K. Hinrichsen: Erfindung der Ziemia Lubuska

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Titel
Die Erfindung der Ziemia Lubuska. Konstruktion und Aneignung einer polnischen Region 1945-1975


Autor(en)
Hinrichsen, Kerstin
Reihe
Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europe 5
Erschienen
Göttingen 2017: V&R unipress
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mateusz Hartwich, Berlin

Nun sind also die Regionen dran… Nachdem die nationalen Traditionen (Eric Hobsbawm) und ganze Epochen dekonstruiert wurden, hat Kerstin Hinrichsen die „Erfindung“ einer westpolnischen Region zum Thema gemacht. Zugegeben, die „Ziemia Lubuska“ macht es der Historikerin vermeintlich leicht – kannte doch dieses Gebilde vor 1945 kaum jemand – und auch nach der Übernahme durch Polen in Folge des Zweiten Weltkriegs taten sich die meisten Menschen, inklusive eines Großteils der neuen Bewohner, sehr schwer mit der Identität des sogenannten Lebuser Landes. So gesehen ist das Territorium zwischen Frankfurt (Oder), Gorzów und Zielona Góra ein „dankbarer“ Fall für eine kulturwissenschaftliche Dekonstruktion. Um es vorweg zu nehmen, Hinrichsen meistert diese Aufgabe, und liefert eine überzeugende Fallstudie zur Aneignung einer Region nach 1945.

Die vorliegende Publikation geht zurück auf Hinrichsens Dissertation aus dem Jahr 2015, entstanden an der Universität Siegen unter der Leitung von Claudia Kraft und Robert Traba. Die Arbeit gliedert sich in fünf Hauptkapitel und einen Ausblick. Zunächst wird die Konstruktion der Ziemia Lubuska unmittelbar nach 1945 beschrieben, anschließend werden zentrale Aspekte wie das Geschichtsbild, ein neuer Regionalismus, die Herausbildung eines akademischen Umfelds und als Spezialthema der Tourismus untersucht. Und das Ganze auf erfreulich kompakten gut 300 Seiten. Lediglich die visuelle Seite kommt dabei etwas kurz, hätte man sich doch bei der „Erfindung“ einer Region mehr Analyse zur Bildsprache gewünscht. Die enthaltenen sechs Karten und sechs Wappen bzw. Logos lassen bedauerlicherweise an Kontextualisierung und Druckqualität etwas zu wünschen übrig. Insgesamt fokussiert sich die Studie stark auf das Schrifttum mit gelegentlichen Exkursen zur „angewandten Geschichte“, der Inszenierung von Tradition im öffentlichen Raum.

Aber was ist die Ziemia Lubuska und wenn ja, wie viele? Der Verweis auf das historische Land Lebus, seit 20 Jahren eine Verwaltungseinheit (Wojewodschaft) der Republik Polen, trägt nur bedingt, wie Hinrichsen im ersten Kapitel präzise herausarbeitet. Das mittelalterliche Bistum Lebus, die frühneuzeitlichen Gebiete der Mittelmark und Neumark, und die Ziemia Lubuska, wie sie nach 1945 entstand, überlappen sich an vielen Stellen, sind aber keineswegs identisch. Dabei werden unterschiedliche geographische und historische Schichten häufig vermengt, zum Teil sehr bewusst. Anhand zeitgenössischer Zitate kann Hinrichsen immer wieder aufzeigen, dass sich die Protagonisten bis heute der historischen Bezüge bedienen, um ihr Konstrukt zu rechtfertigen.

So weit, so bekannt. Was den Fall recht einzigartig macht, ist die Tatsache, dass die Ziemia Lubuska als real existierende territoriale Einheit zwar mit historischen Identitäten „unterfüttert“ wurde, aber ihren Daseinszweck im nicht unerheblichen Maße aus dem Bedarf nach einer Region bezog. Ein „Land“ zwischen Niederschlesien, Großpolen (Posen) und West- bzw. Hinterpommern wurde nach 1945 gebraucht. In der Regel stellten die Gebiete, die an Polen fielen, historische Regionen mit definierten Grenzen dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihr polnischer Charakter narrativ hergestellt, insbesondere durch (Über-)Betonung bestimmter Aspekte in der Geschichte, etwa der Verbreitung slawischer Nachnamen. Die Ziemia Lubuska musste hingegen als territoriale Einheit neu zusammengesetzt werden und gleichzeitig wurde dieser Neuschöpfung eine polnische Vergangenheit „erfunden“ (S. 66). Bis heute scheint sich diese historische Narration in den Köpfen nicht festgesetzt zu haben – Hinrichsen zitiert Umfragen, wonach die heutige Wojewodschaft für ihre Bewohner weiterhin ein „Land ohne Eigenschaften“ bleibt. Die Konstruktion scheint sich im Bewusstsein der dritten und vierten Generation der Nachkriegsbewohner noch nicht festgesetzt zu haben, was auch an den wiederholten Verwaltungsreformen lag (S. 276).

Sehr anschaulich beschreibt Hinrichsen, mit welchen Mitteln und auf welchen Ebenen die „Erfindung“ vonstattenging. Es wurde nicht nur ein Geschichtsbild konstruiert und verbreitet, sondern auch eine regionale Folklore, Märchen und Symbole. Dankenswerterweise belässt sie es nicht dabei, die Konstruktion darzustellen, sondern benennt auch Akteure und geht auf ihre Motivation ein. So war der jahrelange Einsatz regionaler Aktivisten für eigene Hochschulen, wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen oder Zeitschriften nicht nur Ausdruck authentischen Engagements, sondern auch partikularer Interessen (S. 305f.) und des Bedarfs nach Legitimation für existierende Institutionen (insbesondere das Museum des Lebuser Landes/ Muzeum Ziemi Lubuskiej). An mehreren Stellen wird auch der Wunsch nach Emanzipation gegenüber der Zentrale, nach Eigenständigkeit von der westpolnischen Metropole Poznań und nach Abgrenzung von den (west-)deutschen Bildern der Region angesprochen, wobei der letzte Aspekt etwas mehr Raum verdient hätte. Gänzlich ausgespart wird bedauerlicherweise die Frage, ob es mit der Öffnung der Grenze zur DDR 1972 zu einer Änderung des Selbstbildes kam. Da hätte Hinrichsen an bestehende Forschungen durchaus anknüpfen können.1

Die Fokussierung auf den Tourismus als Querschnittsphänomen, das Selbst- und Fremdbilder, die wirtschaftlich-infrastrukturelle Entwicklung der Region und praktische Fragen der Aneignung zu analysieren hilft, birgt großes kulturwissenschaftliches Potential. Dieses Kapitel in Hinrichsens Arbeit beschränkt sich jedoch weitestgehend auf die Wiedergabe bekannter Argumente und Schlussfolgerungen. Die Problematik regionaler Souvenirs respektive ihres Fehlens im volkspolnischen Fremdenverkehr ist vom Rezensenten ausführlich analysiert worden.2 Hinrichsen belässt es hierbei beim singulären Verweis auf eine zeitgenössische Zeitungsveröffentlichung (S. 248). Ihre Studie hätte ferner von einer stärkeren Einbeziehung internationaler Forschungen zur touristischen Konstruktion von Regionen profitiert. In der vorliegenden Version scheint dieses Kapitel etwas isoliert vom Rest des Buches und ist auch das kürzeste.

Zu erwähnen wäre auch die Frage der Sprache. In allen Publikationen, die ehemals deutsche Orte und Regionen im heutigen Westpolen untersuchen, stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Ortsbezeichnungen in beiden Sprachen. Dabei ist die Entscheidung eines jeden Autors zu respektieren, allerdings ist die von Hinrichsen gewählte Methode etwas umständlich – sie verzichtet auf deutsche Bezeichnungen der Orte in der Region, bedient sich aber der deutschen Entsprechungen für Orte und Regionen in anderen Teilen Polens. Ansonsten sollte aber auf die sorgsame Redaktion hingewiesen werden, inklusive der polnischen Namen und Zitate (mit wenigen Ausnahmen). Hinrichsen manövriert sehr geschickt durch das Dickicht der zeitgenössischen Termini und begeht nicht den Fehler des Anachronismus, etwa bei der Analyse des Regionalismusbegriffs in der Volksrepublik.

Abschließend lässt sich feststellen, dass Kerstin Hinrichsen mit „Die Erfindung der Ziemia Lubuska“ eine gelungene Fallstudie vorgelegt hat. Mit ihrer gewählten Methodik und der Auswahl ihrer Quellen betritt sie dabei kaum Neuland, dennoch hat sie die Forschung zu Aneignungsprozessen in den ehemals deutschen Ostgebieten, die in Folge des Zweiten Weltkriegs an Polen fielen, um eine weitere regionale Analyse bereichert. Es wäre Hinrichsen zu wünschen, dass ihre Studie auch jenseits von lokalen Aktivistenkreisen rezipiert wird und eine intensive Auseinandersetzung mit den von ihr angesprochenen Einzelaspekten anstößt.

Anmerkungen:
1 Dagmara Jajeśniak-Quast / Katarzyna Stokłosa, Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder)-Słubice, Guben-Gubin und Görlitz-Zgorzelec, Berlin 2000; Katarzyna Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, Guben – Gubin 1945–1995, Berlin 2003.
2 Mateusz J. Hartwich, Das schlesische Riesengebirge. Polonisierung einer Landschaft nach 1945, Köln 2012, S. 159–162.

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