J.-M. Kötter u.a. (Hrsg.): Gallische Chroniken

Cover
Titel
Gallische Chroniken. Ediert, übersetzt und kommentiert


Herausgeber
Kötter, Jan-Markus; Scardino, Carlo
Reihe
Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike G 7/8
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
XXXVI, 264 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, München

Dieser Band aus der mittlerweile sechs Bände (zwei weitere erscheinen in diesem Jahr) umfassenden Reihe „Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike“ bietet eine neue Edition, eine Übersetzung und einen Kommentar zu den bislang wenig erforschten Gallischen Chroniken von 452 und 511. Der Aufbau entspricht dem der Vorgängerbände: Auf das Vorwort (S. V) und das Abkürzungsverzeichnis (S. IX–XXXVI) folgen die Edition der Gallischen Chronik von 452 (S. 1–176) mit Einleitung (S. 3–40), Text und Übersetzung (S. 41–75) sowie Kommentar (S. 77–176) und die Edition der Gallischen Chronik von 511 (S. 177–264) mit Einleitung (S. 179–196), Text und Übersetzung (S. 197–211) sowie Kommentar (S. 213–264).

Zunächst einige Worte zu diesen vermutlich nur wenigen Spezialisten bekannten Texten auf Basis der Einleitungen: Der Autor der Chronik von 452 lässt sich nur aus dem Werk selbst erfassen. Sein geographischer Fokus liegt auf Südgallien (er schrieb wohl im unteren Rhônetal), während er für Ereignisse in anderen Gebieten chronologische Ungenauigkeiten aufweist; selbst für das übrige Gallien zeigt er wenig Interesse. Dennoch ist die Chronik nicht als ‚Nationalgeschichte‘ konzipiert. Der Autor interessiert sich für das Mönchstum, war aber nicht zwingend selbst ein Mönch. Seine Chronik, eine von 379 bis 452 reichende Fortsetzung des Hieronymus, wurde wohl kurz nach 452 abgeschlossen. Das Werk hat einen pessimistischen Grundtenor – wenngleich mit der Hoffnung auf eine Restabilisierung der Verhältnisse –, folgt dem Vorgängerformat strenger als die meisten anderen Chroniken und weist bis 447 immer wieder Datierungsfehler auf. Das stark negative Barbarenbild ist durch die Gleichsetzung von (auch heidnischen) Barbaren mit Arianern, die der Chronist als Hauptgefahr ansieht, bedingt. Die Quellen der Chronik sind nicht sicher zu bestimmen, allerdings werden mehrere Autoren (etwa Ambrosius, Sulpicius Severus und Augustinus) erwähnt. Wahrscheinliche Vorlagen sind Rufinus, die Narratio de imperatoribus domus Valentinianae et Theodosianae und eine nicht identifizierbare Ausgabe von Konsularannalen, wohingegen der Chronist das Werk seines Zeitgenossen Prosper Tiro, von dem er sich auch in seiner Gedankenwelt stark unterscheidet, nicht gekannt zu haben scheint. Die früheste nachweisbare Benutzung liegt mit der Chronik von 511 vor; ab dann erfreut sich die Chronik von 452 großer Beliebtheit, wie die etwa 40 Handschriften bezeugen. Bei zwei weiteren Herrscherlisten, die zusammen mit der Chronik überliefert sind, handelt es sich wie bei der handschriftlichen Zuschreibung der Chronik an Prosper um spätere Interpolationen. Der Wert der Chronik liegt neben dem gebotenen Sondergut vor allem in der dezidiert gallischen Perspektive auf die Ereignisse der Völkerwanderung und in der Stellungnahme zum Verhältnis zwischen Reich und Kirche, die der Chronist als untrennbar miteinander verbunden ansieht.

Die Chronik von 511 ist zwischen 511 und 733, vermutlich aber im frühen 6. Jahrhundert entstanden. Über den Verfasser lässt sich nur sagen, dass er ein in Südgallien (wohl nahe Arles) schreibender Katholik war; die handschriftliche Zuweisung der Chronik an Sulpicius Severus ist ein späterer Irrtum. Die von 379 bis 511 reichende Fortsetzung des Hieronymus geht auf eine unbekannte chronistische Quelle mit vergleichsweise guten Informationen zurück und konsultiert daneben für die Zeit bis 452 als Quellen die Chronik von 452, die Chronik des Hydatius und das Werk des Orosius und weist gemeinsame Vorlagen mit einigen anderen Chroniken auf; der aus Hieronymus stammende Teil der Chronik ist mit zusätzlichen Einträgen aus bekannten Quellen angereichert und erweitert. Der Wert der Chronik ist gering, da nur ein Eintrag Sondergut aufweist und es sich um ein weitgehend kompilatorisches Werk handelt, das kein in sich geschlossenes Geschichtsbild entwickelt. Inhaltlich bietet der Chronist vor allem dynastische Informationen; den barbarischen Völkern, insbesondere den Westgoten, wird relativ breiter Raum zugestanden, kirchengeschichtliche Nachrichten fehlen hingegen weitgehend. Insgesamt handelt es sich um ein Mittelstück zwischen einer vollständigen Chronik und einer reinen Herrscherliste. Die Chronik ist nur in einer erhaltenen und einer verschollenen Handschrift überliefert.

Die Aspekte, die an dieser Ausgabe positiv bzw. negativ zu beurteilen sind, decken sich im Wesentlichen mit dem, was bereits über die in derselben Reihe erschienene Edition der Chronik des Prosper Tiro geäußert wurde.1 Text, Übersetzung und Kommentar sind als Forschungsbeitrag wie als Arbeitsinstrument gelungen und stellen die grundlegenden Werke zu den jeweiligen Chroniken. Die überschaubare Literatur ist praktisch vollständig berücksichtigt.2 Die Edition ist nicht nur in fachlicher Hinsicht3, sondern auch sonst sehr sorgfältig gearbeitet.4 Kritisch ist dagegen wie bereits zuvor das Fehlen des Registerteils anzumerken. Zu dem in Vorbereitung befindlichen Online-Auftritt, der wie auch die E-Book-Fassung einen Ersatz zum Register darstellen soll (S. V), verweise ich auf die bereits erwähnte Rezension zu Prosper Tiro. Vielleicht wäre ein nach Abschluss der Reihe zu publizierender Gesamtregisterband eine Option, Namen und Sachbegriffe besser zu erschließen. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Auslassung der modifizierten Hieronymuschronik (S. 189), die der Chronik von 511 vorangeht. Der geringe historische Wert des Textes kann kein Argument dafür sein, da das auch für die späteren Passagen gilt. Umgekehrt wären aus diesen Partien Informationen über die Quellen des Chronisten und den Umgang mit seinen Vorlagen zu entnehmen. Zudem wird im Kommentar gerade darauf hingewiesen, dass die beiden Teile eine Einheit bildeten (S. 190 und 218). Aber selbst wenn sich eine Edition der früheren Partien nicht gelohnt hätte, wäre es zumindest sinnvoll gewesen, in einem eigenen Kapitel einen eingehenden Vergleich anzustellen, aus dem hervorgeht, wie genau der Chronist seine Vorlage bearbeitete. Da die Chronik von 452 an einen vollständigen Text des Hieronymus angehängt ist (S. 25), wobei allerdings nicht sicher zu sein scheint, ob dies dem Chronisten selbst zuzuschreiben ist, erübrigt sich das in diesem Fall hingegen.

Von einigen kleineren Kritikpunkten abgesehen bietet die bewährte Reihe somit wieder ein unverzichtbares Standardwerk, das für zwei bislang kaum berücksichtigte Quellen eine (fast) vollständige Erarbeitung bedeutet. Wer sich mit der spätantiken Chronistik, dem Blick der Zeitgenossen auf die Völkerwanderung oder der Geschichte Galliens im 5. Jahrhundert befasst, wird den Band mit großem Gewinn nutzen.

Anmerkungen:
1 Raphael Brendel, Rezension zu: Maria Becker / Jan-Markus Kötter (Hrsg.), Prosper Tiro, Chronik. Laterculus regum Vandalorum et Alanorum. Ediert, übersetzt und kommentiert. Paderborn 2016, in: H-Soz-Kult, 10.10.2016, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26381 (29.05.2018).
2 Lediglich bei den Ausgaben antiker Texte fehlen manchmal neuere und teilweise bessere Werke: Agnellus (Nauerth), Anonymus Valesianus II (König), Cassiodors Chronik (Klaassen), Chronicon Paschale (Whitby / Whitby), Jordanes’ Getica (Möller), Rutilius Namatianus (Wolff). Helms Ausgabe der Chronik des Hieronymus (S. XVII) liegt noch in einer (jedoch nur unwesentlich ergänzten) dritten Auflage von 1984 vor; was S. XVII als zweite Auflage von Hohls Edition der Historia Augusta von 1965 zitiert wird, ist tatsächlich die dritte (die zweite erschien 1955); bei Olympiodor (S. XIX) und Priskos (S. XX) wären die Seitenangaben nachzutragen. Im Literaturverzeichnis findet sich die nachahmenswerte Praxis, bei publizierten Qualifikationsschriften auch Ort und Jahr des Einreichens anzugeben, was aber bei Übereinstimmen der Orte nur verkürzt (Baumgart, Lütkenhaus, Scharf) und oft gar nicht angegeben wird (Brennecke, Busch, Demandt, Kulikowski, Lepper, Matthews, McLynn, Muhlberger, Van Nuffelen). Bei der Literatur waren nur unwesentliche Fehlstellen zu ermitteln: Richard W. Burgess, Chronicles, consuls, and coins, Farnham 2011, Nr. XII (Nachdruck von Burgess 1993/94 mit Addenda am Schluss des Bandes); Brian Croke, Christian chronicles and Byzantine history, 5th–6th centuries, Aldershot 1992, Nr. III (Nachdruck von Croke 1983 mit Addenda am Schluss des Bandes); Klaus M. Girardet, Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike, Bonn 2009, S. 419–454 (Nachdruck von Girardet 1974); Moses I. Finley (Hrsg.), Studies in ancient society, London 1974, S. 304–320 (Nachdruck von Thompson 1952); Helmuth Schneider (Hrsg.), Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der römischen Kaiserzeit, Darmstadt 1981, S. 29-47 (deutsche Übersetzung von Thompson 1952). Das Buch von Matthews über die „Western aristocracies“ erschien 1990 in einer ergänzten Neuauflage; bei dem Buch von Maenchen-Helfen über die Hunnen hätte noch auf das englische Original (1973) verwiesen werden können.
3 Ergänzungen zum Kommentar: S. 85, Anm. 2 hätte für den Konsul von 386 noch auf Roger S. Bagnall u.a., Consuls of the later Roman empire, Atlanta 1987 verwiesen werden können. Mit einer Bauinschrift des Eugenius, die auch den Namen seiner kaiserlichen Kollegen führt (S. 100, Anm. 3), befasst sich Thomas Grünewald, Arbogast und Eugenius in einer Kölner Bauinschrift. Zu CIL XIII 8262, in: Kölner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte 21 (1988), S. 243–252. Zum Usurpator Johannes (S. 141) ließe sich noch der Eintrag in der Prosopographie von Hans C. Teitler, Notarii and exceptores, Amsterdam 1985, S. 143 mit S. 293, Anm. 174 ergänzen. Auf S. 149f. zu 109 wird nicht gefragt, warum der Chronist Placidia als regina bezeichnet. Einige weitere Hinweise auf neuere Literatur bietet die in Anm. 1 zitierte Rezension. Wenn hingegen S. 237 der Tod des Vandalenkönigs Gunderich daemone correptus nicht diskutiert wird, liegt das vermutlich daran, dass diese Diskussion in der Edition des Hydatius, von dem die Chronik hier nur abschreibt, erfolgen wird.
4 Druckfehler sind ausgesprochen selten: S. IX „Prosopgraphie“; S. XXVIII (Hahn 2006b) „2006“ (richtig „2008“); S. XXXII „464“ (richtig „364“); S. 15: „niederzuschlagen, und“ (richtig „niederzuschlagen und“); S. 57 (50) „übertrat<,> um“; S. 63 (81) „begonnen<,> sich“; S. 99 „volljährigen, Kaisers“ (richtig „volljährigen Kaisers“); S. 233 „wir“ (richtig „wird“); S. 247 „Wandalen“ (statt sonst „Vandalen“); S. 263 „Holder Egger“ (richtig „Holder-Egger“).

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