-Lektoren sind wohl mittlerweile eine Seltenheit, aber etwas mehr Sorgfalt hätte dieses nicht uninteressante Thema schon verdient!

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