H. Hoebink u.a. (Hrsg.): Wir brauchen das Vereinte Europa!

Titel
Wir brauchen das Vereinte Europa!.


Herausgeber
Hoebink, Hein; Reul, Herbert
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Armin Heinen, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Europa ist nicht selbstverständlich, nicht mehr jedenfalls. Die Entscheidung zum Brexit stellt seit Juni 2016 vieles in Frage, zwingt zum Umdenken. Auf welchen Gewissheiten beruhte das Zukunftsvertrauen für die EU? Viele, auch ich, haben argumentiert, dass der Nationalstaat an seine Grenzen gestoßen sei; dass die Weltordnung durch Imperien bestimmt werde – oder eben durch Zusammenschlüsse, wie jene Europas; dass internationale Abkommen und Regimestrukturen allenfalls ein schwaches Surrogat darstellten für einen Staatenverbund sui generis, wie das Bundesverfassungsgericht die EU charakterisiert hat.

Viele Briten haben am 23. Juni 2016 den Sachverhalt ganz anders bewertet. Sie vertrauen dem klassischen Nationalstaat nach wie vor, und sie misstrauen der EU, weil sie entscheidungsschwach sei, weil sie Solidarität einfordert und weil sie Kompromisse verlangt. Sie vertrauen auf die Regelungsmacht des eigenen Staates, auch wenn die Welt immer stärker vernetzt ist. Sie setzen auf internationale Abkommen, auch wenn Trump „America first“ ruft. Sie empfinden den Sicherheitsschutz durch die NATO und die eigenen Atomwaffen als durchaus ausreichend, und sie glauben, auch nach dem Brexit Finanzzentrum der Welt bleiben zu können.

Thematisierten Integrationstheorien bis vor Kurzem das immer weitere Voranschreiten supranationaler Zusammenarbeit oder behandelten – nach Maastricht – aus demokratietheoretischer Sicht die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU, so haben heute Desintegrationstheorien Konjunktur. Offensichtlich nehmen die systembedrohenden Konflikte innerhalb der EU zu. Dem steht das entschlossene „Wir brauchen das Vereinte Europa!“ des hier zu besprechenden Werkes trotzig gegenüber.

Herausgegeben wurde das Sammelband von Hein Hoebink (bis zu seiner Emeritierung Jean-Monnet-Professor in Düsseldorf) und Herbert Reul (langjähriger Vorsitzender der CDU/CSU Gruppe im Europäischen Parlament, heute NRW-Innenminister). Auf 334 Seiten vereint der Band die Stellungnahmen von deutschen Politikern, Verbandsvertretern, Kirchen und Wissenschaftlern. Allerdings kommt kein Politikwissenschaftler zu Wort, kein Soziologe, auch kein Technikwissenschaftler. Nur zwei der Intervenienten stammen aus dem nichtdeutschsprachigen Ausland (Joseph Daul, französischer Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, und Fabrice Leggeri, französischer Direktor von Frontex).

Mit knapp 20 Euro ist der Band erfreulich preiswert, und er sollte denn auch in keiner geschichtswissenschaftlichen Institutsbibliothek fehlen. In einigen Jahren wird er als Quelle zur Diagnose der Zeit gelesen werden können, als europapolitisches Dokument für deutsche Hinsichten auf eine Epoche voller Ungewissheiten.

Die Beiträge sind alphabetisch geordnet, nach Namen. Allein dies zeugt bereits von den fehlenden Ordnungsvorstellungen in der Gegenwart, von der Offenheit des Jetzt und der Gleichgewichtigkeit der Stimmen. Hein Hoebink bietet einleitend zu jedem Aufsatz eine konzise Zusammenfassung, folgt aber in seinem Überblick der zerstückelnden Logik des Alphabets.

Wie sollte man sich dem Werk dann aber nähern? Vielleicht ist es keine schlechte Idee, mit dem Aufsatz von Guido Thiemeyer zu beginnen. Der Düsseldorfer Historiker fasst seine Thesen zur langfristigen Grundlegung der EU zusammen. Ältere Überlegungen von Wilfried Loth aufgreifend, fragt er nach den Motiven für die europäische Zusammenarbeit. Sie sieht er wie Loth in der Antwort auf die Anarchie des internationalen Staatensystems und auf die „Deutsche Frage“ sowie im Willen europäischer Selbstbehauptung, politisch und wirtschaftlich. Nur, dass alle diese Anforderungen bereits seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wirkmächtig wurden. Die EU ist in dieser Argumentation die konsequente Antwort auf langfristige Problemlagen moderner Staatlichkeit in Europa, so Guido Thiemeyer. Wir brauchen das Vereinte Europa als Konsequenz nichtimperialer Staatsstrukturen der innereuropäischen Moderne.

Rolf-Dieter Krause, langjähriger ARD-Korrespondent in Brüssel, würde diesen Ausführungen sicherlich zustimmen. Die Bilanz der EU, so stellt er fest, falle auf dem Felde der Friedenssicherung und der wirtschaftlichen Selbstbehauptung positiv aus. Doch warum steckt dann die EU in der Krise, warum hat sich die Öffentlichkeit von ihr teilweise abgewandt? Krause sieht die Ursache in der scheinbaren Selbstverständlichkeit der EU seit der Einheitlichen Europäischen Akte und der fehlenden Aufmerksamkeit der Politik für deren Existenzsicherung: So diene Brüssel immer wieder als Negativfolie, um von eigenen Fehlern abzulenken. In zahlreichen Feldern hätten Europas Politiker ihre Bürger überfordert, sie über die Konsequenzen von Entscheidungen im Unklaren gelassen. Drittens hielten sich die Verantwortlichen nicht an ihre eigenen Beschlüsse und zerstörten damit, was am wichtigsten sei, das Vertrauen in die Institutionen, das Wissen um die Wirksamkeit des Rechtsstaates. Statt als Hüter der Verträge verstehe sich die Kommission politisch, handele nach Opportunitätsgesichtspunkten und werde damit erpressbar.

Heinz-Dieter Smeets, Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf, geht den wirtschaftlichen Gründen für die EU nach und verweist auf die Vorteile des Binnenmarktes, indem dieser Warenangebote, Dienstleistungen, Personalausstattung und Kapitalverwendung optimiere. Freilich gelte das nur unter der Bedingung homogener Märkte. Indem Erweiterung und Vertiefung zugleich erfolgt seien, mussten die Konflikte zunehmen. An die Stelle funktionaler Aufgabenbewältigung trat das verzweifelte Streben, die Disparitäten im Innern zu verringern, mit allen dadurch verursachten politischen Konsequenzen und wirtschaftlichen Kosten.

Alle anderen Beiträge argumentieren hinsichtlich der Gegenwartsanalyse ähnlich. Frieden, Weltmitgestaltung, Wohlstandsgewinne, Sicherung der Menschenwürde, das seien zweifelsohne Leistungen des Vereinten Europas. Andere Aufgaben wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit, Eindämmung des Terrorismus, Steuerung der Migrationsbewegungen überforderten erkennbar die Nationalstaaten und seien ebenfalls nur gemeinsam zu lösen (Joseph Daul, Martin Dutzmann, Michael Gehler, Ulrich Grillo, Katrin Hatzinger, Norbert Lammert, Herbert Reul). Dumm freilich, dass viele Briten diesem Postulat nicht zu glauben vermochten und die EU eher als Verursacher denn als Lösung drängender Probleme der Gegenwart wahrnahmen.

Was sind die Gründe dafür? Reinhard Bütikofer sieht eine zunehmende innere Zerrissenheit der Gesellschaften, fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Im globalen Kräftegleichgewicht habe Europa an Bedeutung verloren. „Der EU“ sei „die Leitidee, das Ziel ausgegangen“. Andere wie Werner Hoyer oder Anskar Belke verweisen auf wirtschaftlich-strukturelle Faktoren: die Heterogenität des Wirtschaftsraumes, welche eine kohärente Politik erschwere, die differierenden wirtschaftspolitischen Überzeugungen in Europa, die Verknüpfung sachfremder Gegenstände zu Kompromissen mit der Folge suboptimaler Lösungen, die ineffizienten und fragmentierten Finanzmärkte und die chronische Investitionsschwäche, welche die Zukunftsfähigkeit Europas gefährdeten. Aus gewerkschaftlicher Sicht, so Reiner Hoffmann, habe Europa seine sozial-politische Handlungs- und Gestaltungsmacht in den Krisen der letzten Jahre leichtfertig vernachlässigt. Freilich entgegnet ihm dann von Unternehmerseite Arndt G. Kirchhoff, dass die sozialpolitische Übergriffigkeit der EU die Produktivität der Unternehmen durch überbordende Bürokratie schwäche, die Marktmechanismen aushöhle und gerade die wirtschaftlich aufholenden Staaten aus dem Osten und Süden benachteilige. Der Leser erhält so eine Idee von der Komplexität europäischer Interessenstrukturen, dabei werden weitgehend ja nur deutsche Sichtweisen reflektiert.

Welche Lösungsansätze sehen die Autoren? Von Neugründung sprechen wenige. Rainer Hoffmann fordert ein „soziales Europa“. Doch wieweit geht die Solidaritätsbereitschaft auf dem so heterogenen Kontinent wirklich? Wäre eine stärkere Parlamentarisierung eine angemessene Antwort (Jürgen Mittag, Manfred Weber, Jürgen Nielsen-Sikora)? Dem steht das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit entgegen. Sollte das Europa verstärkt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufgebaut werden (Alexander Proelß, Heinz-Dieter Smeets)? Damit würde die Heterogenität noch zunehmen, der Eindruck eines imperialen Gebildes entstehen und das Gleichheitsversprechen abgeschwächt werden.

Die meisten Autoren überlegen, wie sich Vertrauen zurückgewinnen lasse. Durch Transparenz! Durch Mut zur Ehrlichkeit! Durch Dialog! Durch Subsidiarität! Das sind die Antworten von Heinrich Hiesinger und Franz-Josef Overbeck. Doch lassen sich Erfahrungen aus Unternehmen (Thyssen-Krupp) und Kirche ohne weiteres auf Europa übertragen? Vielleicht läge eine Lösung darin zu fragen, wie die EU in der Vergangenheit Probleme erfolgreich bewältigt hat. Offensichtlich liegen ihre Chancen eher im Abbau von Hindernissen als im verbindlichen Aufbau neuer Interventionsinstrumente: Schengen hat die nationalen Grenzen eingeebnet und gleichzeitig keine überzeugende Lösung für die Außengrenzen gebracht. Das Verbot gesonderter Roaminggebühren war ein großer Erfolg. Da mussten zeitgleich keine neuen Strukturen aufgebaut werden. Die Europäische Union müsse liefern, meint Reinhard Bütikofer. Aber wie und was? Vielleicht, und darauf läuft die Argumentation der meisten Autoren hinaus, wäre es wichtig, sich erst einmal zu verdeutlichen, was die Stärken der EU sind, wo und wie sie erfolgreich agieren kann. Das führt zurück zu neueren politikwissenschaftlichen Überlegungen des Mehrebenensystems, der Konsensdemokratie und der Desintegrationstheorien. Hier wäre tatsächlich ein politikwissenschaftlicher Beitrag ein Gewinn gewesen. Immerhin, Heinrich Hiesinger und Franz-Josef Overbeck argumentieren ausgesprochen aufschlussreich – mit Luhmann. Und der ist mit seiner Systemtheorie für alle Formen von Systemen anregend – so, wie auch der vorliegende Band.

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