K. Cooper u.a. (Hrsg.): Making Early Medieval Societies

Cover
Titel
Making Early Medieval Societies. Conflict and Belonging in the Latin West, 300–1200


Herausgeber
Cooper, Kate; Leyser, Conard
Erschienen
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
$ 29.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sören Kaschke, Arbeitsstelle "Edition der fränkischen Herrschererlasse", Universität zu Köln

Der vorliegende Band zur Konstruktion sozialer Ordnung jenseits zentraler Steuerung hat eine recht lange und verschlungene Genese hinter sich. Angeregt wurde er durch eine Konferenz von 2005, die anlässlich des 50. Jahrestags der Veröffentlichung von Max Gluckmans einflussreichem Aufsatz „The Peace in the Feud“1 in Manchester abgehalten wurde. Allerdings beruht lediglich ein einziger der zehn Beiträge des Bands auf einem dort gehaltenen Vortrag. Leitthema von Konferenz wie Band war die Frage, wie sich besonders während der beiden großen Umbruchphasen eingangs und ausgangs des frühen Mittelalters gesellschaftliche Ordnungen auch ohne Zentralgewalt und unter Einsatz bzw. Einbindung von Konflikten etablieren konnten.

In seiner gehaltvollen, den Forschungsgang reflektierenden Einleitung räumt Conrad Leyser unumwunden ein, dass der Bereich der Gesellschaft im Band nur „minimally theorized“ (S. 4) sei, was sich im Folgenden für den Leser in durchgängig wohltuend quellennah argumentierenden Beiträgen niederschlägt. Allein hinsichtlich einer genaueren Differenzierung von Staat und Gesellschaft(en) hätte etwas mehr Reflektion nicht geschadet. Zumeist wird unter Gesellschaft offenbar jeweils die Gesamtheit der Bewohner eines Reichs verstanden. Dies ist bedauerlich angesichts einer Thematik, die stark auf die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen in Phasen eines schwachen oder gar abwesenden Staats blickt: Stellte die Bevölkerung Galliens im 5. Jahrhundert beispielsweise eine einzige, nur politisch gespaltene (post-römische) Gesellschaft dar oder zahlreiche verschiedene, die also jeweils getrennt zu betrachten wären? Nur gelegentlich, wie etwa im Beitrag von Marios Costambeys, werden differierende soziale Praktiken trotz (zeitweiliger) politischer Einheit, wie etwa zwischen dem postkarolingischen Italien und dem Westfrankenreich, explizit angesprochen.

Kate Cooper wählt die Entwicklung der frühen Kirche bis in das 5. Jahrhundert als Beispiel für die Fähigkeit wachsender Selbstregulierung auch jenseits formaler Strukturen. Plausibel argumentiert sie, die Autorität eines Bischofs habe dabei lange eher der eines klassischen römischen pater familias als der eines öffentlichen Amtsträgers geähnelt. Etwas bemüht erscheint jedoch der Vergleich, wonach seinerzeit theologische Kontroversen für Bischöfe eine ähnliche Rolle gespielt hätten wie Fehden für spätere merowingische Große (S. 25).

Immerhin zeigen David Natal und Jamie Wood in ihrem direkt anschließenden Beitrag anschaulich, dass Konflikte zwischen Bischöfen im 4./5. Jahrhundert in der spanischen (Priscillianus) bzw. gallischen Kirche (Proculus von Marseille) mitunter ähnlich tödlich für einzelne Beteiligte enden konnten wie eine traditionelle merowingische Fehde. Dabei wird zur Erklärung das Phänomen des „scale-jumping“ (S. 37) bemüht, worunter sich die recht banale Beobachtung verbirgt, dass Konfliktparteien dazu neigten, Unterstützung durch Verbündete auf anderen Hierarchieebenen zu suchen. Das Schicksal des formal wegen Zauberei hingerichteten Priscillians, dem die Einbeziehung des kaiserlichen Hofs zum Verhängnis wurde, sei aber letztlich ein wesentlicher Faktor dabei gewesen, den Episkopat dazu zu motivieren, eigene, stark auf Präzedenzfällen basierende Strukturen zu entwickeln, um innerkirchliche Streitereien künftig auch intern regeln zu können.

Mit den folgenden drei Beiträgen von Helmut Reimitz, Martin Ryan und Paul Fouracre wechselt der Band in das Frühmittelalter über. Reimitz stellt dabei erstmals das im Untertitel neben „Conflict“ ebenfalls angesprochene, aber in vielen Beiträgen nur am Rande behandelte „Belonging“ ins Zentrum, wenn er sich den Identitätskonzepten in den Historien Gregors von Tours zuwendet. Gregor habe, anders als Fredegar oder der Liber Historiae Francorum, in ethnisch fundierten Identitäten, gleich ob fränkisch oder römisch, kein positives Modell gesehen. Stattdessen propagierte er eine wohlgeordnete christliche Gemeinschaft, stabilisiert nicht durch ethnische Bindungen, sondern durch eine kraftvolle pastorale Leitung.

Auch Beda war laut Ryan unzufrieden mit dem Zustand seines gesellschaftlichen Umfelds, hier in Northumbria. Daher müssten besonders seine späten Werke vor allem als Werbung für umfassende Reformen interpretiert werden, und zwar sowohl auf Seiten des Königtums wie der Eliten, aber auch der Kirche selbst. Die Verantwortung für die angestrebte Ordnung der Gesellschaft wurde dabei nicht allein bei der „staatlichen“ Gewalt, sondern breit über die verschiedenen Gesellschaftsgruppen verteilt gesehen.

Fouracre schließlich fokussiert wieder enger auf Konflikt und Gewalt, wenn er in unterschiedlicher Ausführlichkeit Rebellionen im gesamten Westen, von Italien und Spanien über das Frankenreich bis zum angelsächsischen England für die Zeit vor 800 in den Blick nimmt. Sein Beitrag ist im Kern eine Begriffsuntersuchung, die jedoch gelegentlich auch von der Sache her argumentiert. Einerseits beschränkt er sich z.B. in seiner Analyse der Fredegar-Chronik im Wesentlichen auf die vier Stellen, an denen Fredegar selbst die Begriffe rebellio oder rebellare verwendet (S. 110–112). Andererseits wird eine in der Vita Germani Grandivallensis geschilderte Rebellion von der weiteren Analyse ausgeschlossen, weil es sich bei den geschilderten Ereignissen wohl nicht um eine Rebellion gehandelt habe (S. 116). Was Fouracre letztlich unter einer Rebellion versteht, wird aber jeweils nur beiläufig ersichtlich, am deutlichsten vielleicht, wenn er den in der Historia Wambae nicht explizit als rebellio bezeichneten Aufstand in Septimanien dennoch als solche werten möchte, „because it most definitely involved a rejection of authority and the creation of a new political entity“ (S. 119). Entsprechend hätte das Frankenreich nach der Mitte des 6. Jahrhunderts „virtually no rebellion“ mehr erlebt (S. 107), sondern vor allem interne Machtkämpfe. Zu Recht betont Fouracre dabei, die Bezeichnung als Rebellion habe in den Quellen meist eine moralische Verdammung ihrer Betreiber eingeschlossen (S. 122), wie nicht zuletzt die gängige Verbindung von Rebellenstatus und Eidbrüchigkeit illustriert. Dennoch überzeugt die Schlussfolgerung nicht ganz, wonach der Mangel an (als solchen bezeichneten bzw. wahrgenommenen) Rebellionen die erreichte Stabilität der sozialen Ordnung besonders im Frankenreich illustriere (S. 123).

Costambeys detaillierte Studie widmet sich einer in Italien anzutreffenden Entwicklung im Urkundenwesen, die in anderen Teilen des ehemaligen Frankenreichs so nicht zu finden ist: die wachsende Verbreitung von „undefended cases“ (S. 136), beurkundeten gerichtlichen Streitfällen, in denen die Gegenseite der Darstellung des Klägers gar nicht widersprach, also eigentlich gar kein Konflikt vorlag. Costambeys deutet dies überzeugend als gesellschaftliche Reaktion auf den Niedergang der öffentlichen Registrierung von Besitzübertragungen, an deren Stelle nun ersatzweise verstärkt Gerichtsurkunden zur Dokumentation von Besitzverhältnissen genutzt wurden (S. 141). Es handelt sich also um einen weiteren Fall für neu entstandene Strukturen ohne zentrale Steuerung durch staatliche Institutionen.

Die Beiträge von Riccardo Bof und Conrad Leyser wenden sich Neuerungen im Bereich der Kirche zu. Gestützt u.a. auf ihre Analyse von Hinkmars von Reims De Divortio Lotharii argumentieren Bof und Leyser in einem gemeinsamen Beitrag, das kirchliche Ehekonzept sei im 9. Jahrhundert und selbst bei Hinkmar noch keineswegs so einheitlich oder fest gefügt gewesen, wie gemeinhin angenommen. In seinem eigenen Beitrag verfolgt Leyser die Rezeption Gregors des Großen bis in die Zeit nach dem Zerbrechen des karolingischen Großreichs. Das besondere Interesse an Gregor nach 888 sei nicht zuletzt damit zu erklären, dass auch er in einer postimperialen Zeit gelebt hatte und entsprechend als Legitimationsfigur für eine ohne kaiserliche Beteiligung ablaufenden Begründung neuer kirchlicher Strukturen bestens geeignet war.

Robert Moore skizziert schließlich den Niedergang der Gottesurteile im 10. bis 12. Jahrhundert. Nicht völlig überzeugend deutet er diese Entwicklung als Ergebnis einer Zurückdrängung des Einflusses des einfachen Volkes durch die kirchlichen Eliten. Diese hätten das unwägbare Gottesurteil, das der kollektiven Deutung hinsichtlich seines erfolgreichen Bestehens unterworfen war, durch stärker der eigenen Kontrolle unterliegende Verfahren ablösen wollen. Beschlossen wird die Reihe der Beiträge durch einen kritischen Forschungsüberblick von Stephen White – dem einzigen Beitrag, der auf einem Vortrag auf der ursprünglichen Konferenz basiert.

Zeitlich und räumlich decken die einzelnen Beiträge einen weiten Bereich ab. Der Bezug zum Bandthema ist dabei nicht immer gleichermaßen stark ausgeprägt. Auch das keine drei Seiten umfassende kombinierte Orts-, Sach- und Personenregister ist recht erratisch gestaltet und keine zuverlässige Hilfe bei der inhaltlichen Verknüpfung der Beiträge (beispielsweise finden sich dort zwar "Africa", "Gaul" und "Spain", nicht aber "England" oder "Italy", und obwohl Stephen White nacheinander die Ansätze von Wallace-Hadrill, Brunner und Halsall vorstellt, bleibt Brunner im Gegensatz zu seinen beiden englischen Kollegen im Register unerwähnt). Dessen ungeachtet erwartet den Leser insgesamt eine anregende Lektüre, bei der die bewusste Konzentration auf nicht-staatliche Faktoren auch vermeintlich altvertrauten Aspekten oft eine neue Perspektive abgewinnt.

Anmerkung:
1 Max Gluckman, The Peace in the Feud, in: Past and Present 8 (1955), S. 1–14.

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