H. Kopp: Bedeutung und Funktion von Seeherrschaft bei Thukydides

Cover
Titel
Das Meer als Versprechen. Bedeutung und Funktion von Seeherrschaft bei Thukydides


Autor(en)
Kopp, Hans
Reihe
THOUKYDIDEIA 1
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Antonios Rengkakos, Abteilung für Klassische Philologie, Aristoteles-Universität Thessaloniki

Das hier anzuzeigende Buch (die überarbeitete Fassung einer Dissertation am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin vom Jahr 2015) setzt sich zum Ziel, die konkrete historiographische Funktion des Motivs „Seeherrschaft“ in Thukydides’ Geschichtswerk zu untersuchen (S. 12), und ist in sechs Kapitel gegliedert.

Auf Zielsetzung und Definition des Gegenstandes der Untersuchung folgen in der Einleitung (S. 9–49) ein detaillierter Überblick über die bisherige Forschung zur Frage der Rolle der Seeherrschaft im thukydideischen Werk sowie Ausführungen zur Methodik. Hans Kopp stellt fest, daß die Darstellung der Seeherrschaft durch den Historiker als neutral, als apologetisch-lobend oder, zunehmend in letzter Zeit, auch als kritisierend interpretiert wird; dieser Befund ist erwartungsgemäß identisch mit der Forschungslage zu einer der zentralen Fragen der Thukydides-Interpretation, mit der das Motiv der Seeherrschaft unmittelbar zusammenhängt, der Frage nach Thukydides’ Haltung zur Person des Perikles bzw. allgemeiner zum athenischen Imperialismus. Zur Methode hebt Kopp hervor, dass die Untersuchung sich nicht auf die bekanntlich sehr seltenen expliziten Meinungsäußerungen des Historikers beschränken darf, sondern gleichermaßen auch die indirekte Sinngebung, die durch die literarische Gestaltung des Werkes erzielt wird, zu berücksichtigen hat.

Das 2. Kapitel (S. 51–73) bringt die Analyse der sogenannten Archäologie (Th. 1,2–19), desjenigen Anfangsteils des Geschichtswerkes, in dem Thukydides einen unter dem Gesichtspunkt der Machtbildung geführten Überblick über die Vor- und Frühgeschichte Griechenlands bis zu seiner Zeit vorlegt. Vor allem zwei Elemente, Schiffe und Geld, tragen zur Vermehrung und Konsolidierung der Macht, wobei allerdings gerade, so Kopp richtig, „die Seemacht selbst dank ihrer Effizienz das Streben nach Ausbeutung und Macht über andere [beschleunigt]“ (S. 67); somit stellt die Archäologie zugleich auch eine Darstellung des „konstanten Raubtierverhaltens zwischen menschlichen Gemeinschaften“ dar und als solche bereitet sie sowohl auf Athens Aufstieg als auch auf seinen Niedergang vor.

Das 3. Kapitel (S. 75–110) ist den thukydideischen Seeherrschaftsbegriffen, hauptsächlich den aus thálassa und krátos gebildeten, gewidmet. Besondere Beachtung findet der zum geflügelten Wort gewordene Satz aus der ersten Perikles’ Rede (1,143,5) méga gàr tò tês thalásses krátos, „ja, etwas Großartiges ist die Herrschaft über die See“ (in der neuen Übersetzung von M. Weißenberger). Gerade aber die Wiederaufnahme dieses Ausdrucks im 8. Buch, unter für Athen völlig veränderten, ungünstigen Verhältnissen (8,46, 1; 76,4), beweist, so Kopp, dass Thukydides ihn „nicht als ein gültiges Axiom mit gleichsam ‚statischer‘ Bedeutung begreift“, sondern ihm „ein das gesamte Werk umspannendes dramatisches ‚Schicksal‘ zuschreibt“ (S. 47).

Im zentralen 4. Kapitel (S. 101–207) wird die Hauptthese des Buches entwickelt: bestimmte Passagen (Th. 2,41,4 und 2,62,2) aus den Reden des Perikles zeichnen „ein rhetorisch höchst suggestives und [zunächst] erfolgreiches Bild unbegrenzbarer athenischer Meeresbeherrschung“ (S. 47), die weder Raum noch Zeit als beschränkende Faktoren kennt. Das perikleische Bild der athenischen Seeherrschaft wird jedoch im weiteren Verlauf des Werkes durch den Historiker gezielt mittels verschiedener Motive (unzulängliche Kontrolle des Meeres durch eine Seemacht, zum Beispiel im Mytilene-Teil des 3. Buches; 5,47; 5,56; im Melier-Dialog; das Motiv des von einem Überraschungsangriff gefährdeten Hafens, 2,93,2ff.; 8,96,1ff.) und vor allem durch die als Kontrastfolie dienende Darstellung der sizilischen Expedition dekonstruiert.

Das 5. Kapitel (S. 209–236) bietet die Interpretation des berühmten sogenannten Nachrufs auf Perikles (Th. 2,65) mit der darin mit Blick auf den gesamten 27-jährigen Krieg ausgedrückten Bewunderung des Historikers für den athenischen Politiker; Thukydides’ positives Urteil gilt jedoch laut Kopp nur für die Kriegsplanung und -strategie der Athener und steht in keinem Widerspruch zur These des Buches, nach der der Historiker Kritik an den „überzogenen und idealisierenden Vorstellungen“ vom Wert der maritimen Macht Athens, an der Benutzung der Seeherrschaft als rhetorisches Argument ausübt.

Im 6. und letzten Kapitel (S. 237–272) wird das Seeherrschaftsmotiv im Kontext der Ideen- und Mentalitätsgeschichte des 5. Jahrhunderts als Ausdruck des in jener Zeit omnipräsenten „Könnens-Bewusstseins“ (nach C. Meier) interpretiert. Die Bibliographie (S. 273–290) und zwei Register (S. 291–303: Namen- etc. und Quellenregister) beschließen den Band.

Hans Kopps’ Buch zeichnet sich durch intime Vertrautheit sowohl mit dem thukydideischen (Original-)Text als auch mit der uferlosen Sekundärliteratur aus; somit setzt es sich eindrucksvoll gegen eine große Zahl englischsprachiger Arbeiten der letzten Zeit ab, die zum Historiker einen nur mittelbaren, über die diversen Übersetzungen vermittelten Zugang finden und von der nicht-englischen Bibliographie in der Regel keine Notiz nehmen. Die zentrale These seines Buches steht und fällt freilich mit der Interpretation der berühmt-berüchtigten Stelle 2,62,2 (S. 116–130), an der Perikles den Athenern stolz verkündet, daß „von den beiden Bereichen, welche der Nutzung offenstehen, Land und Meer, ihr über den einen in seiner Gänze die unumschränkten Herren seid, und zwar in dem Ausmaß, in dem ihr gegenwärtig darüber verfügt, und auch noch weiter, wenn ihr euch dazu entschließt; und es gibt niemanden, der euch, wenn ihr mit eurer Seekriegsmacht über die Meere fahrt, aufhalten könnte, kein Großkönig und kein Volk, von denen, die es gegenwärtig gibt". Diese Worte – dies das überzeugende, durch eine detaillierte und zugleich umsichtige Interpretation gewonnene Fazit Kopps – bedeuten nicht einfach eine rhetorische Übertreibung, weil Perikles sein niedergeschlagenes Volk, das „sich in einer nach allen Seiten hin als ausweglos empfundenen Lage“ (2,59,1) befand, moralisch aufrichten wollte, sondern der Politiker entwirft hier das Bild eines Seereiches, „dessen auch künftige Möglichkeiten zur weiteren Expansion schlechterdings unbegrenzt sind“ (S. 121); dieses „Versprechen“ (das die von ihm selbst propagierte Politik der Mäßigung während des Krieges, 1,144,1; 2,65,7, untergräbt) ist somit der Keim künftiger athenischer Expansionsversuche (Melos, Sizilien), der Anfangspunkt einer langen, durch das ganze Werk verlaufenden Entwicklung der Seeherrschafts-Idee, die am Ende für Athen verhängnisvoll wurde.

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