Titel
Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne


Autor(en)
Dreier, Horst
Erschienen
München 2018: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 26,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Gräf, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Man muss nicht gleich einen religious turn ausrufen, um in den Geisteswissenschaften ein wiedererstarktes Interesse an Religion zu konstatieren. "Glaubensfragen" gaben nicht nur das Motto des letzten Historikertags vor, sie beschäftigen auch ganze Exzellenzcluster. Und sie bestimmen vermehrt die politische Debatte in einer Gesellschaft, die wenige Themen so kontrovers diskutiert wie Kopftuchverbote, Kruzifixe in Klassenzimmern oder die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland – und damit immer wieder das rechte Verhältnis von Staat und Religion. Da lässt es aufhorchen, wenn nun mit Horst Dreier einer der renommiertesten Juristen des Landes – dazu einer, der einmal Bundesverfassungsrichter hätte werden sollen – ein Plädoyer für den säkularen Staat vorlegt.

"Staat ohne Gott" will "keine Streitschrift, sondern eine Analyse" sein (S. 10). Trotzdem müssen sich auf den gut 200 Seiten nicht nur mancher anerkannte Fachkollege, sondern mit Carl Schmitt, Jürgen Habermas und Hans Joas auch drei Generationen politischer Philosophie mitunter harsche Kritik gefallen lassen. Außerdem erklärt der Autor gleich zu Beginn apodiktisch, "daß der Staat in der modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie auf jede Form religiöser Legitimation zu verzichten hat und sich mit keiner bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren darf" (S. 9). Dreier stellt zwar klar, dass er damit nicht einer laizistischen oder religionsfeindlichen Position das Wort reden will: "Der säkulare Staat perhorresziert Religion nicht, ordnet sie aber der Sphäre der Gesellschaft zu" (S. 13). Dennoch dürfte ein so unmissverständliches Eintreten für eine Trennung von Politik und Religion weder unter Verfassungsrechtlern gänzlich unumstritten sein noch in der breiteren Leserschaft auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen. In sechs knappen, pointierten Kapiteln unternimmt der Autor daher den Versuch, seine Position historisch zu plausibilisieren und verfassungsrechtlich zu begründen.

Dreier klärt zunächst seine Terminologie, was vor allem meint: den Begriff der Säkularisierung. Während man in der Geschichtswissenschaft gegenwärtig dazu neigt, diesen als unbrauchbar zu verabschieden, tritt Dreier für eine "Skepsis gegenüber einer allseits verkündeten Widerlegung der Säkularisierungsthese" (S. 58) ein. Er legt überzeugend dar, weshalb ein differenzierter Säkularisierungsbegriff bei aller Einsicht in seine eurozentrische Provenienz und geographisch begrenzte Applizierbarkeit seine Erklärungskraft behält. Diese Klarstellung ist auch deshalb unterstützenswert, weil die Behauptung, mit zunehmender Modernisierung sei ein unvermeidlicher, universeller und linear verlaufender Bedeutungsverlust von Religion verbunden, wie sie die Gegner der Säkularisierungsthese deren Anhängern gerne unterstellen, heute von niemandem mehr ernstlich vertreten wird. Dass aber in Europa – und speziell in Deutschland – "seit Jahrzehnten nachhaltige Säkularisierungsprozesse im Sinne des Rückgangs von Kirchenzugehörigkeit, religiöser Praxis und religiöser Überzeugung" (S. 58) stattfinden, dürfte kaum zu bestreiten sein.1

Auch die im zweiten Kapitel erzählte "kurze Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit" versteht sich primär als auf Deutschland beschränkte Genealogie der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit. Wiewohl historisch gut informiert, handelt es sich um eine etwas vereinfachende Darstellung der bekannten Stationen (vom Augsburger Religions- und dem Westfälischen Frieden über die Paulskirchen- und Weimarer Verfassung bis zum Grundgesetz), die die religiösen Freiheitsrechte auf ihrem Weg "vom Staatsattribut zum subjektiven Recht" (S. 93) genommen haben. Für den Geschmack des Historikers ist hier freilich etwas zu oft von "entscheidenden Schritten", "Meilensteinen", "Durchbrüchen" und "zum Abschluss gekommenen Entwicklungen" die Rede (S. 63–94).

Die "Sinnmitte" des Buchs – so eine häufige Wendung des Autors – enthält dann das folgende dritte Kapitel: Hier erläutert Dreier die Konzeption des staatlichen Neutralitätsgebots und verteidigt es gegen vorgebrachte Einwände. Das Gebot der religiös-weltanschaulichen Neutralität findet sich im Grundgesetz nicht wörtlich, sondern ist ein Ergebnis der Heuristik des Bundesverfassungsgerichts, die Dreier hier fortschreibt. Demnach sind Staat und Religion in der Bundesrepublik nicht nur institutionell getrennt ("Es besteht keine Staatskirche", hält knapp der ins Grundgesetz übernommene Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung fest), es besteht auch ein Identifikations- und Privilegierungsverbot. Das Grundgesetz setzt auf "strikte Gleichbehandlung" aller Religionen und – wie der Autor nicht müde wird mitzuerwähnen – Weltanschauungen und ist insofern "privilegienfeindlich" (S. 100). Auch verzichtet der säkulare Staat begründungstheoretisch auf jegliche religiöse Legitimation: Wo politische Theoretiker (auch die der Aufklärung) jahrhundertelang in der Religion das Fundament sowohl der Moral als auch des Rechts sahen, baut der säkulare Staat "auf Legalität, nicht auf Moralität" (S. 101). Gesellschaftlichen Frieden und individuelle Freiheit sucht er – im Gegensatz zum frühneuzeitlichen Staatswesen – gerade nicht durch konfessionelle Homogenität, sondern durch die Zulassung von Glaubensvielfalt bei Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften zu garantieren. Insofern bildet die Neutralität des Staates für Dreier die "Kehrseite" der religiösen Individualrechte (so schon S. 9).

Dreiers nüchterne, auf die rationalen Grundlagen des Staatsrechts pochende Argumentation vermag zu überzeugen – auch in den beiden folgenden Kapiteln, wo er seine Konzeption gegen widerstreitende Positionen verteidigt. Dreier gelingt es hier darzulegen, weshalb der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes nicht im Widerspruch zum staatlichen Neutralitätsgebot stehen muss, das Erziehungsziel der "Ehrfurcht vor Gott" in mehreren Landesverfassungen aber durchaus. Er weiß das Neutralitätsgebot auch mit weitgehenden Konzessionen an den religionsverfassungsrechtlichen Status quo (etwa in Bezug auf den Religionsunterricht) in Einklang zu bringen, verwahrt sich aber gegen jede Form der Sakralisierung von Grundrechten oder gar der ganzen Verfassung: "Dieser säkulare Staat der Moderne bedarf keiner sakralen Aura und keines Mythos" (S. 168).

In der Verteidigung des so konzipierten säkularen Rechts- und Staatsverständnisses besteht die große Linie dieses kleinen Buchs: Dreier sucht das Eigenrecht der säkularen Neuzeit gegen die "in den letzten Jahren selbst in der Staatsrechtslehre erstarkend[e] Rede vom Heiligen und vom Mythos, vom Sakralen und vom Tabu" (S. 46) zu behaupten. Er wendet sich dazu zum einen gegen die Anhänger der These Carl Schmitts, wonach alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien – so etwa Josef Isensee, der die Grundlage der Menschenwürde allein im christlichen Glauben verorten will. Zum anderen wendet er sich gegen die Versuche einer Engführung von Christentum und Grundgesetz ("Das hat weder das Christentum verdient, noch ist damit unserer Verfassung gedient", S. 134) sowie gegen den Vorschlag Paul Kirchhofs, der Staat solle seine Förderung von Religionsgemeinschaften von deren ideologischen und kulturellen Adäquanz abhängig machen (in Dreiers Augen die "Axt" am Neutralitätsgebot, S. 128). Konsequenterweise lehnt er die Rede von der "Sakralisierung des Rechts" (Dietmar Willoweit) und das Aufspüren religiöser "Tiefenstrukturen" (Ulrich Haltern) im liberalen Staat ebenso ab wie Hans Joas' "affirmative Genealogie" der Menschenrechte, deren wackelige wissenschaftliche Absicherung er deutlich herausarbeitet.

Dass im Eifer des Gefechts auch Jürgen Habermas ins Visier der Kritik gerät, ist ebenso unverständlich wie unnötig, zumal der Eindruck entsteht, dass Dreier Habermas' Vorschlag, religiöse Argumente sollten im gesellschaftlichen Diskurs in säkulare Sprache übersetzt werden, bewusst missversteht, um ihn dann als exkludierend zu brandmarken und ausgerechnet Habermas vorzuwerfen, er wolle die Redefreiheit einschränken. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bleibt zudem zu monieren, dass den Aufklärungsbegriff zu stark vereinfacht, wer von der "ganz von der Sozialphilosophie der Aufklärung gespeiste[n] Französische[n] Revolution" (S. 151) spricht. Auch zur Reduktion der Menschenrechtsideen auf simple Produkte der "Naturrechtslehre der Aufklärung" (S. 150) hätte die Menschenrechtsgeschichte sicher das ein oder andere zu sagen.

Dennoch: "Staat ohne Gott" ist in einer so erfrischend klaren Sprache und schnörkellosen Argumentation geschrieben, dass man sich deren Überzeugungskraft nur schwer entziehen kann. Allein Dreiers Schlusskapitel hinterlässt beim Leser ein Fragezeichen. Es besteht aus einer historischen Einordnung und Diskussion des inzwischen wohl tatsächlich zur "Kreuzworträtselberühmtheit" (S. 189) aufgestiegenen Böckenförde-Diktums. Böckenförde geht bekanntlich davon aus, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren könne.2 Und Horst Dreiers kluges, wichtiges und in weiten Teilen überzeugendes Plädoyer für den vernunftbasierten, innerweltlichen, säkularen Staat? – Endet mit einem Loblied auf den "bleibenden Wert" des Diktums sowie der Feststellung, "daß es eines gesellschaftlichen ‚Surplus' bedarf" (S. 214), um ein freiheitliches politisches Gemeinwesen zu erhalten.

Anmerkungen:
1 Vgl. nur jüngst Rüdiger Otto / Detlef Pollack, Der religiöse Umbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Martin Schulte (Hrsg.), Politik, Religion und Recht (= Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 88), Berlin 2017, S. 83–114.
2 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation [1967], in: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, S. 42–64.

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