F. Lüttig u.a. (Hrsg.): Die letzten NS-Verfahren

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Titel
Die letzten NS-Verfahren. Genugtuung für Opfer und Angehörige – Schwierigkeiten und Versäumnisse der Strafverfolgung


Herausgeber
Lüttig, Frank; Lehmann, Jens
Reihe
Schriften der Generalstaatsanwaltschaft Celle 1
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Renz, Frankfurt am Main

Oskar Gröning muss seine Strafe nicht mehr antreten. Der zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilte einstige „Buchhalter von Auschwitz“1 ist am 9. März 2018 im Alter von 96 Jahren verstorben. Gnade vor Recht muss kein Politiker mehr walten lassen. Wie immer die politische Entscheidung ausgegangen wäre, sie hätte erneut Diskussionen über die letzten NS-Verfahren ausgelöst. Der Gröning-Prozess von 2015 vor dem Landgericht Lüneburg ist Gegenstand des Buches, für das Generalstaatsanwalt Frank Lüttig (Celle) und Oberstaatsanwalt Jens Lehmann (Hannover) als Herausgeber fungieren.

Ein „Meilenstein-Verfahren“2 leitete 2011 eine Änderung der Rechtspraxis der deutschen Justiz in Sachen NS-Verbrechen ein, obgleich der Demjanjuk-Prozess eigentlich „keine juristische Wende“ darstellte (Jens Rommel, S. 102). Das Landgericht München II verurteilte den vormaligen Trawniki-Mann John Demjanjuk wegen Mordbeihilfe zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. Der frühere Kriegsgefangene, der sein Leben durch Rekrutierung als SS-Hilfswilliger vor der massenmörderischen deutschen Wehrmacht hatte retten können, war 1943 einige Monate lang Wachmann im Vernichtungslager Sobibór gewesen. Rund 30 SS-Leute und 120 Trawniki-Männer ermordeten dort zwischen Frühsommer 1942 und Oktober 1943 circa 200.000 Juden.3 Das Gericht rechnete Demjanjuk die Opfer zu, die während seiner Dienstzeit getötet worden waren. Ein konkreter Tatbeitrag war ihm nicht nachzuweisen. Gemäß den allgemeinen Grundsätzen der Beihilfestrafbarkeit war dieser Nachweis auch nicht erforderlich. Bereits in den 1960er-Jahren hatten bundesdeutsche Schwurgerichte SS-Personal der Todeslager Chełmno, Bełżec, Sobibór und Treblinka wegen Mordbeihilfe verurteilt, obgleich den Angeklagten konkrete, individuell zurechenbare Tatbeiträge nicht nachzuweisen waren. Ihre Tätigkeit im Vernichtungslager, gleichviel, ob sie die Buchhaltung führten oder Baumaterial beschafften, wurde rechtlich als Hilfeleistung gewertet, als Förderung der im Lager verübten Haupttat: des Massenmords. Das Vernichtungsgeschehen bewerteten die Gerichte und der Bundesgerichtshof (BGH) als eine Tat. Die in diesen Prozessen zum Tragen gekommene Rechtsauffassung wurde vom BGH nie revidiert. Zugehörigkeit zum Vernichtungslagerpersonal war Beihilfe zum Mord.

Weil das Demjanjuk-Urteil diese ältere Rechtsauffassung reaktivierte, die von einer exkulpatorischen Justizpraxis jahrzehntelang verdrängt worden war, erinnerte sich die Zentrale Stelle in Ludwigsburg an eine Beschuldigtenliste, die die Grundlage für äußerst verspätet eingeleitete Vorermittlungen gegen Auschwitz-Personal wurde. Auf Blatt 122 fand sich der 1921 geborene, jüngst nun verstorbene einstige SS-Unterscharführer Oskar Gröning. Von September 1942 bis Oktober 1944 war er in der Abteilung Verwaltung mit dem Raub von Hab und Gut der Deportierten befasst gewesen. Die auf 1977 datierten Anschriften von Haupt- und Nebenwohnsitz Grönings machten die Suche nach ihm nicht allzu schwer, zumal der frühere SS-Mann nicht nur der Justiz, sondern auch der Öffentlichkeit längst als auskunftsfreudig bekannt war.

In dem überaus disparaten Sammelband kommen neben Prozessbeteiligten weitere Autoren zu Wort. Christoph Safferling (Erlangen/Nürnberg) zum „Versagen der Politik und der Justiz bei der Strafverfolgung von NS-Tätern“ und Jens Rommel (Zentrale Stelle) zur Geschichte der Vorermittlungsbehörde haben fundierte und luzide Beiträge beigesteuert. Der Aufsatz von Bernd Busemann (vormals u.a. Justizminister in Niedersachsen) ist hingegen deplatziert; er stellt wenig erhellend die Verjährungsdebatten dar. Bei den Verfahrensbeteiligten, die einzelne Beiträge geschrieben haben, handelt es sich um den Anklagevertreter Jens Lehmann, den Verteidiger Hans Holtermann, die Nebenklagevertreter Cornelius Nestler und Thomas Walther sowie die Nebenkläger Max Eisen, Elaine Kalman Naves und Judith Kalman. Eisen ist Auschwitz-Überlebender, die Kalman-Schwestern gehören der zweiten Generation an. Ihre Mutter hat Auschwitz überlebt, ihr Vater ein Zwangsarbeitslager der ungarischen Armee.

Lehmann zeichnet sein gegen Gröning eingeleitetes Ermittlungsverfahren nach und verdeutlicht, dass ein entschiedener Wille zur Strafverfolgung und zur Sachverhaltsaufklärung in den letzten Jahrzehnten eher die Ausnahme war. Vor dem Hintergrund des Demjanjuk-Urteils und der Vermutung, dass auch im Fall Gröning „keine Beteiligung an einer konkreten Haupttat nachzuweisen war“ (S. 114), stieg Lehmann engagiert in das Verfahren ein. Er machte sich sachkundig und traf die kluge Entscheidung, seine Anklage auf das Vernichtungsgeschehen während der „Ungarn-Aktion“ vom Sommer 1944 zu beschränken (S. 129). Auch wenn der von Gröning geleistete Tatbeitrag (Bewachung von Hab und Gut auf der Rampe, Sortierung von ausländischer Währung und Übergabe des Geldes) „für das Gesamtgeschehen von geringerer Bedeutung“ war (S. 127), galt es zu berücksichtigen, dass der BGH im Fall des Hamburger Unterstützers der Attentäter des 11. September 2001 entschieden hatte, „für den Tatbestand der Beihilfe“ gebe es „keine ‚Erheblichkeitsschwelle‘“ (ebd.). Mounir al-Motassadeq wurde wegen Beihilfe zum Mord an den Insassen der Flugzeuge verurteilt, mit denen die Attentate ausgeführt worden waren. Der Helfer hatte gewusst, dass seine in die USA eingereisten Freunde Flugzeuge zum Absturz bringen wollten. Ihre Abwesenheit von Hamburg hatte er durch die Regelung ihrer persönlichen Angelegenheiten verschleiert. Die Opfer der vier Flugzeugabstürze waren auch ihm zuzurechnen. Im Fall Gröning war klar, dass dieser um die heimtückisch und grausam durchgeführte Tötung der angekommenen Juden in den Gaskammern wusste. Er hatte die Schreie der Opfer gehört und die Irreführung der ahnungslosen Menschen durch lügnerische Reden der SS aus nächster Nähe beobachtet. Die für die Gehilfenstrafbarkeit erforderlichen tatbezogenen Mordmerkmale lagen bei Gröning zweifelsfrei vor.

Treffend weist Nestler in seinem justizkritischen Beitrag darauf hin, dass es bei der Verfolgung und Ahndung der NS-Verbrechen auf die juristischen Akteure und deren Willen zur Anwendung des geltenden Rechts ankam. Der Gröning-Prozess (wie auch das Detmolder Verfahren von 2015/16 gegen den inzwischen ebenfalls verstorbenen Reinhold Hanning) ist allein vor dem Hintergrund des Frankfurter Auschwitz-Urteils von 1965 und seiner Folgen zu verstehen. Durch die kritische Untersuchung der Einstellungspraxis der Frankfurter Staatsanwaltschaft, mit der Nestler hart ins Gericht geht, kommt er zu dem Ergebnis, dass insbesondere unter der Ägide von Fritz Bauers Nachfolger Horst Gauf (1969–1986) ein entschiedener Wille zur Strafverfolgung in der Frankfurter Justiz nicht mehr zu verzeichnen war.

Überhaupt steht das Auschwitz-Urteil von 1965 im Fokus der Kritik. Die forensische Rekonstruktion der „Tötungsmaschinerie Auschwitz“ ist Safferling zufolge nicht gelungen, denn das „Gericht konnte sich nicht dazu durchringen, für die Vollstrecker des Holocaust eine spezielle Form der strafrechtlichen Zurechnung anzunehmen und die Massentötung als eine einheitliche Tat zu bewerten“ (S. 31). Die fehlerhaften tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich des historischen Geschehens führten zu falschen rechtlichen Wertungen der Taten der Angeklagten. Systematik, Dimension und Totalität des in Auschwitz verübten Menschheitsverbrechens hat das Gericht nicht dargestellt. Es stückelte das Gesamtgeschehen in einzelne Ereignisse, die „Abwicklung“ eines Transports zum Beispiel, und fragte nach dem individuellen Tatbeitrag des jeweiligen Angeklagten zu dem isolierten Vorgang. Gab es keinen Urkunden- oder Zeugenbeweis, dann war ein Angeklagter aus Mangel an Beweisen freizusprechen, obgleich seine Dienststellung und seine Funktion den Rückschluss auf eine wesentliche Rolle im Vernichtungsprozess nahegelegt hätten.

Rommel, seit 2016 Leiter der Zentralen Stelle, ist in der misslichen Lage, die fadenscheinigen Erklärungen seines Vorgängers Kurt Schrimm für die allgemeine Untätigkeit bei der Strafverfolgung von NS-Tätern nicht allzu sehr benennen zu können. Deutlich stellt er im Widerspruch zu Schrimm aber fest, dass das Demjanjuk-Urteil „sich in die ältere Rechtsprechung sowohl der Instanzgerichte als auch des Bundesgerichtshofs“ zu den Vernichtungslagern einfüge (S. 102). Noch ungeklärt ist laut Rommel, ob der 2016 gefasste BGH-Beschluss, die Bestätigung des Lüneburger Gröning-Urteils, von der 1969 ergangenen BGH-Entscheidung zum Auschwitz-Judikat abweicht (der zufolge nicht jede Tätigkeit in Auschwitz als Mordbeihilfe zu qualifizieren sei). Können die allerorten praktizierten Verfahrenseinstellungen wegen des Fehlens eines vorgeblich notwendigen konkreten Tatbeitrags sich begründet auf das damalige BGH-Urteil berufen? Genau hier zeigt der Sammelband die Forschungsdesiderata auf.

Die weiteren Beiträge fallen aus dem wissenschaftlichen Rahmen. Nebenklagevertreter Walther stellt stark subjektiv gefärbt sein Verhältnis zu den Nebenklägern dar und gibt ihnen eine vernehmbare Stimme. Die Texte der Nebenkläger artikulieren Erwartungen und Intentionen von Überlebenden und Nachgeborenen. Hier kommt unmissverständlich zum Ausdruck, was der Untertitel „Genugtuung für Opfer und Angehörige“ meint. Ähnlich hat sich auch der große Strafrechtler Claus Roxin in seiner Kommentierung des BGH-Beschlusses zum Gröning-Urteil geäußert. Roxin zufolge muss in strafrechtstheoretischer Hinsicht für die unverjährbare Mordbeihilfe weiterhin das „Genugtuungsinteresse der Opfer und ihrer Hinterbliebenen“ Berücksichtigung finden.4 Er veranschlagt einen expressiven bzw. einen kommunikationstheoretischen Zweck der Strafe auch gegenüber den letzten am Massenmord beteiligten SS-Männern, die überhaupt noch leben. In der Anerkennung der „Existenz der NS-Opfer“5 und in der durch den BGH-Beschluss erfolgten Korrektur der justiziellen Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte erblickt Roxin den Sinn und Zweck der späten Verfahren. Der Sammelband, der leider offenbar ohne Lektorat in Druck ging (es finden sich unterschiedliche Opferzahlenangaben, siehe S. 120 bzw. S. 177, und störende differierende Schreibweisen), ist wichtig, wirft er doch viele Fragen auf, die von Strafrechtswissenschaft und juristischer Zeitgeschichte erst noch zu beantworten sind.

Anmerkungen:
1 siehe den Artikel im Spiegel: Matthias Geyer / Der Buchhalter von Auschwitz, in: Spiegel, 09.05.2005, S. 154–160, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40325395.html (19.03.2018).
2 Christoph Safferling, Anmerkung zum BGH-Beschluss vom 20.9.2016, in: JuristenZeitung 72 (2017), S. 258–262, hier S. 258.
3 Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust. Bełżec, Sobibór, Treblinka und die Aktion Reinhardt, München 2017, S. 84.
4 Claus Roxin, Beihilfe zum Mord durch Dienst im Konzentrationslager Auschwitz, in: Juristische Rundschau 2017, S. 83–92, hier S. 91.
5 Ebd., S. 92.