F. Spöring: Mission und Sozialhygiene

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Titel
Mission und Sozialhygiene. Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus, 1886–1939


Autor(en)
Spöring, Francesco
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sina Fabian, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Francesco Spöring hat für seine Arbeit, die auf einer Dissertation an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich basiert, mit der Schweizer Anti-Alkoholbewegung einen zentralen Akteur im internationalen Kampf gegen den Alkohol gewählt. Die Schweiz galt als Vorreiterin der deutschsprachigen Anti-Alkoholbewegung. So wurde etwa das „Blaue Kreuz“, eine protestantische Anti-Alkoholorganisation, 1877 in der Schweiz gegründet. Dort befindet sich auch der Hauptsitz des „International Bureau Against Alcoholism“ (IBAA, heute „International Council on Alcohol and Addictions“). Spöring nimmt mit der evangelischen Baseler Missionsgemeinschaft zum einen eine religiös geprägte Vereinigung in den Blick. Zum anderen widmet er sich mit Sozialhygieniker/innen einer Gruppe, die Abstinenz aus „rationalen“ und nach eigener Auffassung sowie in Abgrenzung zur kirchlichen Anti-Alkoholbewegung nicht aus moralischen Gründen propagierten. Auch auf diesem Gebiet waren die Schweizer/innen im deutschsprachigen Raum führend. Prominente Vertreter wie Auguste Forel und Gustav von Bunge waren sowohl als Wissenschaftler als auch als prominente Verfechter der Abstinenz weit über die Grenzen der Schweiz bekannt.

Spörings Anspruch ist es, sich nicht nur auf die Anti-Alkoholbewegung in der Schweiz zu konzentrieren, sondern vornehmlich ihre transnationalen Verflechtungen sowie die kolonialen Bezüge im Kampf gegen den Alkohol zu untersuchen. So setzt er sich zum Ziel, „koloniale Denkmuster“ und „transnationale Medikalisierungsbestrebungen“ in den Blick zu nehmen. Dabei profitiert er von der regen Publikationstätigkeit der organisierten Alkoholgegner/innen. Neben einigen archivalischen Quellen hat er vor allem zahlreiche Veröffentlichungen und Zeitschriften der Schweizer Alkoholgegner/innen ausgewertet.

Im ersten Kapitel zeichnet Spöring die Entwicklung der alkoholgegnerischen Vereinigungen in der Schweiz und ihre internationalen Bezugspunkte im 19. und frühen 20. Jahrhundert nach. In diesem Kontext geht er auch auf die „Internationale Konferenz gegen den Alkoholismus“ ein, die 1925 in Genf stattfand. Ausführlich werden in diesem Kapitel zudem die Akteurskollektive vorgestellt. In ihrem Selbstverständnis unterschieden sich die Baseler Mission, die in Westafrika ein Haupttätigkeitsfeld besaß, und die Sozialhygieniker/innen, die auf vermeintlich wissenschaftlicher Basis gesellschaftliche Steuerungstechniken mit Eugenik verbanden, fundamental. Dennoch stellt Spöring bei beiden einen ausgeprägten Internationalismus fest.

Den Hauptteil der Arbeit macht die Untersuchung der Anti-Alkoholdiskurse der genannten Gruppierungen aus. Die zahlreichen unterschiedlichen Diskursstränge bündelt Spöring in drei Großkapiteln. Im Kapitel „Rhetorik der Freiheit“ unterscheidet Spöring, den Quellen folgend, zwischen „äußerer“ und „innerer“ Selbstbestimmung. Während das Äußere mit „Tier“ und „Leib“ assoziiert wurde, war das Innen mit „Mensch“ und „Geist“ verknüpft (S. 125). Die Baseler Mission kritisierte in diesem Sinne die vermeintliche Neigung zur „Sinnlichkeit“ der Afrikaner/innen, die sich nicht nur im Alkoholkonsum ausdrücke, sondern auch in einem konstatierten Hang zum Tanzen und Musizieren. Kritik erfuhren außerdem norddeutsche Händler, die minderwertigen Alkohol in die Kolonien exportierten und so die vermeintlich willensschwachen Afrikaner/innen zum Trinken verleiteten. Noch stärker als Europäer würde die afrikanische Bevölkerung einer „Genussucht“ frönen. Diese sei wiederum eine Bedrohung für die „innere Freiheit“. (S. 155f.) In diesem Punkt zeigen sich Parallelen mit der Argumentation der Sozialhygieniker/innen. Auch sie betonten die Bedeutung des freien Willens zur Leistungsfähigkeit, der durch den Konsum von Alkohol und durch andere Vergnügungen wie Glücksspiele eingeschränkt werde. Die häufig dem Sozialismus nahestehenden Sozialhygieniker/innen verbanden die Freiheit vom Alkohol mit der Chance auf den Gewinn politischer Freiheiten. Ihre Kritik trug oft antikapitalistische Züge, so würden Arbeiter/innen durch das „Alkoholkapital“ klein gehalten und an politischer Mitbestimmung gehindert.

Das folgende Kapitel befasst sich mit der „Rhetorik der Natürlichkeit“. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde Alkoholkonsum zumeist als negative Begleiterscheinung der Industrialisierung gesehen. Ausgehend von Friedrich Engels Beschreibungen der britischen Arbeiterklasse wurde Alkohol häufig als ein Instrument zur Realitätsflucht der Arbeiter/innen beschrieben, ein Gebrauch, der jedoch ihr Elend noch verstärke. Die „Alkoholfrage“ schien demnach zentral, wenn es um die Beseitigung sozialen Elends ging. Insbesondere Branntwein wurde als „unnatürlich“ gebrandmarkt, da hochprozentiger Alkohol nicht durch natürliche Gärungsprozesse entstand. Bei den Sozialhygieniker/innen stand vor allem die durch den Alkoholkonsum vermeintlich bedingte „Degeneration“ im Vordergrund. In diesem Kontext fanden eugenische Argumente ihre größte Ausprägung. Um den „Volkskörper“ zu retten, erschien es einigen sogar legitim, Alkoholabhängige zu sterilisieren. Bezugnehmend auf Charles Darwins Evolutionstheorie war zudem die Annahme verbreitet, dass Afrikaner/innen gegenüber dem Alkohol weniger widerstandsfähig und deshalb gar vom Aussterben bedroht seien. Bei der Baseler Missionsgemeinschaft waren explizit sozialdarwinistische und biologistische Sichtweisen zwar weniger verbreitet, doch auch dort herrschte das Bild vor, dass Afrikaner/innen nicht maßhalten könnten.

Im vierten Kapitel, das sich mit der „Rhetorik der Wirklichkeit“ befasst, stellt Spöring die auf vermeintlich wissenschaftlichen Grundlagen fußenden Wirklichkeitsansprüche der Sozialhygieniker/innen heraus. Diese untermauerten mit Statistiken den Einfluss des Alkohols unter anderem auf Produktivität, Sterblichkeit, Unfälle, Kriminalität und kindliche Entwicklung. Auch der Missionsarzt Rudolf Fisch bediente sich in Westafrika sozialhygienischen Wirklichkeitsbezügen. Er berief sich dabei explizit auf den Sozialhygieniker Gustav von Bunge. Fisch stellte, so Spöring, jedoch eine Ausnahme dar. Er forderte totale Abstinenz und griff dabei teilweise auch explizit auf Degenerationsargumente zurück, während die anderen Baseler Missionare mäßiges Trinken propagierten, schon alleine, da das Abendmahl ohne Messwein kaum vorstellbar war.

In einem Schlusskapitel widmet sich Spöring noch einmal explizit seinen zwei Leitmotiven „koloniale Denkmuster“ und „transnationale Medikalisierungsbestrebungen“. Anders als es die Kapitelüberschrift „Schlussbetrachtung“ nahelegt, handelt es sich dabei allerdings nicht nur um ein Fazit der Studie. Vielmehr untersucht Spöring seine zwei Hauptthesen anhand von Quellen und Sekundärliteratur noch einmal konzise auf knapp 20 Seiten. Dies ist sinnvoll, da beide Stränge in den vorherigen Untersuchungskapiteln nicht durchgängig verfolgt wurden.

Spöring zeigt mit der Auswertung der zahlreichen alkoholgegnerischen Schriften, dass das Thema Alkohol in Bezug zu einer großen Vielzahl gesellschaftlicher Aspekte diskutiert wurde. Er nimmt in den Hauptkapiteln deshalb auch Themen in den Blick, die in einem vornehmlich schweizerischen oder westeuropäischen Kontext verhandelt wurden, etwa in den Unterkapiteln „Gleichberechtigung und Nüchternheit“ und „Unreine Städte: Überbevölkerung, Schmutz und Prostitution“. Zwar gab es in den untersuchten Zeitschriften durchaus eine Vielzahl transnationaler Bezüge, indem etwa Argumente nicht-schweizerischer Alkoholgegner/innen abgedruckt wurden. Allerdings lassen sich aufgrund dessen noch keine umfassenden transnationalen Netzwerke erkennen, wie Spöring sie in seiner Einführung definiert. (S. 16f.) Dass diese gleichwohl existierten, beweisen die anti-alkoholgegnerischen internationalen Kongresse. Diese untersucht Spöring jedoch eher am Rande (etwa S. 108–121).1 Die transnationalen Vernetzungen, in denen Schweizer Akteur/innen eine zentrale Rolle spielten, kommen erst im Schlusskapitel wieder vor. Ähnlich verhält es sich mit kolonialen Bezügen in den Anti-Alkoholdiskursen, dem zweiten zentralen Thema der Studie. Beim Lesen erhält man den Eindruck, dass, anders als Titel und Ausrichtung der Studie es suggerieren, koloniale Bezüge in nur geringem Maße vorkamen und nationale Bezugspunkte wesentlich wichtiger waren – was Spöring mehrfach selbst betont (etwa S. 317; 328).

Überzeugend ist hingegen der dritte zentrale Befund der Studie, dass sich die Anti-Alkoholdiskurse und -argumente der Sozialhygieniker/innen und der Baseler Missionsgemeinschaft bei Weitem nicht so stark unterschieden, wie bei ihren gegensätzlichen Grundeinstellungen zu erwarten gewesen wäre. Spöring zeigt, dass sich beide Richtungen normativer Argumente bedienten, die Nächstenliebe, Askese sowie das „Denken in langfristigen Zeithorizonten“ gemeinsam hatten. (S. 332f.) Er zeigt jedoch auch die bestehenden Unterschiede auf, wobei sich weder die Baseler Missionsgemeinschaft noch die Sozialhygieniker/innen mit den Positionen der Gegenseite intensiv auseinandergesetzt zu haben scheinen.

Obwohl die Vielzahl von disparaten Diskursen über die Stellung und Gefahren von Alkohol in der Gesellschaft ihre Analyse sehr schwer machen, gelingt es Spöring, diese unter große, verschieden ausdeutbare „Container“-Begriffe wie „Freiheit“, „Natürlichkeit“ und „Wirklichkeit“ zusammenzufassen und zu untersuchen. Zu fragen bleibt allerdings, ob dem Titel entsprechend Transnationalität und koloniale Bezüge tatsächlich die zentralen Analysestränge des Buches sind. Hingegen ist es das Verdienst der Studie, dass sie mit Sozialhygieniker/innen und kirchlichen Akteur/innen die beiden zentralen Strömungen gemeinsam untersucht, die Ende des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die bestimmenden Kräfte im Kampf gegen den Alkohol waren. Spöring setzt wichtige Impulse zur weiteren Erforschung des Themas, das zukünftig noch stärker transnational untersucht werden sollte.

Anmerkung:
1 Mark Lawrence Schrad, The Political Power of Bad Ideas. Networks, Institutions, and the Global Prohibition Wave, New York 2010; Johan Edman, Temperance and Modernity. Alcohol Consumption as a Collective Problem, 1885–1913, in: Journal of Social History 49 (2015), H. 1, S. 20–52.