Fritz Bauer Institut u.a. (Hrsg.): „Arbeit“, „Volk“, „Gemeinschaft“

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Titel
„Arbeit“, „Volk“, „Gemeinschaft“. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus


Herausgeber
Fritz Bauer Institut; Konitzer, Werner; Palme, David
Reihe
Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Retterath, München

„Nationalsozialistische Ethik“, „nationalsozialistische Moral“ – die Themen des von Werner Konitzer und David Palme herausgegebenen Jahrbuchs 2016 des Fritz Bauer Instituts wären vor einigen Jahren wohl noch auf Verwunderung und Skepsis, wenn nicht sogar auf völlige Ablehnung, gestoßen. Schließlich war der Nationalsozialismus eine Ideologie, die sich von allen humanistischen Moralvorstellungen verabschiedet hatte. Gleichwohl ist es sinnvoll und lohnenswert, die Frage nach der NS-Moral zu stellen, denn die Antworten darauf gewähren Einblicke in die nationalsozialistische Ratio und in die ihr zugrundeliegenden Logiken.

Das vorliegende Jahrbuch beruht auf einer im September 2015 abgehaltenen Tagung. Selbstredend tut es dies nicht vollumfänglich oder gar abschließend, aber seine Autor/innen werfen in ihren Beiträgen Schlaglichter auf einige philosophische (Vor-)Denker und zentrale Kategorien der NS-Moral sowie ferner auf die Realitäten im NS-Staat und die Deutungen nach 1945. Leider erscheint der für den Band gewählte Titel „‚Arbeit‘, ‚Volk‘, ‚Gemeinschaft‘. Ethik und Ethiken im Nationalsozialismus“ nicht recht treffend, da die drei im Haupttitel genannten Konzepte nicht in allen Aufsätzen behandelt werden. Hatten die Herausgeber Bedenken, das in Bezug auf den Nationalsozialismus provozierende Wort „Moral“ in den Titel zu heben?

Einleitend plädiert Johann Chapoutot dafür, die intellektuelle und philosophische Fundierung des Nationalsozialismus sowie dessen Versuch, eine „normative Revolution“ (S. 16) durchzuführen, ernst zu nehmen. Das NS-Denken knüpfte seiner Ansicht nach „an den Kontext der abendländischen Kultur jener Zeit“ (S. 18) an. Die neuen nationalsozialistischen Normen hätten auf einer radikalen Kulturkritik beruht, bei der die Kategorie „Rasse“ im Mittelpunkt gestanden habe.

Mit dem Philosophen Alfred Baeumler beschäftigt sich der Beitrag von Johannes Steizinger. Baeumler übte mit seiner „‚neue[n] Philosophie des Menschen‘“ (S. 30) „radikale Kritik“ (S. 31) am tradierten Humanismus und sah die „‚Reinerhaltung der Art‘“ als einen „biopolitischen Imperativ“ (S. 33) an. Wissenschaft durfte seiner Ansicht nach nicht objektiv sein, sondern musste eine „weltanschauliche Grundlage“ (S. 35) haben. Den Universalismus betrachtete er als „Gefährdung der partikularen Lebensform der Völker“ (S. 43) und lehnte ihn daher ab. Da Steizinger in seinem Aufsatz die Rezeption Baeumlers während der NS-Zeit nicht näher behandelt, bleibt allerdings offen, wie wirkmächtig beziehungsweise anerkannt dessen Ansichten zeitgenössisch waren.

Johanna Bach wiederum setzt sich mit der für die Nationalsozialsozialisten zentralen Kategorie „Arbeit“ auseinander. Die Propaganda nutzte das Narrativ vom „deutschen Arbeitsethos“ (S. 49) zur Ausgrenzung von Juden, Sinti und Roma sowie „Arbeitsscheuen“ aus der „Volksgemeinschaft“. Die nationalsozialistische Gemeinschaft definierte sich in hohem Maße über Arbeit. In dieser Logik war es nur folgerichtig, dass „Gemeinschaftsfremde“ in Arbeitslager (sprich: Konzentrationslager) eingesperrt wurden. „Arbeit“, das macht Bachs Aufsatz deutlich, war ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender nationalsozialistischer Wert, der in der Forschung bislang noch zu wenig Beachtung gefunden hat.

Weitere Aufsätze gehen auf einzelne Denker beziehungsweise Strömungen näher ein: David Palme behandelt den Philosophen August Faust, der – ähnlich wie Baeumler – im Nationalsozialismus die erhoffte völlige Abkehr von vormals geltenden Moralvorstellungen erblickte. Philosophen wie Faust, so Palmes pointiertes Urteil, hätten nicht nachträglich die nationalsozialistischen Verbrechen gerechtfertigt, sondern vielmehr selbst den geistigen Antrieb für sie geliefert (S. 81). Michael Schefczyk und Uri Kuchinsky untersuchen den Berliner Ordinarius Nicolai Hartmann und dessen ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus. Ihr Beitrag macht deutlich, wie schwer bisweilen die Frage nach Nähe oder Distanz zum „Dritten Reich“ zu beantworten ist. Mit der „Freiheit zum Tode“-Philosophie Martin Heideggers beschäftigt sich Emanuel Kapfinger. Er stellt die These auf, dass in dieser Denkfigur eine spezifisch „nationalsozialistische Subjektivität“ (S. 107) zum Ausdruck komme – in doppelter Abgrenzung: sowohl zum Individualismus als auch zur Massenkultur.

Der im Nationalsozialismus zu verzeichnenden „Hegel-Begeisterung“ (S. 131) und der Gruppe der Neuhegelianer widmet sich Steffen Kluck. Er zeigt auf, dass sich die völkische Staatsphilosophie letztlich auf die Interpretation eines Abschnitts aus Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ bezog. Die Neuhegelianer nahmen eine Gegenposition zum Individualismus der Aufklärung ein und billigten der Gemeinschaft die Macht zu. Der „Führer“ war in ihren Augen „Sprachrohr und Verwirklicher des objektiven Geistes“ (S. 146f.). Leider behandelt Kluck die genannten Philosophen nur als Gruppe und stellt sie nicht als Einzelpersonen vor – ein stärker biografischer Fokus hätte möglicherweise detailliertere Antworten auf die Frage nach Nähe oder Distanz zum Nationalsozialismus geben können. Ebenfalls auf die Hegel-Interpretation während der NS-Zeit geht Rastko Jovanov ein. Für Neuhegelianer wie Larenz und Binder sei der „mit dem Willen der Gemeinschaft“ (S. 162) identische „Wille des Führers“ die „einzige Quelle des gesamten Rechts“ (S. 158) gewesen, so Jovanov. Hitler sei in diesem Denken eine göttliche Autorität zuerkannt und die Revolution zum Normalfall erklärt worden.

Im zweiten Teil widmet sich der Sammelband den Auswirkungen der philosophischen Konzepte auf die Herrschaftspraxis im Nationalsozialismus und auf die Nachkriegszeit. Christian Dries fragt danach, was hochrangige NSDAP-Funktionäre unter „Urteilskraft“ verstanden. Am Beispiel von Hans Frank zeigt er auf, welche Vorstellungen von Verantwortung und effektivem Verwaltungshandeln während des Nationalsozialismus kursierten: Funktionsträger sollten nach Ansicht Franks ihre „Urteilskraft und Entschlussfreude“ (S. 189) nutzen, um Entscheidungen zu treffen. Hierbei hatten die einzelnen Akteure erhebliche Handlungsspielräume. Sie seien keine bloßen „Rädchen im Getriebe“ (S. 189) gewesen, so Dries.

Mit der nationalsozialistischen Sexualpolitik und Geschlechterrollen beschäftigt sich Ljiljana Radonić. Sie verwirft dabei das Bild von der im „Dritten Reich“ entsexualisierten und unterdrückten Frau. Dieses beruhe auf einer Uminterpretation seit den 1950er-Jahren. In Anlehnung an Dagmar Herzog beschreibt Radonić die Mischung von sexueller Freizügigkeit und bürgerlichen Moralvorstellungen im Nationalsozialismus sowie die neuen beruflichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten, die das Regime Frauen eröffnete.

Einen Blick auf das Fortleben nationalsozialistischer Arbeits- und Führungsvorstellungen wirft Nikolas Lelle. Er geht zunächst – wie Johanna Bach – auf den Diskurs um den Topos „deutsche Arbeit“ ein und untersucht anschließend, wie NS-Konzepte nach 1945 in der Bad Harzburger Führungskräfteakademie fortlebten. Reinhard Höhn, der Begründer dieser bundesdeutschen Manager-Schule, war schon während des „Dritten Reichs“ als SS-Offizier und Leiter des Instituts für Staatsforschung in der Führerausbildung tätig gewesen. In der Nachkriegszeit lehrte er mit dem „Harzburger Modell“ Führung bei gleichzeitiger „Delegation von Verantwortung und Entscheidungsbefugnis“ (S. 217). Rhetorisch grenzte sich Höhn gegen den autoritären Leitungsstil vergangener Zeiten ab. Doch war sein Modell in Wahrheit keineswegs so antifaschistisch und antiautoritär. Schließlich hatten bereits die Nationalsozialisten einen neuen, durch Disziplin, Kameradschaft und Respekt geprägten Führungsstil propagiert.

Jugendspielfilme während des Nationalsozialismus behandelt der Beitrag von Bernd Kleinhans. Detailliert analysiert er den Film „Junge Adler“ von 1944. In diesem und in den weiteren vier Genrefilmen hätten die Protagonisten die Eigenschaften und Wünsche der jugendlichen Zuschauer repräsentiert und seien anfangs „keine perfekten nationalsozialistischen Persönlichkeiten“ (S. 238) gewesen. Im Laufe der Filme seien sie dann vom Kollektiv geformt worden. Dass diese Erziehung von und zur „Volksgemeinschaft“ mit einer „vollkommenen Unterwerfung der Individuen unter die hierarchischen Strukturen und Normen des NS-Systems“ einhergehe, bliebe in den Filmen nicht verborgen, so Kleinhans.

Volker Böhnigk stellt in seinem Beitrag fest, dass die Nationalsozialisten zwar den Universalismus abgelehnt, aber keineswegs relativistisch oder partikularistisch gedacht hätten, wie vielfach nach 1945 behauptet worden sei. Unter den führenden Philosophen während des „Dritten Reichs“ habe es keinen einzigen Anhänger dieser Strömungen gegeben. Der Autor betont, dass es sehr wohl eine nationalsozialistische Philosophie gegeben habe. Anderslautende Behauptungen führten seiner Ansicht nach zu einer „ignoranten, gar geschichtsverfälschenden Darstellung des Verhältnisses von Wissenschaft und Nationalsozialismus“ (S. 258).

Abschließend blickt Werner Konitzer auf die Thematisierung von „Moral“ im Nationalsozialismus. Zeitgenössisch seien hierfür meist Begriffe wie „Weltanschauung“, „Ethik“ oder „Sittlichkeit“ verwendet worden. Mit Max Horkheimer, Aurel Kolnai und Julius Ebbinghaus untersucht Konitzer drei zeitgenössische Kritiker des Nationalsozialismus und deren Einschätzung der NS-Moral. Während Horkheimer in ihr eine Fortentwicklung der bürgerlichen Moral erblickte, betonte Kolnai, dass die NS-Moral von der „‚Relativität der Werte und der Absolutheit der Macht‘“ (S. 271) geprägt sei und im Gegensatz zum bürgerlichen Liberalismus stehe. Ebbinghaus hingegen sah sie einzig aus der nationalsozialistischen Weltanschauung abgeleitet. Die darin zum Ausdruck kommende Ablösung der NS-Moral von ihrer Entstehungstradition habe den Diskurs bis heute geprägt, konstatiert Konitzer.

Wie dargelegt bietet das Jahrbuch 2016 des Fritz Bauer Instituts eine Vielzahl an interessanten Beiträgen. Zwar ist bei den Aufsätzen, die Praktiken im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit behandeln, nicht immer auf den ersten Blick der Bezug zum Überthema des Bandes ersichtlich, gleichwohl liefern sie viele neue Erkenntnisse zur NS-Geschichte. Bleibt zu hoffen, dass der Band Anstoß zu weiteren Forschungen gibt.

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