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Titel
Gehorchen und Gestalten. Jesuiten zwischen Demokratie und Diktatur in Chile (1962-1983)


Autor(en)
Schnoor, Antje
Reihe
Religion und Moderne
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
481 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Nebgen, Seminar für Kirchengeschichte, Universität Mainz

Das facettenreiche Verhältnis der Gesellschaft Jesu zu politischen Ordnungsvorstellungen und die – mal mehr, mal weniger – aktive Einbindung ihrer Mitglieder in politische Prozesse ist ein spannender und lohnender Gegenstand für die Geschichtsschreibung – und darüber hinaus. Wie aktuell und zugleich brisant das Thema ist, zeigte sich etwa im März 2013 nach der Wahl des Jesuiten Jorge Mario Bergoglio (*1936) zum Papst Franziskus: Sein Verhalten als Ordensoberer in Argentinien zu Zeiten der Militärdiktatur (1976–1983) wurde sofort einer kritischen und kontroversen Nachbetrachtung unterzogen.

Antje Schnoor hat sich in ihrer geschichtswissenschaftlichen Dissertation der Untersuchung der Rolle des Jesuitenordens in Chile zwischen 1962 und 1983 gewidmet. Der von ihr ausgewählte Zeitraum ist vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen in Chile, aber auch der durch das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) geprägten kirchlichen Situation dieser Jahre besonders interessant, zumal durch die transnationale Organisation des Ordens dessen hierarchische und strukturelle Entscheidungsprozesse eine hohe Komplexität aufweisen. Gleich vorneweg sei angemerkt, dass es ihr in beeindruckend souveräner Weise gelingt, diese „doppelte Kontextualisierung“ zu meistern.

Die leitende Fragestellung der Studie bezieht sich auf den Wandel der politischen Positionierung der Jesuiten in Chile zunächst zur christdemokratischen Regierung unter Eduardo Frei (1964–1970), dann zur sozialistischen unter Salvador Allende (1970–1973) und schließlich zur Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1990), wobei Antje Schnoor das Zeitfenster leicht versetzt. Mit der Auswahl des Jahres 1962 wird auf den Konzilsbeginn verwiesen, 1983 erwies sich aufgrund einschlägiger Ereignisse innerhalb des Ordens und der chilenischen Kirche allgemein als passendes Eckdatum (eine hilfreiche Zeittafel findet sich auf S. 468–472).

Im ersten Kapitel blickt Schnoor auf das sozialpolitische Selbstverständnis des Ordens und die entsprechenden Wechselwirkungen zwischen Chile, Lateinamerika allgemein und der römischen Zentrale seit den 50er-Jahren. Sie beschreibt die diesbezüglich wachsende Bewusstseinsbildung innerhalb der gesamten Gesellschaft Jesu und die für Chile besonders wichtige Ausbildung institutioneller Akteure in Form der Zeitschrift Mensaje (seit 1951) und des Zentrums für Sozialforschung und soziale Aktion (seit 1957), die ab 1959 als Centro Bellarmino organisatorisch und personell vereinigt wurden. Hier wirkten Philosophen, Theologen sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in enger Kooperation und zugleich in transnationaler Vernetzung mit anderen derartigen Instituten und Bildungseinrichtungen des Ordens (Schnoor weist explizit auf die Rolle von Nouvelle Théologie und der Universität Löwen hin). Auch die durch diesen Prozess entstehenden innerkirchlichen Konflikte werden in den Blick genommen. Folgerichtig widmen sich die Kapitel 2, 3 und 4 dem „Gehorsamskonzept in der Gesellschaft Jesu“, der „Ordnung im Orden“ und dem „Ort der Jesuiten in der Kirche“. Sehr komprimiert, jedoch anhand eindrücklicher Beispiele beschreibt Schnoor hier das Spannungsfeld, in dem sich viele Ordensmitglieder in dieser Zeit bewegten und ihre Handlungsspielräume neu austarierten, ohne dabei die spirituellen Grundlagen des Ordens aus den Augen zu verlieren. Ihre Beobachtungen fügen sich sehr gut in das Gesamtbild des Ordens ein, das zuletzt Klaus Schatz in seinem monumentalen Werk über die „deutschen Jesuiten“ für diese Zeitspanne entworfen hat.1

Ausgehend von der in der ignatianischen Spiritualität grundgelegten unbedingten kirchlichen Loyalität wandelten sich die Ordnungsvorstellungen innerhalb des Ordens in Korrespondenz zu seiner sozialpolitischen Neupositionierung (Bsp. Dekolonialisierung und Ordensstruktur, S. 136f). Diese Neupositionierung und praktisch-politische Involvierung machte sich in Chile eindrücklich bei der Präsidentschaftswahl 1964 bemerkbar, aus der – durch tatkräftige Unterstützung des Centro Bellarmino sowie der chilenischen Bischofskonferenz – die Christdemokraten unter Eduardo Frei mit dem Slogan „Revolution in Freiheit“ als Sieger hervorgingen. Diese Parole, die sozusagen eine konservative Umarmung und Umdeutung des Revolutionsbegriffes darstellte, war in den Jahren zuvor in mehreren Ausgabe der Mensaje mitentwickelt und etabliert worden. Wachsende Kritik an der Regierung Frei wegen mangelhafter Umsetzung gemeinsam formulierter politischer Ziele und die theologischen Impulse des zu Ende gehenden Zweiten Vatikanischen Konzils befeuerten in den nächsten Jahren eine erneute sozialpolitische Umorientierung bei den chilenischen Jesuiten, die erhebliche innere Spannungen im Orden mit sich brachte. Die zunehmende Polarisierung zeigt Schnoor am Beispiel des inneren Verhältnisses der Verantwortlichen von Mensaje und Centro Bellarmino insgesamt auf: Während die Redaktion der Zeitschrift offen Kritik an der Frei-Regierung äußerte und den lange unsicheren politischen Wechsel zur Regierung Allende 1970 schließlich publizistisch legitimierte, standen die meisten anderen Mitglieder des Centro Bellarmino durchgehend auf der Seite der Regierung Frei. Der langjährige Direktor und nur schwer durchschaubare politische Strippenzieher Roger Vekemans verließ unmittelbar nach der Wahl Allendes sogar das Land und siedelte nach Kolumbien über.

Wie sich unterschiedliche politische Haltungen unter den chilenischen Jesuiten, aber auch in der gesamten chilenischen Kirche, ausbildeten und die Fronten zunehmend verhärteten, zeigt Schnoor anschließend exemplarisch anhand des Konfliktes um die Bewegung „Christen für den Sozialismus“ auf, die sich 1971 gebildet hatte. Der Generalsekretär der Gruppe, zu der bald schon mehr als 400 Priester, Ordensleute und Laien aus ganz Lateinamerika gehörten, war der chilenische Jesuit Gonzalo Arroyo, der selbst zwischen 1964 und 1969 Mitglied des Centro Bellarmino gewesen war. In diesem Kapitel kommt das von Schnoor als Buchtitel gewählte Begriffspaar „Gehorchen und Gestalten“ besonders zum Tragen, denn die Loyalitätskonflikte wurden für Ordensleute und Priester in dieser zugespitzten Situation virulent und kulminierten mit dem Verbot der Bewegung im April 1973 durch die Bischofskonferenz. Antje Schnoor lotet hier gekonnt die Handlungsspielräume der involvierten Akteure aus, zudem zeigt sie die komplizierten personellen und institutionellen Verflechtungen auf.

Bereits Anfang des Jahres 1972 wurde in der Mensaje vor einer drohenden Eskalation der politischen Situation und einem Militärputsch in Chile gewarnt. Die zunehmende gesellschaftliche Destabilisierung im Land wurde auch von jesuitischer Seite offen angesprochen und mit Kritik an der aktuellen Regierung verbunden. In den Kapiteln 8, 9 und 10 ihrer Arbeit schildert Schnoor, wie sich das Verhältnis der Jesuiten gegenüber der Militärdiktatur ab September 1973 entwickelte. Sie beschreibt die wachsende Diskrepanz zwischen öffentlichen Äußerungen und tatsächlichem Handeln kirchlicher Akteure angesichts zunehmender Menschenrechtsverletzungen. Durch Mitarbeit im Friedenskomitee, im späteren Solidaritätsvikariat und als Gefängnisseelsorger kannten zahlreiche Jesuiten die beängstigende Dimension politischer Verfolgung im Land und stellten sich ihr im Rahmen ihrer Möglichkeiten entgegen. Als Ende 1975 einige kirchliche Akteure in gewalttätige Auseinandersetzungen mit dem Regime verwickelt wurden, entwickelte sich Mensaje in Reaktion hierauf zum meinungsbildenden und in der Folge innerkirchlich einigenden Medium. Dies steigerte sich noch nach dem Plebiszit von 1980, mit dem Pinochet seine antidemokratischen Machtbefugnisse dauerhaft legitimieren lassen wollte.

Schnoor beschäftigt sich aber nicht nur mit der von außen wahrnehmbaren jesuitischen Reaktion auf die politischen Prozesse; ihr gelingt es ebenso aufzuzeigen, wie sich Autoritäts- und Gehorsamskonzepte innerhalb des Ordens unter den konkreten historischen Bedingungen wandelten und neu legitimiert wurden. Dies tut sie mit großer methodischer Sensibilität und unter Berücksichtigung einer beeindruckenden Menge an unterschiedlichstem Quellenmaterial. Mit hoher Reflexionsfähigkeit wertet sie dieses Material kleinschrittig und fein differenzierend aus. Dabei behält sie nicht nur die politische Geschichte souverän im Blick, sondern entwickelt auch ein gutes Gespür für die Eigenheiten ignatianischer Spiritualität und ihre Bedeutung für konkretes Handeln. Zu erwähnen ist auch die gute Lesbarkeit der klar, aber auch erfreulich dezent gegliederten Studie. Das Buch wird in dem (überschaubaren) Kreis Interessierter im deutschen Sprachraum gewiss eine begeisterte Aufnahme finden. Zu wünschen wäre dieser exzellenten Studie aber eine breitere Wahrnehmung im englischen und gerade auch im spanischsprachigen Bereich. Hierzu wären Übersetzungen der Monographie ins Englische und Spanische angebracht.

Anmerkung:
1 Klaus Schatz, Geschichte der deutschen Jesuiten (1814–1983), 5 Bde., Münster 2013.

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