W. Mulligan u.a. (Hrsg.): The Wars before the Great War

Cover
Titel
The Wars before the Great War. Conflict and International Politics before the Outbreak of the First World War


Herausgeber
Mulligan, William; Rose, Andreas; Geppert, Dominik
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 378 S.
Preis
€ 80,42
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Marc Segesser, Historisches Institut, Universität Bern

Der Erste Weltkrieg hat in den vergangenen Jahren global große mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit genossen. Bei den Konflikten, die ihm vorangingen, war dies hingegen weit weniger der Fall. Hier knüpfen die beiden Bonner Historiker Dominik Geppert und Andreas Rose sowie ihr Dubliner Kollege William Mulligan in ihrem Werk an und rücken die beiden Balkankriege von 1912/13 sowie Italiens Eroberung der osmanischen Provinz Tripolitanien 1911/12 ins Zentrum. Das wird damit begründet, dass diese „a bridge dividing a period of relative peace on the continent from the era of ‚total war’” konstituieren (S. 1). Leider verzichten die Herausgeber in ihrer Einleitung auf eine Einordnung dieser Aussage in die Debatten zum Konzept des totalen Krieges1 und beschränken sich auf eine Aussage von Richard Hall aus dem Jahr 20002, wonach die Balkankriege „an age of modern warfare, encompassing mass armies, machines, and entire civilian populations“ begründeten (S. 3).

Ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen die Herausgeber in der Einleitung die Tatsache, dass der Balkan mit Blick auf die Auslösung bzw. den Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine wesentliche Bedeutung gehabt habe. Dies habe der liberale britische Politiker Noel Buxton schon 1915 hervorgehoben (S. 1), sei in der historischen Forschung aber lange Zeit nicht so wahrgenommen worden. Einzig in einem Artikel aus dem Jahr 1971 habe Joachim Remak vom Ersten Weltkrieg als dem dritten Balkankrieg gesprochen und damit die enge Verbindung zu den beiden vorangegangenen Kriegen in diesem Raum betont.3 Erst Christopher Clarks Buch über die Schlafwandler im Vorfeld des Ersten Weltkrieges4 habe das geändert. Leider beschränken sich die Herausgeber in ihrer Einleitung auf diesen Hinweis zu Clarks Studie (S. 3f.) und verpassen damit die Chance, die Erkenntnisse der von ihnen zusammengestellten Beiträge im Lichte der dort vertretenen Thesen zu diskutieren. Das Buch des britisch-australischen Historikers bleibt so wie ein „elephant in the room“ präsent, was besonders irritiert, weil Clark selbst auf der zweiten der Konferenzen, auf welchen die Publikation fußt, den Keynote-Vortrag hielt.5 Über die Gründe dafür, dass Clarks Thesen nicht wirklich thematisiert werden, lässt sich nur spekulieren. Klar ist jedoch, dass dies die Argumentationskraft des Buches insgesamt sowie einiger seiner Beiträge doch erheblich schwächt. Hier wäre wesentlich mehr möglich gewesen, auch wenn den teilweise langwierigen Verzögerungen im Prozess einer englischsprachigen Buchpublikation Rechnung getragen wird. Es dürfte auch erklären, warum einige interessante, aber durchaus auch umstrittene Beiträge zum Balkan und den Kriegen in diesem Raum in dieser Studie keine Erwähnung finden.6

Die erste Sektion, deren Beiträge mit Ausnahme desjenigen von Gul Tokay alle auf Präsentationen an der Konferenz von 2011 basieren, beschäftigt sich mit den kriegführenden Staaten bzw. Aspekten von deren Kriegführung. Francesco Caccamos Thema sind die italienischen Entscheidungsträger (Giovanni Giolitti, Antonio di San Giuliano und Sidney Sonnino). Er betont, dass Italien erheblich von der Unruhe auf dem Balkan profitierte, verknüpft seine Ausführungen allerdings nicht mit denjenigen anderer zu dortigen Entwicklungen. Den folgenden Beiträgen von Vanda Wilcox und Ugur Ümit Üngör fehlt leider eine theoretisch methodische Reflexion. Die Ausführungen zu den Erfahrungen italienischer Soldaten in Nordafrika (Wilcox) beschränken sich auf die etwas lapidare Feststellung, dass sich die italienischen Soldaten zwischen kolonialer Arroganz und militärischen Ängsten bewegt hätten, während diejenigen zur Gewalt an Zivilisten während der Balkankriege (Üngör) Zeitungsberichte für bare Münze nehmen. Gul Tokay wertet interessante und wenig bekannte osmanische Quellen aus, pauschalisiert allerdings zu viel und bleibt in seinen Aussagen zu den innenpolitischen Verwerfungen im Osmanischen Reich vage. Der Beitrag von John Paul Newman zur Entwicklung in Serbien leidet erheblich unter der fehlenden Auseinandersetzung mit den Thesen Clarks. Hier wäre das unabdingbar gewesen. Weit überzeugender sind die theoretisch-methodisch bzw. historiographisch gut verorteten Beiträge von Eyal Ginio zur Mobilisierung von Kindern im Osmanischen Reich sowie von Nikolai Vukov zu den überrissenen Erwartungen in Bulgarien.

Die zweite Sektion des Buches beschäftigt sich mit den innerhalb der Großmächte Russland, Deutsches Reich, Frankreich und Österreich-Ungarn zirkulierenden Ideen zum Krieg der Zukunft. Bruce Menning, Adrian Wettstein, Markus Pöhlmann und Günther Kronenbitter, die alle 2011 nicht an der Konferenz teilgenommen hatten, legen kohärente und sehr überzeugende Beiträge vor, in welchen sie nicht nur unmittelbar auf die Kriege in Tripolitanien und auf dem Balkan fokussieren, sondern deren Auswirkungen im breiteren Kontext der Gedanken zum Krieg der Zukunft diskutieren.7 Dabei werden auch die Bedeutung des Burenkrieges sowie des Russisch-Japanischen Krieges miteinbezogen, die eigentlich auch zu den „Wars before the Great War“ gehört hätten.

Die dritte Sektion stellt die diskutierten Kriege in den Kontext der Großmächtepolitik. Während Alma Hanigs Beitrag den Fokus vor allem auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz-Ferdinand legt, ansonsten allerdings wenig Neues präsentiert, und Thomas G. Otte eine eng verstandene Diplomatiegeschichte der britischen Außenpolitik betreibt, legen Patrick Bormann und Friedrich Kießling interessante Beiträge zur deutschen und britischen Außenpolitik vor. Ersterer Beitrag hätte allerdings davon profitieren können, die Frage der Ängste der deutschen Außenpolitiker noch stärker in einen emotionsgeschichtlichen Kontext zu stellen, während bei Kießlings Beitrag sicherlich eine stärkere Auseinandersetzung mit den Thesen von Clark8 und eine kritischere Herangehensweise an die amtlichen Quellensammlungen9 Sinn gemacht hätte.

In der vierten und abschließenden Sektion thematisieren Tamara Scheer, Andreas Rose, Florian Keisinger und Wolfgang Kruse die öffentliche Rezeption der Kriege vor dem Großen Krieg. Scheer legt eine durchaus überzeugende Analyse der deutschsprachigen Zeitungen aus der Habsburgermonarchie vor und zeigt damit, welches Potential in der großartigen digitalen Sammlung der österreichischen Nationalbibliothek liegt.10 Andreas Roses Beitrag zur Bedeutung der Radikal-Liberalen für die britische Außenpolitik Edward Greys ist eine wichtige Ergänzung zu bereits bekannten Studien, während Keisinger seine Begrifflichkeit gerade mit Blick auf „Kriegsverbrechen“ zu wenig reflektiert (beispielsweise S. 356) und kaum klar macht, wann er einen zeitgenössischen Begriff verwendet und wann nicht. Wolfgang Kruses Beitrag zur sozialistischen Internationale ist zwar interessant, hätte aber sicherlich noch von einem Blick in das 2012 erschienene Werk zum Basler Sozialistenkongress profitiert.11

Insgesamt legen Geppert, Mulligan und Rose zwar eine interessante Studie vor. Die Beiträge sind allerdings von sehr unterschiedlicher Qualität. Das liegt einerseits wohl daran, dass die Entwicklung der Forschung seit der ersten Konferenz von 2011 nicht mehr in jedem Fall rezipiert wurde und dass mit Christopher Clarks Schlafwandlern ein Elefant im Raum steht, der zumindest in der Einleitung und einigen Einzelbeiträgen stärker hätte zum Thema gemacht werden müssen. So wie das Buch jetzt vorliegt, scheint es ein wenig, als ob es von der seit 2011 erfolgten Forschung zumindest in Teilen überrollt wurde. Einigen Beiträgen (Hanig, Scheer) hätte zudem ein sprachliches Lektorat gutgetan. Dennoch enthält das Buch auch eine Reihe sehr wertvoller Beiträge, die es verdienen breit rezipiert zu werden.

Anmerkungen:
1 Eine Verknüpfung mit der Studie von Manfred Boemeke / Roger Chickering / Stig Förster (Hrsg.), Anticipating Total War. The German and American Experiences, 1871–1914, Cambridge 1999, hätte hier Sinn gemacht.
2 Richard C. Hall, The Balkan Wars, 1912–1913. Prelude to the First World War, London 2000, S. 130.
3 Joachim Remak, 1914 – the Third Balkan War. Origins reconsidered, in: Journal of Modern History 43, 3 (1971), S. 353–366.
4 Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012.
5 Die erste Konferenz fand 2011 in Dublin statt, die zweite 2012 in Bonn. Vgl. zu Dublin https://www.ucd.ie/t4cms/Conference%20Programme-1.pdf (26.11.2017) sowie zu Bonn https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4826 (26.11.2017).
6 Dušan T. Bataković, „Storm over Serbia“. The Rivalry between Civilian and Military Authorities (1911–1914), in: Balcanica 44 (2013), S. 307–356; Danilo Šarenac, The Forgotten Losses. Serbian Casualties from the Balkan Wars 1912–1913, in: Analele Universităţii „Ovidius” Constanța – Seria Istorie 10–11 (2013–2014), S. 85–102; Frédéric Le Moal, La Serbie du martyre à la victoire 1914–1918, Paris 2008; Hans-Lukas Kieser / Kerem Öktem / Maurus Reinkowski (Hrsg.), World War I and the End of the Ottomans. From the Balkan Wars to the Armenian Genocide, London 2015.
7 Vgl. dazu auch Stig Förster, Vor dem Sprung ins Dunkle. Die militärische Debatte über den Krieg der Zukunft 1880–1914, Paderborn 2016. Sowohl Pöhlmann als auch Wettstein legen darin eine noch breitere Analyse zum Thema vor.
8 Kiessling beschränkt sich auf die sehr allgemein formulierte Anmerkung 44 auf S. 291.
9 Vgl. Sacha Zala, Geschichte unter der Schere der Zensur. Amtliche Aktensammlungen im internationalen Vergleich, München 2001.
10http://anno.onb.ac.at (26. 11. 2017).
11 Bernhard Degen u.a. (Hrsg.), Gegen den Krieg. Der Basler Friedenskongress 1912 und seine Aktualität, Basel 2012, enthält auch einen Beitrag zu den Balkankriegen.