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Titel
Catholic Modern. The Challenge of Totalitarianism and the Remaking of the Church


Autor(en)
Chappel, James
Erschienen
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
$ 35.00; £ 25.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Große Kracht, Exzellenzcluster "Religion und Politik", Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der Katholizismus gilt gemeinhin nicht gerade als Katalysator von Fortschritt und Moderne. Auch wenn die Zeiten vorbei sind, in denen die historische Forschung hierzulande das kirchliche Milieu vor allem als Bastion im Kampf gegen Liberalisierung, Demokratie und Meinungsfreiheit wahrnahm, haftet dem Katholizismus als Gegenstand zeithistorischer Forschung weiterhin das Odium des Behäbig-Rückwärtsgewandten an, eines Reliktes, das sich lediglich sperrig in das Selbstverständnis moderner Gesellschaften einfügen lässt. Die katholische Kirche ist an der Persistenz dieses Bildes nicht unschuldig, zog sie doch mit einer programmatischen Kampfansage an den „Modernismus“ als die „Quintessenz aller Glaubensirrtümer“ (Pius X.) in die Weltanschauungskämpfe des 20. Jahrhunderts. Gleichwohl waren es in nicht unerheblichem Maße katholische Kräfte – vor allem in Gestalt christdemokratischer Parteien –, die zur politischen und gesellschaftlichen Modernisierung Europas nach 1945 beitrugen. Angesichts der allgemeinen Entkirchlichungsprozesse seit den späten 1960er-Jahren gerät dieser Beitrag heute leicht in Vergessenheit.

James Chappel, Assistant Professor of History an der Duke University, setzt sich zur Aufgabe, die verkürzt antagonistische Sicht auf das Verhältnis von Religion und Moderne zu überwinden. Er fragt danach, welche Vorstellungen sich Katholikinnen und Katholiken im Verlauf des 20. Jahrhunderts von einer gesellschaftlich-politischen Rahmenordnung machten, die sowohl zentrale Errungenschaften der politischen Moderne respektieren sollte – die Trennung von Staat und Kirche, die Achtung der Menschenrechte und den Schutz der Privatsphäre – als auch den Gläubigen und ihren Wertorientierungen eine Heimstatt bieten konnte. Seine Ergebnisse gewinnt Chappel dabei weniger durch eine Auslegung der einschlägigen päpstlichen Verlautbarungen zum Thema Staat und Gesellschaft als vielmehr durch eine dichte Rekonstruktion zentraler Denkansätze katholischer Intellektueller – vor allem Laien, Männer wie Frauen – aus Frankreich, Deutschland und Österreich in den Jahren zwischen 1920 und 1970. Darunter finden sich bekannte Namen wie Jacques Maritain und Joseph Höffner, aber auch eher unbekannte Gestalten wie die österreichische katholische Frauenaktivistin Mina Wolfring oder der französische Gewerkschaftsintellektuelle Paul Vignaux. Insgesamt 15 katholische Intellektuelle aus dem deutsch-französischen Sprachraum hat Chappel für seine Untersuchung ausgewählt: jeweils eine französische, eine deutsche und eine österreichische Stimme pro Kapitel bzw. behandeltem Problemzusammenhang. Da Chappel die Autorinnen und Autoren nicht monographisch herausstellt, sondern sie vielmehr als Knotenpunkte unterschiedlicher diskursiver Zusammenhänge und personaler Netzwerke untersucht, entsteht ein dichtes Bild katholischer Denkbewegungen im 20. Jahrhundert, das sich durchgängig auf der Höhe heutiger ideen- und intellektuellengeschichtlicher Forschung bewegt. Die Darstellung verliert sich dabei keineswegs im philologischen Detail, sondern wird über die idealtypische Herausarbeitung von zwei unterschiedlichen katholischen Modernekonzepten – dem „Paternal Catholic Modernism“ einerseits und dem „Fraternal Catholic Modernism“ andererseits – systematisch stringent zusammengehalten.

Bevor sich diese beiden Ansätze des katholischen Modernediskurses im Verlauf des 20. Jahrhunderts artikulieren konnten, so Chappel, mussten zunächst der katholische Antimodernismus sowie die damit einhergehende diskursive Gegenüberstellung von Moderne und Katholizismus binnenkonfessionell überwunden werden. Der katholische Antimodernismus habe sich in den 1920er-Jahren vor allem in zwei Spielarten artikuliert: zum einen in einem dezidierten „Neomedievalism“, welcher die Moderne durch die Orientierung an einem idealisierten Mittelalterbild zugunsten der Wiedererrichtung einer Einheit von Kirche und Staat zurückzudrängen versuchte, zum anderen in einem „Ultramodern Catholicism“, welcher insbesondere die liberal-kapitalistische Ordnung durch neue – sozusagen nachmoderne – Integrationsmodelle der katholischen Soziallehre und anti-relativistische Wertlehren (Max Scheler) zu überwinden trachtete. Erst die Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen führte katholischerseits zu einem differenzierten Bild von der Moderne, das nun zumindest teilweise in die dominanten katholischen Ordnungsentwürfe Eingang fand.

Als Katalysator hierfür wirkte vor allem der fundamentale Antikommunismus der katholischen Kirche seit Ende der 1920er-Jahre. War vorher der Liberalismus der zentrale weltanschauliche Gegner gewesen, so wurde der Antipode nun zunehmend im Kommunismus gesehen, der als Bedrohung der gewachsenen christlichen Ordnung des „Abendlandes“ empfunden und perhorresziert wurde. Die Haltung gegenüber dem Faschismus sowie dem Hitler-Regime war hingegen wesentlich ambivalenter, sodass Teile des neueren katholischen Modernediskurses durchaus mit Sympathien für illiberale Formen der politischen Moderne einhergehen konnten. Im Fokus der ideengeschichtlichen Schwellensituation des katholischen Modernediskurses der 1930er-Jahre stand dabei die Orientierung an den Rechten der Familie, welche besonders durch die Enzyklika Casti Connubii („Über die christliche Ehe im Hinblick auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen und Bedürfnisse von Familie und Gesellschaft und auf die diesbezüglich bestehenden Irrtümer und Missbräuche“, 1930) in das Zentrum katholischer Ordnungsentwürfe gerückt wurde. Zum einen bedeutete dies, dass in sozialpolitischer Hinsicht vom Staat spezielle Maßnahmen zur Unterstützung von Familien eingefordert wurden, zum anderen aber auch, dass die Familie vor staatlichen Zugriffen geschützt werden müsse. Mit diesem, wie Chappel es bezeichnet, „Paternal Catholic Modernism“ vollzogen Kirche und Katholizismus eine deutliche Hinwendung zum Prinzip der Trennung von Staat und Kirche sowie zur Akzeptanz von Schutzrechten der Privatsphäre. Die Maxime Pius’ XI., dass die Familie höher stehe als der Staat, wurde zum zentralen Ankerpunkt des katholischen Ordnungsdenkens, das sich seitdem sowohl in die Tradition eines überkonfessionellen Menschenrechtsdiskurses einreihen als auch den Schulterschluss mit autoritären Staaten üben konnte, sofern diese – wie etwa der österreichische Ständestaat oder das französische Vichy-Regime – genau solche Familienwerte in den Mittelpunkt ihrer Propaganda stellten.

Der „Paternal Catholic Modernism“ blieb, so Chappel, bis in die 1950er-Jahre innerhalb des katholischen Denkens dominant und trug erheblich zum Erfolg der europäischen Christdemokratie während der späten 1940er- und der 1950er-Jahre bei. Demgegenüber blieb die Seitenlinie des von Chappel so benannten „Fraternal Catholic Modernism“, der sich ausgehend von Jacques Maritain und anderen Vordenkern des katholischen Personalismus stärker an der liberalen Menschenrechtstradition orientierte und auf die Integrationskräfte einer grundsätzlich pluralistisch angelegten Zivilgesellschaft vertraute, im katholischen Denken dieser Jahre minoritär. Wenn überhaupt, dann wirkte er weniger über seine binnenkonfessionelle Kritik an undifferenzierten Feindbildern (Kommunismus) und rassistischen Stereotypen (Judentum) als über sein wesentlich liberaleres Verständnis von Ehe und Familie, das im Anschluss etwa an Arbeiten des Philosophen Dietrich von Hildebrand diese Lebensform nicht mehr allein auf den Zweck der Nachkommenschaft ausrichtete, sondern der „Gattenliebe“ und damit der ehelichen Heterosexualität stärker Geltung verschaffte. Aber auch der auf die kinderreiche Kleinfamilie zentrierte „Paternal Modernism“, welcher in der christdemokratischen Sozial- und Wirtschaftspolitik der späten 1940er- und 1950er-Jahre seinen Zenit erreichte, büßte im Verlauf der 1960er-Jahre seine konfessionelle Integrationskraft zunehmend ein, wie nicht zuletzt die vehementen binnenkatholischen Proteste gegen die sogenannte Pillen-Enzyklika Humanae Vitae („Über die rechte Ordnung der Weitergabe menschlichen Lebens“) zeigten, mit welcher Papst Paul VI. 1968 sämtliche Formen der künstlichen Empfängnisverhütung für Katholikinnen und Katholiken zu verbieten suchte. Anders als im „Fraternal Modernism“ der 1930er-Jahre fehlte jedoch eine intellektuelle Gestalt wie diejenige Jacques Maritains, welche die verschiedenen Reformversuche des katholischen Binnendiskurses hätte zusammenbinden können.

Ob sich in den Verlautbarungen und Gesten von Papst Franziskus, wie Chappel auf den letzten Seiten seines Buches andeutet, Traditionen des „Fraternal Modernism“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts erneut Geltung verschaffen, sei dahingestellt und muss hier nicht diskutiert werden. „Catholic Modern“ ist ein Buch, das einen wichtigen Beitrag zur Intellectual History Westeuropas im 20. Jahrhundert leistet und sowohl in methodischer als auch in begrifflicher Hinsicht Maßstäbe setzt. Nach der Lektüre wird man Chappel nur zustimmen können: „Catholic modernism has been a force for good, and a force for evil, but above all it has been a force that mattered.“ (S. 258)