T. Müller u.a. (Hrsg.): Das Denkmal der Grauen Busse

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Titel
Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit. Das Denkmal der Grauen Busse


Herausgeber
Müller, Thomas; Schmidt-Michel, Paul-Otto; Schwarzbauer, Franz
Erschienen
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jasmin Nicklas, Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte, Universität des Saarlandes

Psychischen Erkrankungen haftet auch im 21. Jahrhundert ein negatives Stigma an. Die betroffenen Menschen haben weiterhin mit Vorurteilen zu kämpfen – trotz der zunehmenden medialen Präsenz von seelischen Leiden. Auch in der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen spielten die Morde – im Rahmen der „Aktion T4“ und der „dezentralen Euthanasie“ – an psychisch Kranken oder als solche deklarierten Personen bis in die 1980er-Jahre hinein eine untergeordnete Rolle. Umso wichtiger sind daher Publikationen, in deren Zentrum die Erinnerungsarbeit an diese Gräueltaten sowie deren zaghafte Aufarbeitung in der Nachkriegszeit stehen.

„Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit – Das Denkmal der Grauen Busse“ trägt einen entscheidenden Mehrwert zum Aufarbeitungsdiskurs über die (anfangs) vergessenen Opfer des Nationalsozialismus bei. Der Sammelband, den Thomas Müller, Paul-Otto Schmidt-Michel und Franz Schwarzbauer herausgegeben haben, ist ein Kooperationsprojekt der historischen Forschungsabteilung des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg (ZfP) und des Kulturamtes der Stadt Ravensburg. Bereits die Zusammensetzung des Herausgebergremiums – Müller ist Leiter der historischen Forschungsabteilung am ZfP, Schmidt-Michel war früherer ärztlicher Direktor des ZfP, Schwarzbauer arbeitet als Amtsleiter des Kulturamtes der Stadt Ravensburg – spiegelt die verschiedenen Blickwinkel wider, aus denen das Thema behandelt wird.

Im Fokus der Veröffentlichung steht das am 27. Januar 2007 errichtete und von Horst Hoheisel und Andreas Knitz entworfene „Denkmal der Grauen Busse“: Die äußere Form des Denkmals entspricht den Transportbussen der „Gemeinnützigen Krankentransport GmbH“ (GeKrat), die zwischen 1940 und 1941 Psychiatriepatienten aus Heil-und Pflegeanstalten in die Gaskammern der sechs zentralen Tötungszentren der „Aktion T4“ (Grafeneck, Bernburg, Hartheim, Pirna, Brandenburg und Hadamar) verschleppten. Die in Beton gegossene Erinnerungsfigur ist zweigeteilt: Ein festinstallierter Bus versperrt die ehemalige Hauptzufahrt der Heil- und Pflegeanstalt Weissenau. Der zweite Teil des Denkmals, der in Form und Gewicht mit dem ersten Bus übereinstimmt, reist durch die Bundesrepublik, um die Erinnerung an die Geschichte der Ermordeten und ihrer Mörder wachzurütteln.

Die Autorinnen und Autoren binden ihre Reflexionen über den nationalsozialistischen Massenmord ausnahmslos an das „Denkmal der Grauen Busse“, betten diese jedoch in einem der drei thematischen Schwerpunkte des Bandes ein: 1. in der historischen bzw. medizinhistorischen Auseinandersetzung, 2. in der künstlerischen Auseinandersetzung, 3. in Reiseberichten über den mobilen Teil des Denkmals. Aus dieser thematischen Vielfalt entstehen die größten Stärken des Sammelbandes – die Interdisziplinarität sowie die Multiperspektivität.

Die erste Kategorie der historisch-medizinischen Aufarbeitung eröffnet Aleida Assmann mit dem Aufsatz „Die Grauen Busse – ein unruhiges und unfertiges Denkmal“ (S. 19–28). Sie definiert darin einen neuen Denkmaltypus: das „unfertige Denkmal“. Als ein „besonders eindrückliches Beispiel“ dieses Denkmaltypus sieht sie auch die „Grauen Busse“. „[...] der neue Typ eines ‚unfertigen Denkmals’ entstand, das nicht in sich selbst autonom ist und in seiner einmal gefundenen Form erstarrt, sondern das Handlungen auslöst, in Aktivitäten eingebettet ist, Vorbereitungen erfordert und Konsequenzen zur Folge hat.“ (S. 21f.) Die „Grauen Busse“ leisteten, so die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin, einen wichtigen Beitrag zur überregionalen Sichtbarmachung der Gräueltaten, die während des Nationalsozialismus an Menschen mit psychischen Erkrankungen verübt wurden. Besonders das Konzept des unfertigen Denkmals führe zu einer Mobilität im zweifachen Sinne: Nicht nur das Denkmal selbst wird von Ort zu Ort bewegt, auch die Bevölkerung muss sich bewegen, das heißt sich damit auseinandersetzen, um die verdrängte lokale Geschichte, die der „Graue Bus“ sichtbar macht, aufzuarbeiten. Assmanns Aufsatz ist in zweierlei Hinsicht ein Gewinn für die Publikation – einerseits trägt die präzise Analyse des Denkmaltypus dazu bei, den Leserinnen und Lesern seine Funktionsweise zu vermitteln. Andererseits ist er eine gelungene Verknüpfung zwischen der (Nicht-)Erinnerungsgeschichte an den ersten systematischen nationalsozialistischen Massenmord und dessen Darstellungsform als Denkmal. Die Entscheidung, Assmanns Aufsatz an den Anfang des Sammelbandes zu stellen, hilft den Leserinnen und Lesern die folgenden Beiträge in dem von ihr eröffneten theoretischen Rahmen zu verorten.

Der Aufsatz „Erinnern und Gedenken – Wie begegnet unsere psychiatrische Klinik unserer NS-Vergangenheit“ (S. 55–67) von Thomas Müller und Paul-Otto Schmidt-Michel fällt ebenfalls in die Kategorie der historisch-medizinischen Auseinandersetzung. Die beiden Autoren beschäftigen sich mit der Vergangenheitsbewältigung im aktuellen Klinikalltag des ZfP-Verbundes. Sie schildern den Prozesscharakter, der für die Erinnerungsarbeit unabdinglich ist, um sie lebendig zu erhalten. Das ZfP Südwürttemberg arbeitet daher in verschiedenen Projekten u.a. mit Schülerinnen und Schülern aber auch mit Angehörigen von Opfern der „Euthanasie“- und Zwangssterilisationsverbrechen zusammen. Neben den Schülerkooperationen gehen Schmidt-Michel und Müller auf die Forschungsarbeit des Klinikverbundes ein. Ein aktueller Schwerpunkt liegt dabei auf der Forschung zu Patientinnen und Patienten aus Norditalien, die im Zuge des Optionsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und Italien nach Württemberg deportiert wurden (S. 61).

Besonders lesenswert ist auch der Aufsatz von Michael von Cranach „Psychiatriereform und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Eine persönliche Erfahrung“ (S. 201–210). Darin zeichnet er anhand seines eigenen beruflichen Werdegangs die Dialektik der systematischen Verdrängung innerhalb des deutschen Psychiatriewesens und der aufkeimenden Erinnerungsarbeit einer jungen Generation von Psychiatern nach. Cranach liefert darin eine sehr persönliche Perspektive auf die Entwicklung der deutschen Psychiatrie (ohne wissenschaftliche Analyse), die den Sammelband hervorragend um die Sicht eines Mediziners ergänzt.

Zum zweiten Schwerpunkt des Bandes, der künstlerischen Auseinandersetzung mit den „Euthansie“-Verbrechen, gibt es insgesamt vier Aufsätze. Davon sticht besonders der Beitrag von James E. Young „Negativ-Orte und das Spiel mit dem Denkmal. Die Erinnerungsarbeiten von Horst Hoheisel und Andreas Knitz“ (S. 177–197) hervor. Young präsentiert ausgehend von den Arbeiten der beiden Künstler das Konzept der „Gegen-Monumente: geradezu schmerzhaft selbstbewusste Denkmalorte, entworfen, um die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz in Frage zu stellen.“ (S. 181) Künstler, die diese Art von Denkmalen erschaffen, gehen davon aus, dass das Aufstellen von Monumenten, nicht aus dem Bedürfnis erwächst, sich der Geschichte zu erinnern, sondern aus dem Verlangen entsteht, die Geschichte als abgeschlossen darzustellen. Als eine Geschichte also, die mit dem Bau des Denkmals von der Bevölkerung nicht mehr aktiv erinnert werden müsse. Gegen-Denkmäler (oder nach Assmann, „unfertige Denkmale“) fordern indes die Zivilgesellschaft dazu auf, sich aktiv mit dem Gedenken auseinanderzusetzen. Neben dem Denkmal der „Grauen Busse“ beschäftigt sich Young auch mit weiteren Projekten von Hoheisel und Knitz, u.a. mit dem Entwurf Hoheisels für das Holocaust-Mahnmal. Er schlug vor, das Brandenburger Tor zu zermahlen und den entstandenen Schutt zu zerstreuen, sodass eine Leerstelle entstünde, die symbolisch das Fehlen der sechs Millionen ermordeten europäischen Juden sichtbar machen solle. Young verweist darauf, dass die Auseinandersetzung um die Denkmalentstehung ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des Erinnerungs- und Aufarbeitungsprozesses sei. Weitere realisierte Denkmalarbeiten der Künstler Hoheisel und Knitz, die Young in seinem Beitrag analysiert, sind der Aschrottbrunnen in Kassel (Hoheisel), die Denksteinsammlung (Hoheisel) sowie das Denkmal in der Gedenkstätte Buchenwald (Hoheisel und Knitz).

In der dritten und letzten Kategorie, den Reiseberichten des mobilen „Grauen Busses“, stellen die Beitragenden die Erinnerungs-Dynamiken vor, die an den „Halte-Stellen“ des Denkmals entstanden sind und weiter entstehen. Reinald Purmann berichtet vom Erinnerungsprozess, den der „Graue Bus“ in Berlin in Gang setzte: ein eigenes Denkmal für die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation entstand am Standort der ehemaligen Villa in der Tiergartenstraße 4. Neben den zahlreichen kürzeren Reiseberichten liefert Thomas Stöckle, der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, einen längeren Bericht über den Halt und die Dynamik des „Grauen Busses“ am Schlossplatz in Stuttgart.

„Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit“ bietet spannende und interdisziplinäre Analysen zum Prozess der Erinnerung ausgehend vom Denkmal der „Grauen Busse“. Insbesondere die Vielfalt der verschiedenen Autorenperspektiven bereichert den Band und schärft den Blick der Leserinnen und Leser für die Bedeutung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, um die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wünschenswert wäre eine abschließende Betrachtung der Herausgeber gewesen. Allerdings gilt auch hier das Argument, Menschen zum Nachdenken und Reflektieren anregen zu wollen. Denn nur so kann aktive Auseinandersetzung funktionieren.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/