M. Jonas u.a. (Hrsg.): Stabilität durch Gleichgewicht?

Cover
Titel
Stabilität durch Gleichgewicht?. Balance of Power im internationalen System der Neuzeit


Herausgeber
Jonas, Michael; Lappenküper, Ulrich; Wegner, Bernd
Reihe
Otto-von-Bismarck Stiftung, Wissenschaftliche Reihe 21
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Braun, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Wie entsteht Frieden, und wie lässt sich eine stabile Friedensordnung sichern? Diese Fragen bewegen uns heute ebenso sehr wie die Menschen in vergangenen Jahrhunderten. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Problem der Friedlosigkeit und Instabilität am Beginn des 21. Jahrhunderts in Form neuer, nicht zuletzt asymmetrischer Bedrohungsszenarien, die innere und äußere Konfliktpotentiale vermischen und den Mangel an stabilisierenden Ordnungsmustern offenbaren, sogar wieder verstärkt in unser Bewusstsein eingedrungen. Vielfältige, seit Jahrzehnten schwelende Konflikte wie zwischen Israel und den Palästinensern sind weiterhin ungelöst. Neue Konfliktherde sind hinzugetreten, die auch die Grenze zwischen innerstaatlichen und internationalen Konflikten weiter verwischen, so in Syrien und der Ukraine. Darüber hinaus zeigen insbesondere die Terroranschläge vom 11. September 2001 und ihre Folgen das Konfliktpotential religiöser und kultureller Differenzen auf, nachdem Religion in den Jahrzehnten zuvor (von Sonderfällen wie Nordirland abgesehen) als Konfliktstoff scheinbar weitgehend ausgedient hatte.

Wenn wir nach Antworten auf unsere Fragen nach Lösungsstrategien, -konzepten und -techniken für Konflikte der Gegenwart suchen, so kann ein Blick auf vergangene Jahrhunderte hilfreich sein, selbstverständlich nicht in dem Sinne, dass sich aus der Geschichte durch das einfache Kopieren von Lösungsmustern „lernen“ ließe, aber immerhin doch dadurch, dass ein potentiell inspirierender Einblick in die Entwicklung einer höchst differenzierten Konfliktlösungs- und Konfliktpräventionskultur gewährt wird, die im Kern zunächst eine europäische Kulturleistung gewesen ist.

Blicken wir auf die Frühneuzeit oder auch auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert, so können wir uns unvoreingenommener auf die Praktiken, Konzepte, Methoden, Techniken und Mechanismen konzentrieren, die zur Wiederherstellung oder auch zur Bewahrung und Sicherung des Friedens, mithin zur Konfliktbeilegung und -prävention sowie zur Stabilisierung von Friedensordnungen, entwickelt wurden, denn die seinerzeit verhandelten politischen Probleme betreffen uns in der Regel weniger unmittelbar als die Verhandlungspunkte, die im Zentrum der politischen Auseinandersetzungen unserer Gegenwart stehen. Sich mit vergangenen Konfliktlösungsverfahren, Ordnungsvorstellungen und Praktiken von Friedenswahrung zu befassen, erleichtert also die Abstraktion von konkreten inhaltlichen Verhandlungsproblemen und ermöglicht insofern eine unbefangenere, strukturorientierte Annäherung an die theoretischen und praktischen Zugänge, die zur Lösung und auch zur Abwehr von Konflikten entwickelt wurden. Insbesondere die Vormoderne eignet sich für eine historisch fundierte Annäherung an Probleme der Gegenwart, insofern sie keine klare Trennung von Innen und Außen kannte, sondern vielmehr durch eine Vermengung endogener und exogener, weltlicher wie religiös-konfessioneller Konfliktpotentiale geprägt war. Dies gilt namentlich für den zentralen Konflikt des Dreißigjährigen Krieges, aber grundsätzlich durchaus auch über 1648 hinaus.

Die Parallelität zwischen historischen und aktuellen Konfliktlagen warf jüngst die Frage auf, ob der Nahe / Mittlere Osten derzeit seinen „Dreißigjährigen Krieg“ erlebe. Dabei wurde der Blick darauf gerichtet, wie am Ende dieses Kernkonflikts des 17. Jahrhunderts Frieden gestiftet wurde. Betont wurde namentlich die Orientierungsfunktion des Westfälischen Friedens für Friedensprobleme der Gegenwart. Insofern ist es auch keineswegs erstaunlich – so belegen etwa jüngere Äußerungen des heutigen Bundespräsidenten und damaligen Bundesaußenministers Frank-Walther Steinmeier von 2016, insbesondere seine Rede „Der Westfälische Frieden als Denkmodell für den Mittleren Osten“ am 12. Juli 20161 –, dass gerade der Westfälische Friede in jüngster Zeit zu einem Vorbild erkoren wurde, an dem sich eine künftige Friedensordnung für den Nahen / Mittleren Osten orientieren könnte.

Für das Westfälische Friedenswerk insgesamt von umstrittener, für wichtige Teile jedoch vermutlich nicht zu vernachlässigender Bedeutung war das Gleichgewichtsdenken. Seinen Ursprüngen und seiner Entfaltung im Alten Europa widmet sich der erste Hauptteil des von Michael Jonas, Ulrich Lappenküper und Bernd Wegner (allesamt an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg tätig) 2015 herausgegebenen Buches. Der zweite Hauptteil befasst sich mit dem 19. Jahrhundert, bezieht dabei aber durchaus auch die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. Unter dem Titel „Gleichgewicht im Zeitalter der Extreme“ beschäftigt sich der dritte Hauptteil mit der Zeit vom Ausgang des Ersten Weltkrieges bis zum „nuklearen Zeitalter“. Der vierte Hauptteil fokussiert schließlich unter der Überschrift „Systemtheoretische Betrachtungen und Perspektiven zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ die Frage, inwieweit das Konzept des „Gleichgewichts“ zum Verständnis und zur Lösung von Konflikten der heutigen Welt brauchbar und sinnvoll ist.

Am ehesten ließe sich an der relativ schwachen Berücksichtigung der Frühen Neuzeit Kritik üben, denn bekanntlich liegen ja die Ursprünge des Gleichgewichtsdenkens, die der erste Hauptteil zu behandeln verspricht, keineswegs im 17. Jahrhundert, sondern sind mit der beginnenden europäischen Frühneuzeit bereits vom 15. Jahrhundert an zu finden. Dennoch sind es die Gleichgewichtskonzeptionen des 17. Jahrhunderts, die ohne Berücksichtigung ihrer Vorläufer im ersten Aufsatz des Sammelbandes aus der Feder Klaus Malettkes thematisiert werden.

Der Ursprünge im 15. und 16. Jahrhundert sind sich die Herausgeber selbstverständlich bewusst und verweisen in ihrer Einleitung hierauf, ebenso wie auf die schon in der Antike zu eruierenden Grundlagen der Vorstellung einer Ausbalancierung vorhandener Kräfte als ordnendes Element politischer Theorie und Praxis.

Aber mit diesen summarischen Hinweisen hat es eben sein Bewenden. Dies dürfte das Buch für Frühneuzeithistoriker/innen mit Blick auf ihr eigenes Forschungsgebiet recht unergiebig erscheinen lassen, zumal Malettkes Überblick über das 17. Jahrhundert, in dem Gleichgewichtsvorstellungen in ihrem Verhältnis zu kollektiven Sicherheitskonzeptionen sowie zu den Feind-/Leitbildern der Universalmonarchie bzw. des Arbiters dargestellt werden, zwar für einen ersten Zugang zur Thematik durchaus instruktiv, aus Sicht des Spezialisten jedoch eher konventionell ausfällt und wenig Neues zu bieten vermag. Im Wesentlichen wird die Geschichte des 17. Jahrhunderts hierin von Frankreich und vom französisch-habsburgischen Antagonismus aus gedacht, aber auch die Bedeutung Wilhelms III. von Oranien für die Verbreitung des Gleichgewichtsdenkens herausgestellt.

Dieser aus der eingenommenen Perspektive heraus solide Überblick bildet den Auftakt zu zehn Beiträgen einschlägig ausgewiesener (ausschließlich männlicher) Autoren aus dem deutschsprachigen und angelsächsischen Raum. Die Beiträge englischsprachiger Autoren erscheinen auf Deutsch, dort zitierte, im Original nichtenglische historische Quellen wurden kurioserweise jedoch im englischen Wortlaut belassen. Das festzustellende Ungleichgewicht der chronologischen Schwerpunkte dürfte sich nur zum Teil mit den historischen bzw. den forschungsgeschichtlichen Konjunkturen der Gleichgewichtsvorstellungen begründen lassen.

Die Zeit um 1800 wird in zwei Beiträgen fundiert behandelt, zum einen durch Bernhard R. Kroener, der die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts fokussiert, und von Timothy Blanning unter Einbeziehung der Napoleonischen Zeit. Von 1815 ausgehend stellt sich Matthias Schulz in verdienstvoller Weise der Herausforderung, das gesamte 19. Jahrhundert in den Griff zu bekommen. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen untersuchen Patrick O. Cohrs und Bernd Wegner und zeigen dabei, dass sie sich keineswegs auf eine bloße „Zwischenkriegszeit“ reduzieren lässt. Mit der Frage nach der Bedeutung des „Balance of Power“-Konzepts für das nukleare Zeitalter öffnet Jost Dülffer die Tür zur Gegenwart, während die Fragen, was „Gleichgewicht“ aus Sicht des beginnenden 21. Jahrhunderts überhaupt ist, wie es sich in einem „anarchischen Staatensystem“ verorten lässt und welche Perspektiven sich daraus hinsichtlich „einer neuen Weltordnung“ ergeben, im systemtheoretischen Teil von Florian Kühn, Michael Sheehan und Michael Staack untersucht werden.

Der transepochale Zugriff und die Verbindung geschichtswissenschaftlicher und politologischer Perspektivierungen erweisen sich als besonders fruchtbar. Darin liegt die große Stärke des Sammelbandes. Auf die ihm zugrundeliegende Leitfrage, ob sich Gleichgewichtsaustarierung als systemstabilisierend und friedensfördernd erweist, dürften die Antworten je nach Lektüreperspektive unterschiedlich ausfallen. Beipflichten wird man den Herausgebern jedenfalls in ihrem Urteil, dass es sich um ein zentrales politisches Problem handelt. Dem lohnt sich weiter nachzugehen, denn der aus einer Tagung hervorgegangene Band lässt in mehrerlei Hinsicht das Potential seiner Untersuchung aufscheinen. Was die Forschung darüber hinaus benötigt, ist ein veritables Handbuch als gut durchdachtes, international aufgestelltes Kollektivprojekt mit einem stringenten Plan, der die wesentlichen Facetten des Themas aus geschichts- und politikwissenschaftlicher Perspektive unter Berücksichtigung der einschlägigen Nachbardisziplinen berücksichtigt. In dessen notwendigerweise globalem Zuschnitt wäre dann hoffentlich auch Platz für die kleinräumige norditalienische „Staaten“-Welt des 15. Jahrhunderts, in der es anarchischer zuging als in „klassischen Staatensystemen“ und die unserer Zeit dadurch vielleicht sogar näherliegt.

Anmerkung:
1https://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/160712-Westfaelischer_Frieden.html (15.11.2017); vgl. auch die Rede vom 20. September 2016: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Infoservice/Presse/Reden/2016/160920-BM-Historikertag.html (15.11.2017); dazu auch Frank-Walter Steinmeier, Im Mittelpunkt der Gedanken: Nicht Krieg, sondern Frieden, in: http://www.sueddeutsche.de/politik/steinmeiers-rede-im-mittelpunkt-frieden-1.3170936 (15.11.2017); Gustav Seibt, Braucht der Nahe Osten einen Westfälischen Frieden?, in: http://www.sueddeutsche.de/politik/buergerkrieg-in-syrien-braucht-der-nahe-osten-einen-westfaelischen-frieden-1.3170977 (15.11.2017).

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