G. Gerstle: Liberty and Coercion

Cover
Titel
Liberty and Coercion. The Paradox of American Government from the Founding to the Present


Autor(en)
Gerstle, Gary
Erschienen
Anzahl Seiten
472 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hochgeschwender, Amerika-Institut, Ludwig-Maximilians-Universität Email:

Gary Gerstle, von dem mit „The Rise and Fall of the New Deal Order“ und „The American Crucible“ bereits zwei weithin anerkannte Standardwerke vorliegen, hat das Wagnis unternommen, sich auf rund 350 Seiten an einer Gesamtdarstellung der exekutiven Macht in den USA vom Zeitalter der Gründerväter bis in die Gegenwart zu versuchen. Allein dies verdient bereits Respekt, denn bislang fehlte es an einer geschlossenen Synthese aus einem Guss, in welcher die neuesten Forschungsergebnisse dargestellt und vor dem Hintergrund gediegener Quellenkenntnis analysiert werden. Insofern hat Gerstles Darstellung in sich bereits ihr Verdienst, zumal es ihm gelingt, konzentrierte Darstellung und Leserfreundlichkeit zu kombinieren. Sein Werk mag kein „page-turner“ sein, in dem man sich mit heißen Ohren und spannungsvoller Erwartung festliest, aber dennoch schafft er es, ungeachtet des partiell trockenen Themas, die Aufmerksamkeit des Lesers dank seines flüssigen Stils durchaus zu wecken.

In vier chronologisch angeordneten, vergleichsweise konventionell angelegten Blöcken (1780er–1860er, 1860er–1920er, 1920er–1940er, 1940er-Jahre bis zur Gegenwart) durchmisst Gerstle die Geschichte der exekutiven Gewalt in den Vereinigten Staaten zwischen den beiden klassischen Aufklärungspolen Freiheitsrechte des Individuums als Abwehr staatlicher Übergriffigkeit und Zwangsausübung im Interesse von Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. Wie so viele amerikanische Historiker gebricht es ihm indes an einer transatlantischen Vergleichsperspektive, weswegen er diese Polarität in erster Linie gerade nicht als der Aufklärung an sich inhärente Widersprüchlichkeit, sondern als Produkt einer genuin amerikanischen Entwicklung interpretiert. Wo immer Aufklärung primär der Verteidigung bürgerlicher Besitz- und Klasseninteressen verpflichtet war, musste die Spannung zwischen den Freiheitsinteressen der über Eigentum verfügenden Klassen und ihrem Sicherheitsbedürfnis nach innen und außen ebenso auftreten wie das Problem des Umgangs mit sozialen Egalitätspostulaten, die sowohl der Amerikanischen wie der Französischen Revolution innewohnten. Überdies, auch hier bleibt Gerstle US-amerikanischen Interpretamenten allzu ausschließlich verhaftet, sieht er die frühe, nachrevolutionäre Union bereits als Demokratie, obwohl sie in erster Linie eine Republik mit oligarchischen und aristokratischen Zügen darstellte. Ungeachtet dieser Lücken liegt die Stärke der Darstellung in einem ganz anderen Punkt: Anders als die Mehrzahl seiner Vorgänger beschränkt sich Gerstle nicht darauf, einen intensiven Blick auf Stärken und vor allem Schwächen der Bundesexekutive im 18. und 19. Jahrhundert zu werden, sondern bezieht konsequent und darin bemerkenswert originell die Exekutivorgane der Einzelstaaten in die Analyse mit ein. Folgt man Gerstles Argumentation, die er sorgsam untermauert, lag die eigentliche Staatsgewalt – nicht aber die Souveränität – in den frühen Vereinigten Staaten nicht so sehr bei der Bundesregierung, deren Behördenwesen, sieht man von der übermächtigen, aber isolierten Gestalt des Präsidenten einmal ab, eher rudimentär ausgebildet war. Die eigentliche Handlungsfähigkeit wurde von den Einzelstaaten wahrgenommen. So investierte der Bund zwischen 1790 und 1820 ganze sieben Millionen Dollar in die nationale Infrastruktur, während die Einzelstaaten über 300 Millionen Dollar ausgaben, insbesondere Pennsylvania und New York. Selbst die interne Sicherheitsarchitektur und Teile des Militärwesens, die Milizen, waren an die Einzelstaaten gekoppelt. Wie aber, so die berechtigte Frage des Autors, konnte sich aus dieser partikularistischen Verteilung der republikanischen Frühzeit der nationalstaatliche Leviathan des ausgehenden 20. Jahrhunderts entwickeln? Die Antwort ist facettenreich: Zum einen war der Krieg Vater der Dinge. Ausgehend vom Bürgerkrieg über den Ersten Weltkrieg, vor allem aber im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg nutzten die Präsidenten und der Kongress die ihnen gegebene Autorität, um den nationalen Sicherheitsstaat und die imperiale Präsidentschaft auszubauen. Auf diesen Aspekt geht Gerstle zwar ein, aber er räumt ihm keine zentrale Bedeutung ein. Sein Ausgangspunkt liegt vielmehr bei den regulativen, sozialstaatlichen Aufgaben des Nationalstaates. Hier erkennt er mehrere Einfallstore, welche letztlich dazu führten, die anfängliche Machtbasis der Einzelstaaten erodieren zu lassen, darunter etwa die traditionellen Gummiartikel der Verfassung, also das Recht, den zwischenstaatlichen Handel zu regulieren (die „Interstate Commerce Clause“), das Recht, zu regulieren, was reguliert werden musste (die äußerst dehnbare „necessary and proper clause“), das Postmonopol (beispielsweise im Comstock Act von 1873) und der „judicial activism“ der liberalen Supreme Courts. Vollkommen zu Recht bemerkt der Verfasser, wie wenig linear, ja redundant der Prozess der allmählichen Ausgestaltung des Leviathan über zwei Jahrhunderte war. Vor allem das Hin und Her in der Bürgerrechtsgesetzgebung nach den XIV. und XV. Verfassungszusätzen und den anschließenden kritischen Urteilen des Supreme Court von den 1870er-Jahren bis hin zu Plessy v. Ferguson von 1896 belegt diese These. Erst mit der Kombination von New Deal, Zweitem Weltkrieg, Kaltem Krieg, Great Society und liberalem, richterlichem Aktivismus des Obersten Gerichtshofes unter dem Vorsitz von Richter Earl Warren kam es zu einem scheinbar irreversiblen Durchbruch des liberalen Interventions- und Machtstaates bei gleichzeitigem nahezu totalem Machtverlust auf Bundesebene der Einzelstaaten.

Während Gerstle diesem komplexen Verlauf eingehend und mit großer Eindringlichkeit, gleichzeitig mit der Sympathie des Liberalen, aber nicht durchweg kritiklos, nachspürt, bleibt seine Darstellung merkwürdig blass und eindimensional, wenn es um den „conservative backlash“ (eine typisch liberale, bereits ideologisch vorgefertigte, jegliche Selbstkritik aussparende Begriffsbildung) seit den 1970er-Jahren geht. Gewiss, er geht auf die Widersinnigkeit des konservativen Staatsdenkens ein, das, ganz in der aufgeklärten Tradition, den Sicherheitsaspekt ohne weitere Reflexion, ungefiltert neben den Freiheitsaspekt von Staatlichkeit stellt, um dann aber, vor allem nach 9/11, dem nationalen Sicherheitsstaat eine Machtfülle zur Verfügung zu stellen, die über alles hinausgeht, was das altliberale 19. Jahrhundert dem Nachtwächterstaat zugebilligt hätte. Aber an dieser Stelle fehlt bei Gerstle sowohl die libertäre, als auch die paläokonservative Kritik an diesen Exzessen. Konservativ bleibt bei ihm ein relativ statisches, in sich nicht ausdifferenziertes Konzept. Zudem mangelt es der Kritik am liberalen Interventionsstaat in seinem Buch an historischer Tiefenschärfe, da er sie erst mit der Stagflation und dem Scheitern des Keynesianismus sowie dem durch Watergate bedingten Vertrauensverlust in den Zentralstaat unter dem Stichwort der Washingtoner Eliten in den 1970er-Jahren beginnen lässt und dann noch die „Anti-Politik“ eines Jimmy Carter in diesem Zusammenhang ausblendet. Dabei hat gerade Bethany Moreton in „To Serve God and Wal-Mart“1 präzise herausgearbeitet, wie systematisch eine Allianz aus neomonetaristischen Ökonomen, Geschäftsleuten und Rechtsevangelikalen seit den 1950er-Jahren daran gearbeitet hatte, gerade junge Akademiker unter dem Schlagwort „Christian Free Enterprise“ gegen den liberalen Interventionsstaat in Stellung zu bringen. An diesem Punkt bleibt Gerstles Darstellung unbefriedigend.

Insgesamt hinterlässt das Werk, ungeachtet seiner bedeutsamen Thematik, einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits rückt es mit großer Entschiedenheit die Funktion der Einzelstaaten in das Scheinwerferlicht der historischen Analyse, und das ganz zu recht. Andererseits hat man fast durchgehend das Gefühl, insbesondere dann, wenn es um den amerikanischen Bundesstaat geht, im Grunde wenig wirklich Neues zu erfahren, weder auf der faktischen, noch auf der interpretativen Ebene.

Anmerkung:
1 Bethany Moreton, To Serve God and Wal-Mart. The Making of Christian Free Enterprise, Cambridge, Mass. 2010.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension