Titel
»Lombroso redivivus?«. Biowissenschaften, Kriminologie und Kriminalpolitik von 1876 bis in die Gegenwart


Autor(en)
Menne, Jonas
Erschienen
Tübingen 2017: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIV, 312 S.
Preis
€ 84,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Bung, Fakultät für Rechtswissenschaft, Universität Hamburg

Gibt es eine Wiederkehr der Lehren von Cesare Lombroso? Mit dem berühmten wie berüchtigten italienischen Arzt, insbesondere mit seinem 1876 erstmals erschienenen Werk Lʾuomo delinquente, verbindet sich eine Art von kriminologischem Denken, das sich mehr auf Umstände im Äußeren oder Inneren der untersuchten Individuen als auf situative oder gesellschaftliche Determinanten konzentriert. In seiner Leipziger juristischen Dissertation kann Jonas Menne eine ganze Reihe von Stellungnahmen anführen, die belegen, dass die Diagnose einer solchen Renaissance zum Repertoire der kriminologischen Selbstbeschreibung gehört. Damit sind, bei allen Unterschieden im Einzelnen, Herangehensweisen gemeint, die sich als Naturalisierung des Phänomens Kriminalität verstehen lassen. Die Frage Lombroso redivivus? ist übrigens, worauf Menne verweist (S. 15 Fn. 75), von Franz Exner in einer Darstellung der Kriminalbiologie von 1939 explizit gestellt und verneint worden.

Freilich ist Lombroso für die Kriminologie nicht irgendein Name. Es gibt gute Gründe, Kriminologie als Wissenschaft mit genuin disziplinärem Selbstverständnis mit Lombroso und seiner aufsehenerregenden Schrift von 1876 beginnen zu lassen. Auch Menne verfährt so. Seine Relativierung, die Deutung Lombrosos als Begründer der Kriminologie sei „vorrangig als Ausweis der Mythologisierung seiner Person zu bewerten“ (S. 243, s. auch S. 21) ändert nichts daran, dass Lombroso „wesentlich zur Formierung eines kriminologischen Diskurses im ausgehenden 19. Jahrhundert bei[trug]“ (S. 243). Gegen juristische oder moralische Verständnisse sollte Kriminalität nicht mehr normativ, sondern als natürliches Phänomen betrachtet werden. Es ist deshalb durchaus plausibel, die Anfänge bei Lombroso zu suchen, zumal aus seiner Schule der Begriff der Kriminologie (als Titel einer 1885 veröffentlichten Schrift von Raffaele Garofalo) öffentlichkeitswirksam hervorgegangen ist.

Lombroso wurde durch Gefängnisbesuche dazu angeregt, über die Menschen nachzudenken, die er dort antraf. Die Art, wie er das tat, wie er die Insassen beobachtete und bewertete, von den Leuten außerhalb des Gefängnisses abgrenzte, hat dazu geführt, dass Lombroso – und zwar schon gleich nach dem Erscheinen seines berühmten Buches – auch als Ärgernis, als Problem, als Skandal wahrgenommen wurde. Menne verweist darauf, dass mit dem Erscheinen des Buches zugleich der Grundstein einer Wirkungsgeschichte massiver Kritik gelegt wurde, und zwar derart wirkmächtig, dass sich gerade in der Abgrenzung gegen die Chiffre „Lombroso“ andere Versionen der Kriminologie ins rechte Bewusstsein setzen und entwickeln konnten. Neben ausdrücklichen positiven Referenzen auf Lombroso (heute etwa durch Adrian Raine und Hans Markowitsch, vgl. S. 5) überwiegen die negativen Stellungnahmen. Das geht bis in die Einführungsvorlesungen der Kriminologie, wo Lombroso als Schreckgespenst herhalten muss, als derjenige, der gemeint hat, man könne an den Nasen und Ohren der Leute ablesen, ob sie kriminell veranlagt sind oder nicht.

Tatsächlich, Lombroso hat solche Dinge geschrieben, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass man sich an seinen Namen nicht erinnern würde, wenn er nur solchen Unsinn verfasst hätte. Seine dubiose (gleichwohl in einzelnen Forschungszusammenhängen heute weiter verwendete) Atavismus-Idee vom Verbrecher als einer evolutionär regressiven Einzelerscheinung erscheint bei Lombroso lediglich als ein Einfall neben unzähligen anderen Einfällen, die er, seine Überlegungen permanent umschreibend und erneuernd, unausgesetzt zur Diskussion stellt. Die Bedeutung Lombrosos kann aber nicht allein aus seiner Unsinnsproduktion hervorgehen (deren Umfang durchaus nicht unerheblich ist). Sie liegt vielmehr darin, dass über die insgesamt fünf Auflagen seiner maßgeblichen Schrift hinweg die ganze Bandbreite an Überlegungen zum Ausdruck kommt, die die Kriminologie auch heute bestimmt. Nicht in ausgearbeiteter oder gar fertiger Form, sondern in Form von Hypothesen, die das „Labyrinth der Kriminologie“ (Foucault) in bemerkenswerter Vollständigkeit und bemerkenswerter Fragwürdigkeit, in seiner notwendigen Fragmentarität und Hybridität, letztlich: in seiner großen Ratlosigkeit zur Erscheinung bringen.

Lombroso spricht tatsächlich von äußeren körperlichen Merkmalen oder Merkmalsverbindungen als kriminorelevanten Indikatoren, er bringt auch das (freilich nicht zeituntypische) Thema der Rassen auf, er spricht aber ebenso von Fehlfunktionen und Funktionsstörungen des Gehirns, Persönlichkeitsstörungen, Empathiemangel, er verweist stets auch auf den Einfluss äußerer Faktoren, von Armut und sozialer Deprivation, er erörtert situative Normabweichungen (Gelegenheitstaten), stellt erste Überlegungen zu einer Kriminologie der White Collar Crimes an und spricht von der gesellschaftlichen Notwendigkeit, das Kriminalitätsaufkommen durch eine bessere Sozial- und Steuerpolitik zu vermindern. Er tritt für die Abschaffung der Gefängnisse ein und spricht sich für moderne alternative Vollzugsformen aus, etwa auf Inseln mit größtmöglicher Selbstbestimmung der Gefangenen. Er formuliert genauso Überlegungen für eine Gesellschaftsabhängigkeit dessen, was als kriminell erscheint (so prognostiziert er etwa zutreffend Wirtschafts- und Sexualstraftaten als Delikte, denen das besondere Interesse moderner Gesellschaften gilt), wie er Überlegungen zur situativen Kriminalprävention und zur Einrichtung transnationaler Ermittlungsbehörden und einer internationalen Zusammenarbeit bei der Prävention und Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität anstellt. Das von Menne zitierte Lob Franz von Lizsts, Lombroso habe „unermüdlich neue Gesichtspunkte heran[gezogen]“ (S. 245), trifft uneingeschränkt zu. Man findet auch in der heutigen Kriminologie nichts, was nicht in der einen oder anderen Weise bereits einen vorgreifenden Ausdruck in einer der fünf Ausgaben von Lʾuomo delinquente gefunden hätte. Nichts in den zum Teil wilden Spekulationen und manchmal verrückten Phantasien Lombrosos gerät wirklich zu nennenswerter Theorie, aber das Feld der Kriminologie ist bereits vollständig abgesteckt.

Insoweit gibt es Grund, Mennes differenzierte Beantwortung der Frage Lombroso redivivus? weiter aufzufächern. Menne gibt zwei Antworten. Zunächst: „Auf die Lombrosoʾsche Theorie im engeren Sinne bezogen, hat es zu keiner Zeit eine „Lombroso-Renaissance“ gegeben.“ (S. 261). Das ist in gewisser Weise richtig, doch darf man nicht übersehen, dass es gar keine Theorie Lombrosos im engeren Sinne gibt. Es gibt nur das Schreckgespenst einer solchen Theorie. Wenn man aber Lombroso, wie es seinem spekulativen multiperspektivischen Werk entspräche, dekonstruiert und als offene Baustelle betrachtet, dann hat es stets und zu allen Zeiten (bewusst oder unbewusst) Rückgriffe auf Lombroso gegeben und zwar nicht nur auf die kriminalbiologischen Prämissen, sondern auf das ganze Arsenal der kriminologischen Ideen. Lombroso ist bereits die ganze Kriminologie – als vorgreifende Skizze ihrer selbst, und daher kommt es auch, dass, wie Menne beobachtet, „[d]ie Funktion Lombrosos als Chiffre […] ungebrochen“ ist (S. 262). Daraus ergibt sich seine zweite Antwort: „Auch soweit Lombroso als Chiffre verstanden wird“, sei „die Diagnose einer ‚Lombroso-Renaissance’ unzutreffend“ (S. 262). Auch das ist nicht falsch, aber wiederum zu kurz gedacht. Es kann gar keine Lombroso-Renaissance geben, weil Lombroso die Kriminologie ist.

Mennes spezifisches Interesse liegt allerdings nicht darin, das Labyrinth der Kriminologie in Lombrosos Schriften freizulegen. Auch wenn er den hybriden Charakter des Werks und die Verfahrensweise permanenter Umarbeitung anspricht (vgl. S. 19 f., 21), kommt es ihm doch auf das wirkungsgeschichtliche Stereotyp an, auf Lombroso als Chiffre für die Naturalisierung des Kriminalitätsdiskurses, als Etikett für all jene Unternehmungen, die versuchen, dem Phänomen des „Delinquenten“ mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden, insbesondere auch im Kontext pseudo- oder scheinwissenschaftlicher Rahmentheorien, zu Leibe zu rücken.

Derart an einem naturalisierten Konzept von Kriminalität orientiert, entfaltet Menne ein dichtes und informatives Panorama kriminalanthropologischer, psychiatrischer und kriminalbiologischer Forschung. Die Hauptschauplätze sind Deutschland und die USA. Mit Lombroso selbst hält er sich nicht lange auf und zeichnet die Entwicklung vom ausgehenden 19. Jahrhundert zur historischen Hochphase der Kriminalbiologie (zur Etablierung dieses Begriffs s. S. 31 ff.) ab den zwanziger Jahren in Deutschland sowie in den Jahren von 1933 bis 1945 nach. Mennes Darstellung ist sehr genau, er arbeitet mit einschlägigen und weniger bekannten Quellen. Das ist lehrreich und bietet auch für zukünftige Studien zum Thema vorzüglich aufbereitetes Material. Mit persönlichen Wertungen hält sich der Autor zurück, es überwiegt der Charakter der beschreibenden Rekonstruktion. Auch nach 1945 wirkte Lombrosos Erbe fort. Konzepte der Psychopathie und der Asozialität lebten in den 1950er und 1960er-Jahren ungebrochen weiter, in der Umgangssprache bekanntlich bis heute. Wie Menne zu Recht hervorhebt, verschwindet die Kriminalbiologie auch nach der Paradigmenverschiebung zur Kritischen Kriminologie und zur Etikettierungstheorie Ende der 1960er-Jahre und in den 1970er-Jahren keineswegs. Und obwohl sie heute an Bedeutung verloren hat (vgl. dazu S. 139 ff.) sind neue, in die Zukunft weisende Ausprägungen dieses Paradigmas sehr lebendig, so etwa in Gestalt der Soziobiologie, der (modernisierten) Persönlichkeitspsychologie und, besonders öffentlichkeitswirksam, der sich auf bestimmte Ergebnisse der Hirnforschung stützenden Neurokriminologie. Die Kontinuität des kriminalbiologischen Paradigmas, die Menne herausarbeitet und eindrucksvoll belegt, ist allerdings nicht überraschend, denn Ursprung der Kriminologie ist immer die Konstruktion des störenden bedrohlichen Individuums („the alien other“, S. 255), so dass es keiner Reanimation Lombrosos bedarf, diese für das Fach grundlegende Unterscheidung zu aktualisieren.

„Lombroso redivivus“ hat demnach keine explikative, sondern eine rhetorische Funktion. Wie alle rhetorischen Figuren ist sie substanzlos, wenn man sie wörtlich nimmt. Für eine grobe Betrachtung oder eine politische Standortbestimmung erfüllen sie jedoch eine wichtige Funktion, wie vermutlich auch Menne konzedieren würde. Ob sich der Kriminalitätsdiskurs eher auf Personen oder auf das bezieht, was diese Personen von außen beeinflusst, besagt auch etwas über die Gesellschaft, in der das geschieht. Personenbezogene Kriminalitätskonzepte passen zu totalitären oder autoritären politischen Ordnungen, in denen der Gedanke, dass die Umstände schuld sein könnten, gar keinen Raum hat, weil die Umstände ja in guten Händen sind (vgl. exemplarisch das Zitat Edmund Mezgers, S. 36). Die Betonung individueller Merkmale passt aber genauso zur Ideologie des Neoliberalismus, weil die Hervorhebung des Individuums die ohnehin bestrittene Gesellschaft („there is no such thing as society“) entlastet. Umgekehrt gewinnt in nicht-totalitären, sozial-liberalen Ordnungen der Gedanke Raum, dass das Aufkommen von Kriminalität etwas ist, was mit der Gesellschaft selbst zu tun hat und ihre Verantwortung begründet. Wenn diese Vermutung über einen Zusammenhang von gesellschaftlicher Ordnung und kriminologischer Theorie stimmt, muss die gegenwärtige Entwicklung von liberalen zu marktradikalen und von solidarischen zu autoritären Ordnungen besorgen lassen, dass stigmatisierende und ausgrenzende Vorstellungen von Kriminalität weiter Konjunktur haben werden.

Am Neolombrosianismus sind daher die gesellschaftlichen Zustände schuld, nicht Lombroso. Hier informiert die Studie Mennes, indem sie aus der Chiffre Lombroso eine Kontinuität des biowissenschaftlichen Paradigmas in der Kriminologie entwickelt, indem sie einen in dieser Form jedenfalls für die deutsche Diskussion bislang nicht vorliegenden kohärenten, lückenlosen und eindrucksvollen Überblick über ihre Geschichte und Entwicklung liefert. Das Desiderat einer Dekonstruktion Lombrosos besteht freilich weiter fort.

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