Y. Slezkine: House of Government

Cover
Titel
House of Government. A Saga of the Russian Revolution


Autor(en)
Slezkine, Yuri
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 1104 S.
Preis
€ 34,49; £ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Schlögel, Berlin

Es ist schade, wenn ein Rezensent mit Äußerlichkeiten anfangen muss, in diesem Fall mit Aufmachung und Gestaltung des Buches von Yuri Slezkine durch seinen amerikanischen Verlag (immerhin Princeton UP): Das 1104 Seiten-Buch, auf dickem Papier gedruckt – in einem leserfreundlichen Satzspiegel hätte es gut 1600 Seiten ergeben –, lässt sich kaum in Händen halten und nur mit Mühe umblättern. Lesen wird hier fast zum Ringen mit der Materialität des Buches, das von dem großen Gegenstand ablenkt, den sich der in Berkeley lehrende Russland-Historiker vorgenommen hat; ihm verdanken wir bereits so wegweisende Studien wie die zum Sibirien-Mythos in der russischen Kultur (1994) oder zum „Jüdischen Jahrhundert“ (2004).1 Seine Studie ist so monumental wie der Bau, um dessen Geschichte und dessen Bewohner sie kreist, und der vielen seit Juri Trifonows autobiographisch grundierten Roman „Das Haus an der Moskwa“ geläufig ist.2

Nur selten ist der Gedanke, dass sich in der Geschichte eines Hauses die Schicksale einer ganzen Epoche spiegeln, so ernst genommen und historiographisch in die Tat umgesetzt worden wie in Slezkines Buch. Das „Haus der Regierung“ wurde während des 1. Fünfjahrplans im Schnittpunkt vieler Kraftlinien errichtet: auf sumpfigem Grund am Ufer der Moskwa, der erst trockenzulegen war, das Machtzentrum – der Kreml – in Sichtweite, und vis-a-vis der Christ-Erlöser-Kathedrale gelegen, die dem Palast der Sowjets hatte weichen müssen. Fast als wollte Slezkine den Nachweis für die Einheit von „Zeit und Ort“ – so der Titel eines anderen Buches von Juri Trifonow3 – erbringen, wird hier die Geschichte derer, die vom Bolschewismus getragen waren oder die ihm zu seiner Stoßkraft verholfen hatten, dargestellt, ja im besten Sinne: erzählt. Es ist der Ort eines präzedenzlosen Aufstiegs einer Führungselite und ihres ebenso dramatischen Zusammenbruchs, verkörpert in Leben, Überleben und Sterben der Bewohner dieser Stadt in der Stadt, die Boris Iofan entworfen hatte.

Das Haus der Regierung ist vieles in Einem: Stadt in der Stadt, privilegiertes Habitat, gated community, Menschenfalle. 1935 lebten dort 2.655 Menschen, davon an die 700 führende Funktionäre der Nomenklatura. An die 800 Mieter und zahlreiche Bedienstete verschwanden im Laufe der 1930er und 1940er Jahre. Es fehlte in dem an US-amerikanischen compounds orientierten Komplex an nichts. Es gab unterschiedlich große Apartments, Theater, Bibliotheken, Spezialgeschäfte, Sportanlagen, Garagen, Clubs, Kindergärten, Cafeterien, Schieß-Übungsanlagen, Polikliniken. Es ist das ästhetisch anspruchsvolle und in allen Einzelheiten durchdachte Gesamtkonzept einer Wohnmaschine und einer Lebenswelt, die Slezkine minutiös über viele Jahrzehnte hinweg rekonstruiert – von den Wohngrundrissen und Müllschluckern bis zum Theaterrepertoire und dem Warensortiment der Spezialgeschäfte.

Herauskommt das Bild eines soziokulturellen Biotops. Dieses wird auf verschiedenen Ebenen analysiert – als Geschichte der dort aufeinander treffenden und zusammenlebenden oder auch wieder auseinandergerissenen Personen-,Verwandtschafts- und Freundschafts-Zusammenhänge, als der Ort, an dem sich die spezifische kulturelle und mentale Formation einer ganzen Generation zu einem Lebensstil, zu einem Habitus verdichtet hat. Slezkine sieht in einer Prägung durch millenaristische Endzeit- und Erlösungsvorstellungen das Spezifische und diese Alterskohorte von Aktivisten Einigende, das mit dem Untergang der „alten Garde“ auch keine Weiterführung erfährt. Eine dritte Ebene ist der kulturell-literarische Raum, in dem sich die Angehörigen dieser Elite über alle sonstigen politischen und fraktionellen Differenzen und Kontroversen hinweg verständigten. Familiensaga heißt das Buch im Untertitel und deutet damit an, dass im Zentrum nicht eine Ideologie- und Doktringeschichte, nicht politische Entscheidungsprozesse oder Institutionen stehen, sondern der personale Kern, der innere Kreis, ja der Familien- und Verwandtschaftszusammenhang steht.

Die Herausbildung, Verfertigung und Zerstörung dieses Generationszusammenhangs wird in drei großen Schüben dargestellt, sie entsprechen den drei „Büchern“ – En Route, At Home, On Trial –, die die Architektur der Studie ausmachen. Grundlage der Darstellung sind die Lebenswege der zwischen 1880 und 1990 Geborenen in ihren, wie sich später herausstellte, charakteristischen Stationen und simultanen Verlaufsformen: Elternhaus, Studium, frühe Politisierung, Untergrundkampf, Leben in Verbannung und Emigration, Hochaktivismus in den Phasen der Revolution, die existenzielle Erfahrung des Kampfes auf Leben und Tod im Bürgerkrieg, physische und psychische Erschöpfung und Desillusionierung in den „Mühen der Ebene“ der NEP-Zeit. Der Beginn des ersten Fünfjahrplans erscheint als Wiedereintritt und Wiederaufnahme von Revolution und Bürgerkrieg, mit der sich diese Generation, den vielfältigen Zwängen und „Gesetzmäßigkeiten“ sich beugend, identifiziert und wo sie gleichsam „ankommt“, wo sie ihren spezifischen way of life ausbildet mit allem, was dazugehört: Hinnahme und Genuss der Privilegien, Etablierung einer Häuslichkeit, die Vera Dunham so früh schon erkannt und so luzide als „middle class values“ beschrieben hatte4, die paradoxe Gleichzeitigkeit von anmaßender Selbstermächtigung und die für Menschen dieses Schlags doch schockierende Bereitschaft zur Unterwerfung im Namen einer „objektiven Logik der Geschichte“. Ihren Höhe- und Endpunkt findet diese Entwicklung in der Vernichtung und Selbstzerstörung der Elterngeneration und dem Ende der glücklichen Kindheit derer, die nun als „Kinder von Volksfeinden“ weiterleben müssen oder dürfen.

Zusammengehalten werden diese Entwicklungsschübe nicht durch eine neue Periodisierung – sie ist mehr oder weniger konventionell –, sondern durch die Charakterisierung der bestimmenden Akteure als einer von Endzeit- und Erlösungsgedanken geprägten, sich geradezu in Untergangs- und Endzeitvisionen hineinsteigernden Vorhut einer als universal verstandenen sozialen Umwälzung. Revolution und Bürgerkrieg (erstaunlicherweise nicht der Erste Weltkrieg), der Sturm- und-Drang der „Revolution von oben“, der Furor des „letzten Gefechtes“ und die annihilatorische „Lösung ein für alle mal“ der sozialen Frage (raz i navsegda – so Nikolaj Jeshow), bildeten den Erfahrungs- und Erwartungshorizont, in dem sie sich am besten orientierte und zurechtfand. Als eine letzte Aufgipfelung erscheint die Selbstaufopferung im deutsch-sowjetischen Krieg, dem immer schon befürchteten und lang erwarteten Endkampf zwischen den Mächten der Finsternis und der Menschheitsbefreiung. Es waren die Besten der im Haus der Regierung herangewachsenen Jugend, die in diesen Kampf zogen und darin umkamen.

Man kann in dieser für millenaristische Sektenbewegungen typischen Grundstimmung und psychologisch-mentalen Verfasstheit des harten Kerns der Revolutionäre einen neuen Schlüssel zur Interpretation der Wucht, aber auch der Kurzlebigkeit des bolschewistischen Experiments sehen, und Slezkine legt darauf in der Einleitung und im Epilog den allergrößten Nachdruck, doch liegt die Originalität seiner Arbeit weniger in den zu ausführlich geratenen religionsgeschichtlichen Exkursen und Thesenbildungen, sondern eher in der Erschließung eines Erfahrungs- und Aktionsraumes, wie es ihn bisher in der russisch-sowjetischen Geschichtsschreibung nicht gegeben hat. Hunderte von Lebenslinien werden in ihrer Parallelität und Paradoxie vorgeführt. Memoiren, Briefwechsel, Selbstzeugnisse aller Art, verfasst von Vertretern einer intellektuell und analytisch geschulten Generation, die mit „allen Wassern gewaschen“ war, hoch reflexiv (bis zum Endpunkt der in Hegelianischen Denkfiguren vorgebrachten Selbstdenunziation in den Schauprozessen), werden erschlossen; Kronzeugen dafür sind Gestalten wie die von A. Arosew, V. Osinski, A. Woronski, Iwar Smilga, Julija Pjatnizkaja, Natalja Sas. Literarische Werke, in denen sich der Geist der Epoche kristallisiert, werden in genauer Lektüre neu entdeckt und interpretiert (so etwa Andre Platonow, Leonid Leonow, Alexander Serafimowitsch, Larissa Reissner).

Die ausführlichen Zitat-Passagen lassen manchmal an ein Montageverfahren denken. Nicht die blanken politischen Aussagen interessiert, sondern das Beiläufige, das Banale des Alltags, die Artikulation von Gewissheit und Selbstzweifel, die Aufschluss geben über das Innenleben der Akteure. Hier spielen Redewendungen, Stimmungen, Begegnungen, Lektüren, Musikunterricht für die Kinder, der Sommer auf der Datscha, persönliche Eigenschaften – ob Mut oder Feigheit – eine Rolle. Endlich kommen die guten Menschen zu Wort, die es in diesem Pandämonium aus Willkür und Terror auch gegeben hat, jene an die Gottesnarren des alten Russlands erinnernden furchtlosen, jederzeit hilfsbereiten Menschen – etwa Anna Redens, die Frau des später selber liquidierten Stanislaw Redens, die sich wie selbstverständlich um die Rettung der über Nacht zu Waisen gewordenen Kinder von „Volksfeinden“ gekümmert hat.

Die Einheit von Ort und Zeit verpflichtet. Der Mikrokosmos im Haus der Regierung registriert schon physisch jede Veränderung: Wohnungen werden ständig neu belegt oder versiegelt, die einen verschwinden, die anderen ziehen ein, die Opfer wohnen neben den Tätern und die Täter werden selber zu Opfern. Aufstieg der einen und Absturz der anderen lassen sich lokalisieren, die ausgewechselten Namensschilder an den durchnummerierten Apartments zeigen, wie die Säuberungen durchschlagen. Je mehr man über die Binnenbeziehungen des „harten Kerns“ erfährt, desto mehr gewinnt man die Gewissheit, dass das geschichtliche Leben nicht nur von „Strukturen“ und „Prozessen“ bestimmt wird, sondern in gleichem Maße, wenn nicht mehr, von Leidenschaften, Überlebenswillen, Hass, Liebe, Not. Die großzügige und genaue Bebilderung führt uns – wenn auch in mangelhafter Qualität der Reproduktionen – Gesichter vor: Gesichter aus glücklichen Tagen, Polizeiphotos vor und nach den Verhören, Epochengesichter.

Angesichts des ungeheuren Reichtums von Slezkines Darstellung mag der Leser einige (auffällige) Lücken in Kauf nehmen: die fast vollständige Abwesenheit des Militärs, dessen Angehörige im Haus der Regierung doch ein beträchtliches Kontingent gestellt hatten; ein Versuch wie der von Maurice Merleau-Ponty, die Unterwerfung unter die Regie des Schauprozesses hegelianisch zu deuten, bleibt unerwähnt; die Gigantomanie in nächster Nachbarschaft – die Sprengung der Christ-Erlöser-Kathedrale und der Beginn des Baus des Palastes der Sowjets – kommt nur beiläufig vor.

Slezkine beherrscht die Register: er kann große Modernisierungsschübe in wenigen Strichen zusammenfassen, er folgt detektivisch den Affären seiner Protagonisten, und er beschreibt Menschen und Szenen, die man nicht ohne Bewegung lesen kann (wie jene über den Zusammenhalt der „Kinder der Volksfeinde“ und die selbstlosen „guten Menschen“). Er liebt die Zuspitzung, und reizt sie bis zum Umkippen aus: Nicht die Revolution frisst ihre Kinder, schreibt er, sondern die Kinder verzehren die Revolution, lassen sie hinter sich, sind über sie hinaus. Für ihn geschieht dies im Werk Juri Trifonows, der aus dem historischen Haus der Regierung das literarische „Haus an der Moskwa“ werden lässt. Die zahlreichen Interviews, die Slezkine ab Mitte der 1990er Jahre in Moskau geführt hat, waren nicht nur ein Rettungsversuch, Stimmen und Wissen für die Nachwelt zu retten, die ohne ihn verloren gegangen wären, sondern sie zeigen, mit welcher Hingabe der Autor seine eigene Lebensarbeit mit dem „Leben der Anderen“ verbunden hat. Zum Schluss und damit zurück zu der eingangs gemachten Bemerkung: der Verlag, der die deutsche Ausgabe, die man sich sehnlichst wünscht, vorbereitet, muss alles tun, um dem monumentalen Werk auch die ihm angemessene Form zu geben, wenn nötig auch in zwei oder drei Bänden.

Anmerkungen:
1 Yuri Slezkine, Arctic Mirrors. Russia and the Small Peoples of the North, Ithaca 1994; Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2004 (dt. Übersetzung 2006).
2 Juri Trifonow, Das Haus an der Moskwa, München 1977.
3 Juri Trifonow, Zeit und Ort, München 1982.
4 Vera Dunham, In Stalin's Time. Middleclass Values in Soviet Fiction, Durham 1990.