S. Dmitriev: The Birth of the Athenian Community

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Titel
The Birth of the Athenian Community. From Solon to Cleisthenes


Autor(en)
Dmitriev, Sviatoslav
Erschienen
Abingdon 2018: Taylor & Francis
Anzahl Seiten
XV, 392 S.
Preis
£ 115.00; € 122,59
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anja Pfeiffer, Institut für Geschichtswissenschaften, Abteilung für Alte Geschichte, Universität Bonn

Sviatoslav Dmitriev untersucht in dieser Monographie die Entwicklung der athenischen Gesellschaft im sechsten Jahrhundert v.Chr. Zeitlich spannt er den Bogen von den Reformen Solons, den er als den eigentlichen Geburtshelfer der Athenian Community betrachtet, bis zu den Reformen des Kleisthenes, der die solonischen Ansätze weiterführte und vollendete. Diese zeitliche Einteilung beruht auf der Beobachtung, dass in diesem Zeitraum wichtige soziale und politische Entwicklungen erfolgten. Der Autor mahnt in der Einleitung (1–12) zu einer kritischen Verwendung späterer Quellen, die jüngere Vorstellungen retrospektiv auf frühere Zeiten übertrugen sowie vor einer unreflektierten Übertragung moderner Konzepte, insbesondere das des modernen Bürgerrechts, auf antike Gegebenheiten. Abgesehen davon gibt er keine Hinweise auf sein methodisches Vorgehen.

Im Kontrast zu älteren Forschungsbeiträgen, die eine lineare Entwicklung der athenischen Gesellschaft und ihre dualistische Einteilung in Bürger und Nicht-Bürger postulierten, betont Dmitriev die „rising complexity“ der Gesellschaft, „that evolved into a multidimensional social fabric“ (9). Sie sei vornehmlich durch drei, sich nur teilweise überdeckende, soziale Gruppen organisiert worden, die Dmitriev als kinship community, legal community und political community bezeichnet. Das Buch gliedert sich dementsprechend in drei Teile, die jeweils eine der drei communities behandeln und schließt mit sechs Appendices zu kleineren Themenkomplexen.

Im ersten Teil (13–91) behandelt Dmitriev die kinship community, ihre Einrichtung durch Solon sowie ihre Organisation und Prinzipien. Das Fundament seiner Argumentation bildet ein zur bisherigen Forschung konträres Verständnis der sozialen Gruppe der astoi in Athen. Entgegen der traditionellen Definition als Bürger oder „full residents“ will Dmitriev astoi vornehmlich als exklusive Gruppe verstehen, die sich durch eine gemeinsame Abstammung definierte, und grenzt sie von den polites ab, während ein Teil der Forschung beide Begriffe als synonyme Bezeichnungen für athenische Bürger versteht.1 Ihr besonderer Status habe auf dem exklusiven Recht der enktesis (Erwerb unbeweglicher Güter) basiert und sei die Voraussetzung für den Zugang zu lokalen Organisationen, wie den Phratrien oder gene gewesen. Auch die durch engye (der Hochzeit vorausgehender Rechtsakt zwischen Bräutigam und Vormund der Braut) geschlossene Ehe, die Bedingung für die Legitimität der Nachkommen war, habe auf dem Recht der enktesis beruht. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung vertritt Dmitriev die These, dass das solonische Gesetzeswerk, und insbesondere das Familienrecht, exklusiv die Belange der astoi behandelten. Durch die Trennung der legitimen (gnesioi) von den illegitimen Nachkommen (nothoi), wobei letztere vom Erbrecht ausgeschlossen wurden, und die Schaffung einheitlicher Regularien für die astoi hätte Solon die kinship community homogenisiert und gegen andere Bevölkerungsteile abgegrenzt.

Im zweiten Teil (93–167) fokussiert Dmitriev auf die legal community. Zu der Unterscheidung von astoi und „non-astoi“ (und von gnesioi und nothoi) fügt Dmitriev die zwischen polites und „non-polites“ hinzu. Für die astoi, die ihren Status durch ihre rechtmäßige Geburt innehatten, führt der Autor die Bezeichnung polites by nature ein. Die legal community habe neben diesen noch eine zweite Gruppe umfasst, die Dmitriev als polites per decret bezeichnet. Darunter versteht er Personen, die politeia in Form bestimmter Rechte zuerkannt bekommen haben, also nicht durch Geburtsrecht besaßen. Ihnen wurde unter anderem das Recht der enktesis verliehen, womit sie ähnliche legale und soziale Rechte besaßen wie die astoi. Allerdings hatten sie keinen Zugang zur kinship community und ihren Organisationen, wie Phratrien oder gene. Da sie jedoch engye-Ehen auch mit astoi eingehen konnten, konnten ihre Nachkommen als gnesioi Mitglieder der kinship community werden. Dmitriev betont, dass die politeia nicht mit „Bürgerrecht“ gleichzusetzen sei, da sie auch Rechte und Pflichten beinhaltet, die über das Bürgerdasein hinausgingen. Daneben hätten bestimmte Personengruppen, die ausdrücklich zu den astoi oder polites per decret gehörten, wie Frauen und Kinder, keine politischen Rechte besessen. Demnach sei es falsch, polites mit „Bürger“ zu übersetzen. Erst im Lauf des 5. Jahrhunderts sei politeia vornehmlich mit politischen Rechten verbunden und gleichgesetzt worden.

Im dritten Teil (169–253) nimmt Dmitriev schließlich die political community in den Blick, die diejenigen Personen umfasste, die politische Rechte in Athen besaßen. Zur solonischen Zeit waren diese, auch innerhalb der astoi, ungleich verteilt. Die Teilnahme an der Volksversammlung sowie die Betätigung als Richter standen zwar allen männlichen, erwachsenen astoi frei, die Besetzung bestimmter Ämter beschränkte sich jedoch auf die höheren Schatzungklassen. Erst im Zuge der kleisthenischen Reformen erhielten zumindest die männlichen, erwachsenen astoi dieselben politischen Rechte. Dmitriev betont, dass der Zugang zu politischen Rechten unter verschiedenen politischen Regimen variieren konnte. Während unter der Tyrannis der Peisistratiden beispielsweise deren Parteigänger, auch wenn sie nicht zu den astoi gehörten, politische Rechte erhielten, wurden diese unter den Dreißig Ende des 5. Jahrhunderts auf eine geringe Zahl wohlhabender astoi beschränkt. Politeia in Form von sozialen, legalen und zum Teil politischen Rechten wurde insbesondere in militärischen oder politischen Krisenzeiten vergeben, sodass auch polites per decret zu der political community gehören konnten. Die wiederholt in Athen durchgeführten diapsephismoi zielten laut Dmitriev darauf ab, zu gewährleisten, dass nur Personen rechtmäßiger Abstammung politeia by nature besaßen, und wurden oft nach Phasen besonders freizügiger Vergabe von politeia durchgeführt. Da politische Rechte mit der Mitgliedschaft in bestimmten sozialen Organisationen wie Phratrien, Demen oder gene verbunden waren, wurden im Zuge der diapsephismoi die Mitgliedslisten überprüft und unrechtmäßige Mitglieder ausgeschlossen.

Dmitriev kommt zu dem Ergebnis, dass der individuelle Status einer Person in Athen sehr unterschiedlich sein konnte. Eine Person konnte mehreren communities und sozialen Organisationen angehören, die jeweils einen bestimmten Aspekt ihres Status reflektierten. Solon habe als erster den exklusiven Status der kinship community festgeschrieben, indem er ihren Mitgliedern, den astoi, dieselben sozialen und legalen Rechte gab. Kleisthenes habe diese Politik fortgeführt, indem er ihnen dieselben politischen Rechte gab und sie im neugeordneten Demensystem organisierte.

Dmitriev bietet einen neuen Ansatz zur Zusammensetzung und Interpretation der athenischen Gesellschaft, mit dem er sich von der bisherigen Forschung auf diesem Feld abgrenzt. Seine Ausführungen weisen allerdings einige methodische und inhaltliche Probleme auf: Neben dem Fehlen einer klaren methodischen Vorgehensweise muss insbesondere die häufig fehlende Quellenkritik und -analyse moniert werden. Dmitriev kommt nur selten über eine bloße additive und deskriptive Behandlung der Quellen hinaus und neigt zu ihrer Über- und Fehlinterpretation zugunsten seiner These. Beispielsweise interpretiert er das solonische Erbtochterrecht vornehmlich als Regularium zur Aufrechterhaltung und Stärkung der kinship community. Dies ist an sich nicht falsch, doch verliert Dmitriev darüber die primäre Zielsetzung des Erbtochterrechts aus dem Blick, nämlich die Vermittlung des Erbes und insbesondere die Fortführung des oikos des Verstorbenen, dessen ordnungsgemäße Bestattung und Verehrung nach dem Tod durch den Erben.2 Darüber hinaus ist es fraglich, ob das geringe Quellenmaterial aus dem sechsten Jahrhundert v.Chr. so weitreichende Schlüsse, wie Dmitriev sie zuweilen daraus zieht, abstützen kann. Zumindest für die Verleihung von politeia gibt es keine direkten Belege aus dieser Zeit, wie Dmitriev selbst zugibt (95). Die Argumentation des Autors fußt immer wieder auf kleineren und größeren Sachfehlern, Fehlinterpretationen und Ungenauigkeiten. Eine weitere Schwäche ist die inflationäre Einführung von Bezeichnungen für die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. So werden die eigentlichen Protagonisten des Buches, die rechtmäßig geborenen Athener mit exklusivem sozialen, legalen und zum Teil politischen Status wahlweise als astoi, kinsmen oder polites by nature bezeichnet, was zur anfänglichen Verwirrung der Leserschaft beiträgt. Bisweilen neigt der Text zur übermäßigen Repetition, was die Lektüre etwas langatmig macht. Obgleich Dmitriev große Teile seines Werkes der Zusammensetzung der athenischen Gesellschaft widmet, macht er nirgends Angaben zur quantitativen Verteilung der Athener auf die verschiedenen sozialen Gruppen und enttäuscht in dieser Hinsicht die Lesererwartungen.

Positiv fällt dagegen der große Materialreichtum auf, insbesondere das umfangreiche Literaturverzeichnis (31 S.), das den Großteil der für das Thema relevanten Literatur umfasst und sich keineswegs nur auf englischsprachige Titel beschränkt. Zudem bietet der Autor einen umfangreichen Index, mit dem sich gut arbeiten lässt. Insgesamt bietet das Werk eine interessante neue Perspektive auf die athenische Gesellschaft und ihre Entwicklung im sechsten Jahrhundert, die jedoch aufgrund der beschriebenen Schwächen in einigen Teilen nicht ganz überzeugen kann.

Anmerkungen:
1 Zuletzt: Josine Blok, Citizenship in Classical Athens, Cambridge 2017, S. 162–172.
2 Winfried Schmitz, Nachbarschaft und Dorfgemeinschaft im archaischen und klassischen Griechenland, Berlin 2004, S. 231–233.

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