P. Bődy: Science Policies in Hungary (1867–1910)

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Titel
Science Policies in Hungary (1867–1910) and the First Generation of Distinguished Scientists.


Autor(en)
Bődy, Pál
Reihe
Wissenschaftsgeschichte 4
Erschienen
Wien 2017: LIT Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Endre Kiss, Universität Eötvös, Budapest

Pál Bődys historisch-analytische Übersicht realisiert in ihrem recht knappen Umfang sehr wichtige Zielsetzungen: Bearbeitet wird ein knappes halbes Jahrhundert der ungarischen Wissenschaftspolitik (1867–1910), welches auch mit einer bedeutsamen Periode der ungarischen Geschichte zusammenfällt. Der privilegierte Charakter dieser Jahrzehnte leitet sich aus dem Schwung der ersten Folgeperiode des Ausgleichs von 1867 her, aus der Dynamik der europäischen individualistisch-positivistischen Moderne, aus den sprunghaft gestiegenen wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten des neuen Binnenmarktes und aus der Konsolidierung Ungarns durch die wachsende Annäherung der einstigen 1848er und 1867er sowie aus der gelungenen jüdischen Emanzipation.

Diese positive Entwicklung wurde jedoch stets auch von inneren Kritikern begleitet und diese hatten auch nachvollziehbare Argumente. Dennoch sollte das angedeutete Gesamtbild keineswegs als rein apologetisch angesehen werden. Es ist ein Teil dieser Problematik, dass die großen politischen Veränderungen auch die Gesamtbewertungen der einzelnen historischen Zeitalter nicht unberührt ließen. Es scheint, dass die große Wende nach 1989 daher keine relevanten Veränderungen mehr in der Bewertung des Gesamtbilds dieser Jahrzehnte vornehmen musste. Nach dem Tiefpunkt der 1850er-Jahre (im politischen Vokabular „Willkürherrschaft” genannt) und angesichts der effektiven Modernisierungsleistungen setzte sich die Einstellung durch, dass Ungarn, auch als Teil von Österreich-Ungarn und Europa, zu einem wertvollen und kreativen Land in der damaligen Gesamtzivilisation geworden sei.

Pál Bődys Monographie gibt eine Übersicht über die Wissenschaftspolitik dieser Jahrzehnte. Das Bewusstsein über die Bedeutung, sogar auch die Legenden über diese Wissenschaftspolitik gelten mittlerweile schon als Teil der kollektiven Erinnerung. Dennoch ist Bődy in der Lage, in seiner Studie konkrete neue Einsichten darzulegen, mithilfe derer das Gesamtbild weiter differenziert werden kann. Eine Folge der ungarischen politischen Kultur der „Ausgleichszeit” (die ihrerseits eine Folge des Reformzeitalters der 1830er- und 1840er-Jahre war) bestand darin, dass die Wissenschaftspolitik stets vom „Kultusminister” dirigiert wurde, der in den großen Fußstapfen von József Eötvös (1813–1871) auch ein Intellektueller mit breiter Bildung, mit Anpassungsfähigkeit und mit diplomatischem Können gegenüber den Kirchen sowie nach Möglichkeit mit eigenem wissenschaftlichem und literarischem Werk sein sollte. Dass dieses Rollenbild in späteren Jahrzehnten immer mehr zum Mythos und Wunschbild wurde, ist wenig überraschend. Aber auch der mythologische Held hat Alltagssorgen: Vor allem war es die Aufgabe des Kultusministers, dem Parlament die notwendigen Ressourcen für die Wissenschaftspolitik zu entlocken. József Eötvös selbst scheint auf den ersten Blick auch auf diesem Gebiet relativ erfolgreich gewesen zu sein, obwohl, wie Bődy nachweist, sowohl er als auch seine Nachfolger viele größere Projekte häufig verschieben mussten, weil die Ressourcen erst verspätet zur Verfügung gestellt wurden.

In der vorliegenden Studie wird die Wissenschaftspolitik der Minister József Eötvös, Antal Csengeri, Ágost Trefort und Gyula Wlassits dargestellt, als fünfter kommt in praktischer Gleichberechtigung auch noch József Eötvös’ Sohn Loránd (Roland) hinzu, ein berühmter Physiker und Geologe, nach dem heute die staatliche Budapester Universität benannt ist. Es stört jedoch einigermaßen den Aufbau der Arbeit, dass Albert Apponyi als Kultusminister der letzten Jahre des Untersuchungszeitraums beinahe gänzlich übergangen wird, obwohl seine Übereinstimmungen mit und Abweichungen von der Eötvös-Linie von einiger Relevanz gewesen sind. Alle vier (bzw. fünf) Kultusminister praktizierten eine spezifische ministeriale Kultur, deren strukturelle und symbolische Bedeutung auch dadurch gesteigert wurde, dass diese tief in die 1830er- und 1840er-Jahre zurückreichte und dadurch auch eine merkwürdige organische Kontinuität repräsentierte.

Bődys Monographie rekonstruiert die aufeinanderfolgenden Etappen dieser ministerialen Politik. Im Vordergrund seines Interesses stehen die tatsächlich umgesetzten organisatorischen Maßnahmen, vor allem die Geschichte der einzelnen Universitätsgründungen. Dieses Konzept einer historischen Rekonstruktion stellt Bődy aber auch in einen eher aktualisierenden Rahmen: Er fokussiert auf den Gedanken der Exzellenz der Universitäten und der Wissenschaftler. Diese Idee verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit in der Welt der unter Finanzierungsschwierigkeiten leidenden Universitäten. Vergleiche der jeweiligen „Exzellenz” greifen um sich, wobei selbstverständlich alle Betroffenen auf die Richtigkeit ihrer eigenen Bewertung pochen (wie derartige Vergleiche in der Welt eines Professors oder eines Studenten nachvollziehbar überprüft werden können, bleibt freilich für immer ein Geheimnis). Bődy huldigt in seiner Arbeit diesem Trend; er bestimmt das ganze erste Kapitel, und auch im letzten Kapitel kommt der Verfasser darauf zurück und bezieht in diesen Rahmen auch Wissenschaftler ein, deren Aktivitäten über die vier Jahrzehnte des Untersuchungszeitraums hinausreichen.

Das erste Kapitel nennt 38 herausragende ungarische Wissenschaftler, wodurch auch suggeriert wird, dass ihre Laufbahnen mehr oder weniger direkt ein Produkt der dargestellten Wissenschaftspolitik seien. Nun besteht dieser Zusammenhang zwar teilweise (auch als Legende kann diese Wissenschaftspolitik weiteren Legenden das Leben schenken), die Monographie geht aber auf eine detaillierte Darstellung desselben nicht ein und kann das im gegebenen Umfang auch gar nicht leisten. So scheint es doch eher geboten zu sein, das bewertende Attribut der Exzellenz anderen (vor allem späteren) Betrachtern zu überlassen, anstatt es in künstlich hergestellten Wettbewerben aktuell in der Gegenwart erzwingen zu wollen.

Der in den USA lebende Pál Bődy ist einer der produktivsten Forscher von József Eötvös und seiner Zeit nach 1945.1 In dieser Periode galten nach István Sőtér in Ungarn vor allem Béla G. Németh und seine pädagogischen Forschungen und Schüler als bestimmend. Dank dieser Autoren ist der Ausgleich und der Dualismus in der Kultur- und Ideengeschichte Ungarns eines der am gründlichsten erforschten Gebiete. Bődy stützt sich vor allem auf die Ergebnisse der Geschichte der Erziehung und des Schulwesens, auf die Analyse der parlamentarischen Prozeduren und auf die Rekonstruktion der kulturpolitischen Aktivitäten, die glücklicherweise nicht nur im Lebenswerk eines „Kultusministers” ein „synchrones” kohärentes Ganzes ausmachten, sondern auch im „diachronischen” Nacheinander einen sinnvollen Zusammenhang bildeten. Es heißt, dass die späteren organisatorischen Schritte von Loránd Eötvös sich nahtlos in die Konzepte der früheren „Kultusminister” einpassten. Kein Wunder also, dass dieses wissenschaftspolitische Werk so eine eindeutig ganzheitliche Gestalt aufweist.

Bődy trägt mit seinem Opus auch Relevantes zur intellectual history Ungarns in jener Zeit bei. Als Elemente der rekonstruierten wissenschaftspolitischen Strategie sind vor allem die neuen und „vollen” Universitäten anzusehen, die im internationalen Maßstab auf dem Niveau ihrer Zeit waren (wobei die Kriterien dafür sehr elegant und gänzlich ohne die Zuhilfenahme von „Exzellenz” bestimmt werden), die sorgfältige Begabtenförderung (vor allem durch gezielte Stipendien – nur wenige Leute blieben damals dauerhaft im Ausland) und durch Wettbewerbe, vor allem in der Mathematik, die bis heute praktisch kontinuierlich weitergeführt werden und gut funktionieren; weiters die grundlegende Erneuerung der Gymnasialbildung (bis heute ein Vorbild für viele Bildungspolitiker) und die Gründung wissenschaftlicher Zeitschriften. Nicht zu vergessen ist die Gründung der ungarischen Ecole Normale Superieure, des Eötvös-Kollegiums. Dazu kommen noch die Gestaltung der vielfältigen Formen der Zusammenarbeit der Universitäten mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, den zahlreichen Gesellschaften für Forscher und Lehrer und das System der Supervision im Unterricht oder die Referendarschulen. Später folgten noch die Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen für Frauen (an den Universitäten ab 1899) und vor allem unter Minister Gyula Wlassits um die Wende zum 20. Jahrhundert die stärkere Berücksichtigung des Grundschulwesens und damit verbunden der Provinz.

Bődy legt darüber hinaus großes Augenmerk auf die Darstellung der Entstehung der großen Universitäten (Budapest, Kolozsvár/Cluj, Technische Universität Budapest, bzw. die Medizinischen Universitäten in Budapest und Kolozsvár/Cluj). Dabei wird jedoch auch ersichtlich, dass dieses System im Prinzip auch schon die Grundlagen seiner eigenen Überwindung in sich trug.

Anmerkung:
1 Vgl. Pál Bődy, Joseph Eötvös and the Modernization of Hungary, 1840–1870: A Study of Ideas of Individuality and Social Pluralism in Modern Politics, in: Transactions of the American Philosophical Society 62/2 (1972), S. 1–134.

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