W. Reinhard: Staatsmacht und Staatskredit

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Titel
Staatsmacht und Staatskredit. Kulturelle Tradition und politische Moderne


Autor(en)
Reinhard, Wolfgang
Reihe
Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 56
Erschienen
Anzahl Seiten
69 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Huhnholz, München

„Der moderne Staat als wesentlicher Bestandteil der Moderne steht in keinem eindeutigen Verhältnis zu den kulturellen Traditionen der Vormoderne“ (S. 5). So lässt Wolfgang Reinhard seine schmale Schrift Staatsmacht und Staatskredit beginnen. Mit ihr kehrt er zu einem Thema zurück, das in seiner vielleicht bedeutendsten Arbeit, der 1999 erschienenen Geschichte der Staatsgewalt, kontinuierlich als Hintergrundbedingung der großen Erzählung eingeführt worden war: den soziale Kohäsion stiftenden Möglichkeiten des politischen Machtstaates zur ökonomischen Abschöpfung.1 Denn „Ressourcenmobilisierung heißt im Klartext, die Untertanen im wörtlichen oder übertragenen Sinn bezahlen zu lassen, besonders für Kriege“ (S. 16).

Dieses Thema des vorliegenden, in zehn kürzer werdende Abschnitte gegliederten Heftes führt Reinhard jedoch nicht eigens ein. Erst im Verlauf des zweiten Abschnitts der Schrift lässt sich langsam erahnen, was Reinhard beabsichtigt, wenn er schreibt, dass der „moderne Staat“ der „wichtigste Exportartikel Europas“ gewesen sei (S. 5), ja eine – es steht da wirklich so – „‚Wunderwaffe‘“ (S. 14), dass dieses „machtvollste Gebilde, das Menschen jemals geschaffen haben“ (ebd.), jedenfalls auf „den ersten Blick“ die „kulturellen Traditionen der Vormoderne“ ‚überwunden‘ habe (ebd.) und nun als „voll ausgebildete[r] Sozial- und Daseinsvorsorgestaat“ kaum anderes sei „als eine“ – und auch dies steht wirklich so da – „weiche Variante des totalen Staates“ (S. 15).

Diese wohlfahrtsstaatliche „Variante“ des liberaldemokratischen Teils des 20. Jahrhunderts behagt Reinhard anscheinend nicht. Ohne Rekurs auf die vor einiger Zeit wiederentdeckte, von Joseph A. Schumpeter 1918 eher polemisch entworfene geschichtsphilosophische Theorie einer fiskalischen Evolution vom Tributstaat über den Domänenstaat und den fiscal-military state zum regulären Kapital-, Geldkredit- und schließlich Steuerstaat, – sprich „des Aufstieg“ des durch Kriegsverteuerung bei gleichzeitiger Gewaltmonopolisierung immer mehr Mittel bindenden Fiskalstaats – skizziert Reinhard zwar die Kreativitätsgeschichte der europäischen Staatshaushalte als fiskalischen Materialismus ex nihilo: als Geschichte einer indirekten Stabilisierung des Staates durch private Kredite. Die bei Schumpeter angelegte Pointe aber, wonach sich der kreditnehmende Minimalstaat in einen Steuern einnehmenden Wohlfahrtsstaat verwandelt, vollzieht Reinhards Darstellung nicht mehr mit.

Daher sei die eigentlich „ausschlaggebende Errungenschaft […] der öffentliche Kredit, der in seiner bezeichnenderweise in England nach niederländischem Vorbild entwickelten Endgestalt als fundierte und garantierte, nicht rückzahlbare Staatsschuld bei geschickter Handhabung dem modernen Staat beinahe unbegrenzte Mittel beschert“ (S. 19). Denn „der moderne Staat in Europa“ sei „Hand in Hand mit dem öffentlichen Kredit, genauer dem Kriegskredit, entstanden“ und habe „machtpolitisch Schwäche in Stärke verwandelt“ (S. 20). Beispielsweise „Asiens Großreiche“ dagegen „konnten ihre Kriege ohne Kredite finanzieren“, und jene, die wie „Ägypten und Tunesien, China und das Osmanische Reich schließlich im 19. Jahrhundert“ doch noch versuchten, „ohne die eingespielte, historisch gewachsene europäische Infrastruktur“ „Staatskredite zu schöpfen“, hätten „ihren Zusammenbruch“ lediglich „beschleunigt“ (S. 19).

So bleibt fiskalhistorisch bemerkenswert, dass Reinhard die subtextuell mitgeführte schumpeterianische Teleologie nicht bis zu ihrem berühmten Finale mitvollzieht und ihm die Einrichtung des das Privateigentum schützenden und nur Eigentumszugewinne abschöpfenden Steuerstaats des 20. Jahrhunderts nicht weiter würdigungswert erscheint. Stattdessen wird der Höhepunkt fiskaltechnischer Innovation auf das englische Staatskreditwesen des 19. Jahrhunderts gelegt. Dadurch bremst Reinhard die fiskalische Lokomotive seiner Staatsgeschichte der „politischen Moderne“ abrupt ab. Der „zwischen Mittelalter und dem 19. Jahrhundert in Europa“ geschaffene „moderne Staat“ sei eben „als Kriegsstaat“ entstanden. Dank dessen Infrastruktur (Reinhard nennt u.a. Privateigentumsschutz, Handelskapitalismus, Steuerprogression, tendenziellen, z.B. im Widerstandsrecht und zunehmend im Parlamentarismus rückversicherten Zustimmungsvorbehalt der Bürgerschaft) sei ein „einzigartige[r] Machtstaat“ entstanden (S. 20). Auf den später gewachsenen Steuerstaat mag Reinhard dies offenbar nicht mehr übertragen, denn „[w]eniger die explodierenden Kriegs- und Rüstungskosten als die Anforderungen des demokratischen Daseinsvorsorgestaates haben Staaten in jüngster Zeit an die Grenzen […] geführt“ (S. 19).

Zieht man die bis hierhin skizzierten Ausführungen Reinhards zusammen, stellt sich unweigerlich die Frage ihrer Absicht. Reinhard reformuliert zunächst mit meisterlicher Leichtigkeit einen allgemeinen Katalog historischer „europäischer“ Staatlichkeits-, Nations-, Solidaritäts- und Souveränitätskriterien von innerer und äußerer Staatsgewalt über Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsregeln und Staatswirtschaftsregeln (S. 5–16). Im Anschluss rekapituliert er unter Zuhilfenahme gut ausgewählter jüngerer fiskalhistorischer Standardwerke zunächst schematisch (S. 16–22), dann vergleichend die Entwicklung des neuzeitlichen (west-)europäischen Fiskalwesens unter gelegentlichem Verweis auf ideenpolitisch bedeutsame staats- und steuerbegründende Argumente von Bodin über Grotius, Hobbes, Locke, Rousseau bis zu Kant (S. 22–34). Das politische Spektrum des Staatskredits wird dann an Beispielen aus Antike, Mittelalter und Renaissance entfaltet (S. 34–40), um schließlich die „financial revolution“ insbesondere des frühmodernen Englands zu betrachten (40–47). Der Erfolg dieses selbsttragenden und durch die Umwandlung von Staatsschulden in monopolkolonialistische Aktienpakete englischer Handelskompanien auch imperialistisch ausgreifenden Staatsfinanzierungssystem war zunächst vor allem darin begründet, dass das „Funktionieren der Staatsschuld […] auch im Interesse der englischen politischen Klasse“ lag (S. 33) und zunehmend durch ein Börsenspekulationssystem verallgemeinert wurde.

Warum von hier aus aber weder die Geschichte des Steuerstaats einbezogen noch der naheliegende Verweis auf die finanzkapitalistische Wiederinfiltrierung gegenwärtiger Fiski gewagt wird, bleibt unbegründet. Stattdessen wechseln sich glänzende systematische Passagen wie die zur ideen-, kultur- und rechtsgeschichtlichen Entwicklung des westlichen Privateigentumsbegriffs (S. 23–31) mit essayistischen Skizzen ab. Mit bloßem Federstrich werden ganze Forschungsschulen verworfen (S. 32), und durchsetzt werden die Ausführungen überdies durch immer wieder eigensinnige, zeitlich schwer einzuordnende Einschübe zu östlich bis fernöstlich von Europa gelegenen Herrschaftsverbänden.

Die Auflösung dieser leider nicht erläuterten Anordnung erfolgt erst im letzten Drittel der Schrift: „Die Finanzpolitik asiatischer Großreiche“, so ist im sechsten Abschnitt zu lesen „könnte gar nicht verschiedener sein“ (S. 47). Hier flackert ein Motiv auf, das man allenfalls in einer winzigen Anmerkung vor Textbeginn erahnen konnte: „Die Untersuchung wurde […] im Rahmen des Chinesisch-Deutschen-Wissenschaftsforums an der Bejing Daxue (Peking Universität) durchgeführt“ (sic; S. 5).

Ob Reinhards Studie vielleicht zu Überlegungen hatte verleiten sollen, den politischen Kapitalismus Chinas nicht doch gegen den liberalistischen Staatskreditkapitalismus der westeuropäischen Frühmoderne einzutauschen, ist der Arbeit leider nicht zu entnehmen. Als wenngleich bemüht höfliche Umschreibung des Ersteren mag man noch deuten, dass Reinhards letzte Kapitel mit dem Osmanischen Reich (vier Textseiten), Indien (anderthalb Seiten) und China (S. 47–58) zwar „drei asiatische[] Großreiche“ betrachtet, „die politische Modernisierung durch einen konsolidierten und garantierten öffentlichen Kredit und damit zum modernen Staat aus unterschiedlichen Gründen […] verfehlten“ (S. 65). Modernisierung wird abschließend aber nur China zugeschrieben, welches die „angeblich fünftausendjährige Geschichte“ seiner vormodernen Traditionsbestände immerhin „erfolgreich als Modernisierungsressource eingesetzt“ habe (S. 68).

Dem Thema des Bändchens – dem europäischen Staatskredit – nutzt das letzte Textdrittel folglich allenfalls kontrastiv. Doch was genau wird dabei kontrastiert? Wenn ein so gewaltiges Erfolgsmodell wie der von Reinhard beschriebene Staat der „politischen Moderne“ nicht vor allem aus dem England des vorletzten Jahrhunderts bestehen oder nicht durch Kurzlebigkeit gekennzeichnet sein sollte, müsste Reinhards Zugriff idealtypisch gemeint sein. Denn auf welche europäischen Staaten der Neuzeit die von Reinhard angeführten Kriterien über eine längere Zeit hinweg zutrafen, ist durchaus nicht gewiss. Dass Reinhard ohne weitere Differenzierung noch die „totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts“ dafür anführt, dass eine „Staatlichkeit ohne Demokratie durchaus ebenfalls funktioniert“ (S. 14), wäre als skurrile Randnotiz vielleicht noch zu überlesen. Zu fragen bliebe jedoch, wofür von Renaissance bis Aufklärung eigentlich diverse kulturelle Vorbedingungen westfälischer Staatlichkeit und „Tradition“ abgeschnitten gehörten. Doch sicher nicht, um zu einem letztlich verkürzt wirkenden Verständnis von „modern“ und „politischer Moderne“ zu gelangen, einem Verständnis überdies, dessen von Reinhard ja ausdrücklich immer wieder betonte politische (im Sinne von ‚machtpolitische‘) Überlegenheit gegenüber der „kulturellen Tradition“ (offenkundig letztlich eine Chiffre für China) ethisch besehen wertlos und politisch ohnehin überholt ist.

Solche Bedenken gegen einen idealtypisch stilisierenden Rückblick auf den national homogenisierten souveränen Territorialstaat wurden sicher schon häufig erhoben, insbesondere dort, wo eine Überlegenheit dieser Art Staatlichkeit über Formen einer Anders-, Noch-nicht- oder Gar-nicht-Staatlichkeit reklamiert werden. In der asymmetrietheoretischen Debatte um die sogenannten „Neuen Kriege“ war dergleichen ebenso zu beobachten wie in dem Versuch, die politische Kategorie der Imperialität gegen die der Staatlichkeit zu konturieren.2 Doch können solche Kontraste aus der modelltheoretischen Schärfung durchaus Erkenntnisse fördern. Kritik daran ist also nicht per se erforderlich.

Wozu aber Reinhards Modellierung dient, bleibt doch zu fraglich. Denn wenn sein „moderner Staat“ allen anderen politischen Formen beispielsweise dadurch überlegen ist, dass er einst kolonialpolitisch rückversicherte Riesenkredite aufzunehmen verstand, weil er die rechtlichen, monetären und finanztechnischen Bedingungen der Kreditvergabe zu schaffen vermochte, bedarf es einer ‚anderen‘ Seite im Sinne einer Kontrastierung definitionsmäßig gar nicht. Dann aber verschwindet auch der normative Gehalt der Kategorie „modern“ („moderner Staat“, „politische Moderne“ usw.) – einer Kategorie, die Reinhard gleichwohl heranzieht, um sie immer wieder explizit gegen vormoderne Gebilde zu stellen. Diese fiskalpolitisch deklassierten Gebilde nennt er dann der „klaren begrifflichen Unterscheidung“ zuliebe „Reiche“ (S. 6), Reiche, die er jedoch nicht mit „Imperien“ in eins gesetzt sehen will, sondern eben nur als diskreten Gegentypus zum grellen Leittypus benötigt.

Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, als habe es einmal den „modernen“ europäischen Staat gegeben und den nicht-modernen, vormodernen, zugleich nicht-europäischen Staat und schließlich vielleicht noch den Nicht-Staat – Gegenbild-Gebilde jedenfalls, die sich, theoretisch wenigstens, durch Erfüllung von Reinhards Kriterien zum „modernen Staat“ der „politischen Moderne“ vielleicht einmal hätte aufschwingen und dadurch gewissermaßen ‚europäisieren‘ können. Das freilich hieße – und damit schließt der offizielle Teil der Schrift –, jenen „nicht zuletzt finanziell omnipotente[n] Machtstaat“ zu erstreben, der in Europa auch laut Reinhard schon längst nicht mehr besteht. So verbleibt Ratlosigkeit gegenüber der Frage, was für ein Rat hier erteilt worden ist, wem eigentlich und vor allem: ob überhaupt.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999.
2 Siehe nur das Themenheft „Krieg“ der (inzwischen wieder eingestellten) Zeitschrift Erwägen Wissen Ethik. Forum für Erwägenskultur 19 (2008), Heft 1.

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