H. Pauer-Studer u.a.: Konrad Morgen

Titel
"Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin". Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen


Autor(en)
Pauer-Studer, Herlinde; Velleman, J. David
Erschienen
Berlin 2017: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johanna Rakebrand, Berlin

1943 hat Heinrich Himmler in seinen Posener Reden dem „Anstand“ ein Gepräge gegeben, das er seitdem nicht loswird. Unter allen Zitaten dieser Reden ist Himmlers Einschätzung einer „anständig geblieben[en]“ SS sicher das berüchtigtste. Auch anhand dieser Rede hat der Sozialpsychologe Harald Welzer herausgearbeitet, dass es gerade die von Himmler immer wieder betonte Verknüpfung von „Anstand“ und „Moral“ zur „Tötungsmoral“ möglich machte, „sich noch im Morden als anständig zu empfinden“.1

Diese „Moral“ war es auch, die im Oktober 1939 bei der Einführung einer eigenen Gerichtsbarkeit für die Angehörigen der SS herangezogen wurde. Weder die Militärgerichte der Wehrmacht noch die ordentliche Gerichtsbarkeit seien in der Lage, den besonderen Ehrenkodex der SS zu durchdringen. Das sollte spezielles Personal übernehmen, Volljuristen zwar, aber „kein[e] Sklave[n] des Gesetzes“, sondern vielmehr „politische[...] Kämpfer und Erzieher “ wie James J. Weingartner in seiner Auseinandersetzung mit Konrad Morgens Vita den programmatischen Anspruch zusammenfasste (S. 80).2. Dieser Konrad Morgen war ab 1940 einer der so idealtypisch charakterisierten SS-Richter. Ihm widmen die beiden Philosophieprofessoren Herlinde Pauer-Studer (Wien) und J. David Velleman (NYU) eine Studie, die sie selbst als „moralische Biografie“ (S. 10) verstehen.

Dieser Konrad Morgen, 1909 geboren, war im Grunde ein Durchschnittsjurist, auch wenn er sich aus der Familie eines Lokomotivführers stammend zum Richter hochgearbeitet hatte. Seit März 1933 Mitglied der SS, war Morgen nach seinem Assessorexamen im September 1938 kurz in der ordentlichen Gerichtsbarkeit tätig, bevor er zu Beginn des Jahres 1941 SS-Hilfsrichter im „Generalgouvernement Krakau“ wurde. In den kommenden Jahren erlebte Morgen, wie die europäischen Juden ghettoisiert, verschleppt, misshandelt, zu Tausenden erschossen, bei medizinischen Experimenten gequält und getötet und schließlich in Gaskammern ermordet wurden. Morgen war für die strafrechtliche Aufarbeitung dabei begangener Verbrechen verantwortlich. Und er ermittelte bis 1945 mit großer Akribie innerhalb der SS. Allerdings nicht vorrangig wegen Mordes, sondern wegen Korruption. Morgen erzürnte, dass Mitglieder der SS (Zahn-)Gold oder Wertgegenstände der Häftlinge unterschlugen, stahlen, hehlten und veruntreuten. Morgens „obsessive Beschäftigung“ (S. 84) mit Korruption innerhalb der SS führte ihn in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Auschwitz und ließ ihn selbst gegen hohe SS-Funktionäre wie Georg von Sauberzweig (S. 84ff.) und Herrmann Fegelein (S. 89ff.) Ermittlungen aufnehmen.

Dreierlei wollen die Autoren mit ihrer Darstellung versuchen: Erstens soll nachgezeichnet werden, „wie das moralische Bewusstsein eines Mannes mit einer zutiefst unmoralischen Welt zurechtzukommen versuchte“ (S. 10), zweitens versteht sich das Buch als „konkrete[n] Beitrag zur philosophischen Analyse moralischer Prinzipien unter [...] politisch nicht idealen Verhältnissen“, und drittens wollen die Autoren auch einen relevanten Beitrag für die Rechtsphilosophie leisten (S. 12).

Der Historiker Nikolaus Wachsmann hat in seinem 2016 erschienenen Buch „KL“ eine charakterliche Einschätzung Konrad Morgens gegeben. „Gewieft“ sei Morgen gewesen, habe es verstanden, „sich selbst als unermüdlichen Vorkämpfer für Recht und Ordnung“ darzustellen. Verschiedene Historiker seien „auf seine Pose hereingefallen [...]. Doch seine Aussagen nach dem Krieg waren Schutzbehauptungen, durchlöchert von Auslassungen und schamlosen Lügen.“3 Dieser Einschätzung wollen sich Pauer-Studer und Vellemann explizit nicht anschließen; sie entbehre der Grundlage (S. 9, Fn. 5). Mit Morgens Gerechtigkeitsbegriff verhalte es sich komplizierter, er habe versucht, „seiner komplexen, teils widersprüchlichen normativen Bindung zu entsprechen“, so der Ausgangspunkt der in achtzehn Kapitel unterteilten Studie.

Die Einleitung führt in den „rechtstheoretische Kontext“ der NS-Zeit. Dort werden bündig Strafrechtskonzeption, Richterverständnis, Polizeistrafrecht und die Verquickung von Recht und Moral abgehandelt. Das Verhältnis zwischen den beiden letzteren ist Ausgangspunkt der anschließenden „rechtsphilosophischen Überlegungen“ (S. 39ff.); hier kommt Ronald Dworkins Ideal richterlicher Moralerkenntnis zentrale Bedeutung zu, demzufolge Richter auch dort, wo das positive Recht keine Antworten mehr gebe, eine anhand „moralischer Wahrheiten“ eindeutige Entscheidung treffen könnten (S. 42). Im Nachwort, so die Autoren, soll Morgens Verhalten im Lichte von Dworkins Ideal bewertet werden, um so Schlüsse für die Rechtsphilosophie ziehen zu können.

Die eigentliche Analyse gliedert sich in zwei Teile. Kapitel 2 bis 6 suchen drei Stränge miteinander zu verflechten: Morgens Werdegang als SS-Richter einschließlich seiner ersten Ermittlungen, den damit im unmittelbaren Zusammenhang stehenden historischen Kontext (Morgens Eintritt in die SS, die Vorstellungen eines SS-Ehrenkodex, die SS-Gerichtsbarkeit an sich, nationalsozialistische Konzepte wie Tätertypenlehre und Rassenideologie) und schließlich Morgens Einstellungen zu diesem Umfeld. Kapitel 7 beschreibt die von den Autoren als „Krise“ bezeichnete Phase in Morgens Karriere, als er „zum Gefreiten degradiert“ im Frühjahr 1942 in die Sowjetunion abkommandiert wurde (S. 121f.). Ein Jahr später wurde Morgen auf Befehl Himmlers zurück nach Berlin beordert, um erneut Korruptionsverbrechen zu untersuchen. Kapitel 8 bis 16 widmen sich Morgens wiederaufgenommener Tätigkeit als SS-Richter, mit dem Unterschied, dass Morgen nicht mehr allein wegen Korruption, sondern nun auch wegen der Tötungen von Häftlingen zu ermitteln begann. Die erste Station hieß ab Sommer 1943 Buchenwald (Kapitel 7 und Kapitel 9), wo Morgen gegen den dortigen Lagerkommandanten Karl Otto Koch (Kapitel 8), dessen Frau Ilse und den Lagerarzt Waldemar Hoven (Kapitel 9, 10 und 11) ermittelte. Daran schließen sich Ausführungen zu den widersprüchlichen Narrativen darüber an, wann Morgen von der „Endlösung“ wusste (Kapitel 12), zu seinem Bericht über Massenerschießungen in Majdanek, Poniatowa und Trawniki und seine anschließenden Ermittlungen (Kapitel 13) bis hin zu Morgens Nachforschungen in Auschwitz (Kapitel 14), seine Ermittlungen gegen Adolf Eichmann (Kapitel 15) und Rudolf Höß (Kapitel 16 und 17) bis zum Kriegsende (Kapitel 18).

Das Lesen der teils sehr detaillierten Chronologie ist mühsam. Der Aufbau des Buches wird erst im Nachhinein verständlich und dann auch nur dem, der große Anstrengung darauf verwendet, im Strudel der schrecklichen Details nicht die übergeordnete Fragestellung aus den Augen zu verlieren. Selten gibt es strukturgebende Zusammenfassungen, etwa in wie vielen Lagern Morgen insgesamt und zu welchen einzelnen Delikten er ermittelte. Tötung und Mord, Anklage und Ermittlung, diese Begriffe werden nicht sauber getrennt.

Hinzu kommen argumentative Mängel. Mitunter widersprechen sich die Autoren selbst, etwa wenn zunächst Morgens Fähigkeit zur „tiefen Anteilnahme“ am Schicksal einer Zeugin geschildert wird (S. 261), einige Seiten später aber von seinen besitzergreifenden Tendenzen jener Zeugin gegenüber die Rede ist und konzediert wird, seine Empathie sei „wohl auch durch den persönlichen Charme der Zeugin bestimmt“ gewesen (S. 266). Häufig wird außerdem versucht, aus isolierten Einzelheiten eine generelle These zu generieren. So muss etwa ein studentischer Aufsatz Morgens von 1936 im Bereich des internationalen Rechts dafür herhalten, dessen vermeintliche Ablehnung der Rassenideologie zu belegen (S. 115).

Am meisten verwirrt jedoch, dass Pauer-Studer und Velleman einer Chronologie der Ereignisse folgen, nicht einer Chronologie der Quellen. Der grundsätzliche Mangel ihrer Ausführungen liegt darin, dass Aussagen vor und nach 1945 zwar als solche gekennzeichnet, in der Beweisführung aber nicht unterschieden werden. Der naheliegenden Möglichkeit einer veränderten Selbstdarstellung durch Morgen wird nur sehr unzureichend Rechnung getragen. So stützen Pauer-Studer und Velleman ihre Einschätzung, Morgen sei wegen seiner Ermittlungen für die SS untragbar geworden, einzig auf Aussagen, die Morgen selbst nach 1945 abgegeben hat (S. 120f.). Auch die These, Morgen habe einen Haftbefehl gegen Adolf Eichmann angestrengt, ergibt sich ausschließlich aus Quellen der Nachkriegszeit, wobei hier außer Morgen selbst (S. 238ff.) pikanterweise auch Eichmann als Kronzeuge Verwendung findet (S. 243). Gleiches gilt für charakterliche Einschätzungen. Freimütig wird Morgen von den Autoren die Fähigkeit zum „ehrlichen Mitgefühl für die Opfer“ attestiert, die Aussagen, die zur Unterstützung dieser These angeführt werden, stammen aber von Morgen selbst und wurden dann auch noch 1946 in amerikanischem Gewahrsam (S. 126, 148) getätigt. Das Fehlen jeder quellenkritischen Distanz ist in solchen Passagen durchaus verblüffend.

Überraschenderweise ist dann das Nachwort, das die Ergebnisse der Analyse resümiert, vollkommen nachvollziehbar. Einleuchtend wird dort beschrieben, dass Morgen vor allem daran gelegen war, sein Verständnis einer „moralischen Reinheit“ (S. 285) der SS durchzusetzen, er das Konzentrationslager jedoch nicht aus prinzipiellen Gründen verurteilte. Dass Morgens Gerechtigkeitsbegriff im Kern aus einer Besessenheit bei der Verfolgung einzelner Korruptionsverbrechen gepaart mit „fehlendem Sinn für den größeren politisch-verbrecherischen Zusammenhang“ bestand (S. 131), wird auf diese Weise sehr deutlich. Ebenso wird im Nachwort schlüssig dargelegt, dass „Morgens Dünkel als Jurist“ und „eine an Selbsttäuschung grenzende Selbstgefälligkeit“ diese isolierende Sichtweise verstärkte (S. 285). Doch – und das ist entscheidend – diese Schlüsse haben mit der bis dahin erzählten Geschichte vom „Untersuchungsrichter, der gewillt war, etwas gegen die »Endlösung«“ zu unternehmen (S. 248), nur wenig zu tun.

Die Erkenntnisse für die Moral- und Rechtsphilosophie sind begrenzt: Entsprechend ihres in der Gegenwart verankerten moralischen Maßstabes zur Beurteilung der Person Morgen kommen die Autoren lediglich zu der Einsicht, Morgen habe sich nicht an Ronald Dworkins Empfehlung aus dem Jahr 1998 orientiert (S. 295). Der Rechtsphilosophie wird geraten, Vorsicht bei Forderungen nach der Vermischung von Recht und Moral walten zu lassen (S. 298).

Am Ende der Lektüre stellt sich die Frage, was an Morgens Verhalten tatsächlich noch „moralisch komplex“ war, wie die Autoren einleitend behauptet haben. Morgen weist alle Merkmale eines NS-Juristen auf: er verklärte die NS-Weltanschauung, befürwortete das Täterstrafrecht (S. 103ff.), sah die Notwendigkeit, „in den gesamten Ostgebieten [...] mit [...] rauher Hand zu regieren“, beschönigte nach 1945 die Verhältnisse im KZ Buchenwald, hieß die Instrumentalisierung von Gefangenen für Experimente gut, solange nur ihre Auswahl formal korrekt ablief (S. 8, 165) und suchte im Nürnberger Prozess das Gericht davon zu überzeugen, „die SS habe nichts mit dem Massenmord an den Juden zu tun gehabt“ (S. 198). Mit anderen Worten: Morgen ist genau in dem Sinne anständig geblieben, der von Himmler gefordert war – nur eben nicht als Teil des KZ-Wachpersonals, sondern als dessen Kontrolleur. „Moralisch komplex“ ist daran gar nichts. Es besteht deshalb auch nach Pauer-Studers und Vellemans Ausführungen kein Anlass, Wachsmanns Urteil über Morgen anzuzweifeln; wie Wachsmann richtig festgestellt hat, war Morgen nichts anderes als ein „Kreuzritter für Himmlers spezielle Sorte der SS-Moral“.4

Anmerkungen:
1 Harald Welzer, Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Frankfurt am Main 2007, S. 23, Anm. 32.
2 James J. Weingartner, Law and Justice in the Nazi SS: The Case of Konrad Morgen, in: Central European History 16 (1983), S. 276–294, hier S. 280.
3 Nikolaus Wachsmann, KL: Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2016, S. 447.
4 Ebd.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension