C. Wehner: Die Versicherung der Atomgefahr

Cover
Titel
Die Versicherung der Atomgefahr. Risikopolitik, Sicherheitsproduktion und Expertise in der Bundesrepublik Deutschland und den USA 1945–1986


Autor(en)
Wehner, Christoph
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
430 S., 9 Abb.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karena Kalmbach, Department of Industrial Engineering & Innovation Sciences, Technische Universiteit Eindhoven

Vorweg eine kurze Entwarnung für diejenigen, bei denen „Versicherung“ eine gedankliche Assoziationskette mit „Steuererklärung“ und „Zahnarztbesuch“ evoziert: Ja, Christoph Wehners Buch handelt von Versicherungen. Aber nein, dies ist absolut kein sprödes und verklausuliertes Thema. Nach der Lektüre dieses Buches wird der eine oder die andere sich vielleicht sogar dabei ertappen, den unliebsamen Ordner mit der Aufschrift „Versicherungs-Dokumente“ hervorzukramen, um herauszufinden, welche Schadensursachen in der eigenen Haftpflichtpolice alle ausgeschlossen sind.

Denn darum geht es im vorliegenden Band: Wie wird eine mit utopischen und dystopischen Szenarien überfrachtete technische Innovation rechtlich in Alltagshandeln übersetzt? Bereits das Bild auf dem Buchcover ist ein Versuch, die Beziehung zwischen der hochgradig politisierten und emotionalisierten Atomgefahr sowie der rational und objektivistisch agierenden Versicherungswirtschaft zu illustrieren. Leider suggeriert das Cover eine eindimensionale Wirkungskette: Das gelbe Licht der quasi sakralen Atommeiler (Biblis 1979) leuchtet auf die graue Eminenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Allianz-Forums zu Technik und Versicherung (München 1976). Die 400 Textseiten hinter diesem Cover bieten zum Glück ein weitaus differenzierteres Bild. Christoph Wehner folgt in seinem Buch, das eine leicht gekürzte Fassung seiner 2015 an der Ruhr-Universität Bochum eingereichten Dissertationsschrift ist, keineswegs dem populären Narrativ der übermenschlichen Atomgefahr, sondern zeigt vielmehr, wie diese Gefahr von menschlichen Akteuren gezielt mitkonstruiert und für eigene Interessen nutzbar gemacht wurde.

Wehner hat sich viel vorgenommen für seine Arbeit: Er will einen Spagat schlagen zwischen kulturgeschichtlicher Sicherheitsanalyse, Atomgeschichte und klassischer Versicherungsgeschichte; oder wie er es formuliert: „die Risikopolitik auf ihre Entstehungsbedingungen, Aktionsfelder und Folgewirkungen im Spannungsfeld von Ökonomie, Politik und Gesellschaft befragen“ (S. 22). Er operationalisiert dieses Vorhaben, indem er es auf drei konkrete Untersuchungsebenen herunterbricht: erstens die Klärung der Frage, „welche Bedeutung Versicherungsexpertise innerhalb der bundesdeutschen Atompolitik zukam“ (S. 36); zweitens die Analyse des „Spannungsfeldes von institutioneller Sicherheitsproduktion auf der einen und gesellschaftlicher Verunsicherung auf der anderen Seite“ (S. 38); und drittens die Untersuchung des „Spannungsfeldes von Versicherbarkeit und Moderne und hier speziell der Frage, inwieweit Versicherbarkeitsgrenzen mit historischen Epochengrenzen korrelieren“ (S. 39).

Es ist besonders die dritte Untersuchungsebene, die den Reiz dieser Studie ausmacht. Hier traut sich der Autor am weitesten hinaus auf akademisches Glatteis. Gleich in der Einleitung deutet Wehner an, Becks Grundthesen zur „Risikogesellschaft“ widerlegen zu wollen: Denn „im Gegensatz zu Ulrich Beck, der […] von einer gleichsam absoluten wie zeitenthobenen Leitdifferenz ‚versicherbar versus nicht-versicherbar‘ ausgeht, liegt der vorliegenden Arbeit die Auffassung zugrunde, dass es sich bei den ‚Grenzen der Versicherbarkeit‘ um eine genuin historische Kategorie handelt“ (S. 27).

Dass er die Theorien, an die er mit seiner Studie anknüpft, sehr genau kennt, macht Wehner in der Einleitung deutlich: Ausführlich führt er in den Forschungsstand, seine Methodik, Begriffe, Untersuchungsebenen und Quellen ein. (Hinsichtlich der verwendeten Quellen stechen besonders die erstmals ausgewerteten Archivbestände der Allianz AG und der ERGO-Versicherungsgruppe hervor.) Bei der Lektüre der Einleitung hofft man allerdings, dass es auf den nächsten 350 Seiten nicht in dieser Dichte, Komplexität und Theorieschwere weitergeht. Denn obwohl Wehner ein wunderbarer Überblick zum (in erster Linie deutschen) Forschungsstand bezüglich der Themen Sicherheit und Verwissenschaftlichung gelingt, so droht er doch diejenigen, die weniger vertraut sind mit historiographischen Debatten zum Thema Risiko und ihrem speziellen Vokabular, gleich auf den ersten Seiten zu verlieren.

Aber hat man sich erst einmal geduldig durch die Einleitung hindurchgearbeitet, wird Wehners Schreibstil flüssiger, und die Seiten blättern sich weitaus schneller um, wenn man im ersten Kapitel, quasi als thematische Einführung, einen Kurzabriss der deutschen und US-amerikanischen Atomgeschichte nach 1945 liest. Dieses Kapitel zielt vor allem auf die Wahrnehmung von Atomgefahren ab und konstatiert neben einer florierenden Atomeuphorie in Politik und Wissenschaft eine weitverbreitete Atomangst in der Bevölkerung. Die Darstellung hätte hier an analytischer Schärfe gewonnen, wenn näher darauf eingegangen worden wäre, wer wovor genau Angst hatte und welche diskursiven Funktionen mit Angstzuschreibungen verbunden waren. Im nächsten Kapitel, das nun auf konkrete Quellen gestützt ist, kommt diese analytische Schärfe jedoch voll zum Tragen. Wehner zeigt dort, mit welchen Argumenten und Interessen die deutsche Versicherungswirtschaft die Atomenergie in der Frühphase (1955–1962) als nicht versicherbar einstufte. Dabei betont er, dass „die Warnungen der Versicherungsexperten nicht aus einer postmateriellen Sorge um Umwelt und Gesundheit resultierten, sondern sich aus dem ökonomischen Kalkül ableiteten, den Versicherungsbestand nicht durch die blinde Hereinnahme eines potenziell ruinösen Katastrophenrisikos zu gefährden“ (S. 107). Mit gleicher analytischer Schärfe beschreibt er, wie das bundesdeutsche Atomgesetz ausgehandelt wurde, welche Einflüsse die amerikanische Gesetzgebung hinsichtlich der Haftung bei Atomunfällen auf die bundesdeutsche Atomdebatte hatte und welche Kompromisse gefunden wurden, um den Betrieb von Atomkraftwerken in der Bundesrepublik für die Energieversorgungsunternehmen auf eine rechtlich sichere und betriebswirtschaftlich interessante Grundlage zu stellen.

Das dritte Kapitel widmet sich der Konsolidierung des bundesdeutschen Atomprogramms (1957–1968). Die Art und Weise, wie eben dieses Programm in den 1970er-Jahren einer breiten gesellschaftlichen Kritik unterzogen wurde, ist Thema des vierten Kapitels. Dabei ist für Wehner die Frage zentral, welche Risiken von den unterschiedlichen Akteuren in die atompolitische Debatte eingebracht und wie diese begründet wurden. Das fünfte Kapitel, das die Jahre 1975 bis 1986 abdeckt und einen besonderen Fokus auf die Zeit zwischen den Unfällen von Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986) legt, widmet sich insbesondere der Zeitdiagnose „Risikogesellschaft“ und ist somit aus historiographischer Sicht der spannendste Teil der Studie. Interessant sind hier vor allem Wehners Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der Verschiebungen von Problemwahrnehmungen. So wurde „die nukleare Kontroverse von der Versicherungswirtschaft in die Kategorie neuartiger politischer Gefahren einsortiert […] [und] avancierte zum Bezugspunkt von Gefahrenkonstruktionen, die sich zur Diagnose einer angstgesteuerten, irrationalen und dadurch unkalkulierbarer werdenden Gesellschaft verfestigten“ (S. 376). Ebenso ergaben sich durch den Atomkonflikt Verschiebungen bei der Problembearbeitung: „Die Assekuranz versprach sich von dem Einbezug soziologischen Wissens über die ‚Gesellschaft‘ die Optimierung ihrer Risikomodelle.“ (ebd.)

Auf seinen 400 Seiten hat das Buch durchaus einige Längen, doch sind diese dem Genre des Textes geschuldet: Es ist nun einmal eine deutsche Dissertationsschrift und kein für ein breites Publikum konzipiertes, prägnant strukturiertes angelsächsisches „first book“. Wen die versicherungstechnischen Details zur Risikostreuung durch die Methode der „Poolung“ oder die Rezeptionsgeschichte von Sheldon Novicks Buch „The Careless Atom“ (1969, deutsche Übersetzung 1971) nicht interessieren, der kann die entsprechenden Absätze auch überblättern, ohne Gefahr zu laufen, das Gesamtargument nicht mehr zu verstehen. Denn am Ende jedes Kapitels offeriert der Autor ein Zwischenfazit, das die wichtigsten Punkte der vorangegangenen Analyse bündelt.

Im konzisen Schlusskapitel fasst Wehner seine Ergebnisse nochmals zusammen. „Ein Zentralbefund lautet […], dass der Wandel der gesellschaftlichen Sicherheitskultur seit den siebziger Jahren die nukleare Risikopolitik der Assekuranz wesentlich stärker geprägt hat als der eigentliche Verlauf dieses Versicherungsgeschäfts.“ (S. 378) Es waren also nicht primär ökonomische Aspekte, die zu Umbrüchen im Denken und Handeln der Versicherungsgesellschaften führten, sondern „Umbrüche von […] Politik, Gesellschaft und Kultur“ (ebd.). Gleichzeitig betont Wehner den Einfluss, den Versicherungsexperten genau auf diese Umbrüche hatten. Denn die „Assekuranzexperten […] erschlossen und kommunizierten schon frühzeitig die bestehenden Gefahrenparallelen [von Kernenergie und Atomwaffen], die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erst in den siebziger Jahren breitenwirksam zur Sprache gebracht wurden“ (S. 379). Des Weiteren „erfüllten Versicherer […] die Rolle von Gegen-Experten, deren Sichtweise auf Sicherheit und Risiken in der Kerntechnik mit den offiziellen Darstellungen stark kontrastierte“ (S. 379). Andererseits waren sie „in die politisch-legislativen Aushandlungsprozesse zum Atomgesetz unmittelbar eingebunden“ (S. 380). Inwiefern der Vergleich mit den Entwicklungen in den USA hier einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt, zeigt Wehner, wenn er darauf hinweist, „dass die deutsche Umweltbewegung ihre Verunsicherung prominent mit dem Verweis auf die Versicherungen abstützte, […] [da] der Anti-Atom-Protest von den Eliten in der Bundesrepublik deutlich weniger Unterstützung erfuhr als in den USA“ (S. 386). In diesem „vergleichsweise schwächeren Rückhalt“ liege auch der Grund, warum „in der Bundesrepublik intensiver um die „Rationalität“ und „Irrationalität“ von Atomängsten gerungen wurde (ebd.).

Wehner ist es gelungen, der breiten Basis an Forschungsliteratur zur bundesdeutschen Atomgeschichte eine wichtige Perspektive hinzuzufügen. Durch die Erschließung von neuem Archivmaterial hat er die Blackbox der viel beschworenen deutschen „Atomangst“ ein Stück weit geöffnet und gezeigt, wie konkret mit Angst und Angstzuschreibungen (Risiko-)Politik betrieben wurde. In einem zentralen Aspekt bleibt er jedoch der Forschungstradition ein bisschen zu sehr verhaftet: Thematisiert wird ausschließlich die Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung – und nicht die Nutzbarmachung dieser umstrittenen Technologie im Rahmen von „Peaceful Atoms“ insgesamt. Obwohl zum Beispiel an vereinzelten Stellen angesprochen wird, dass sich die Regelungen der Gefährdungshaftung für unerwünschte Folgen von ionisierender Strahlung in Atomkraftwerken grundsätzlich vom medizinischen und wissenschaftlichen Bereich unterschieden (z.B. S. 120), geht das Buch auf diesen Aspekt leider nicht weiter ein, sondern bezieht „Atomgefahr“ ausschließlich auf den Bereich der Energieversorgung. Zu untersuchen, wie verschieden sich die Konstruktion der Gefahrenzuschreibungen je nach Anwendungsform von nuklearer Technik gestaltete und wie sich dementsprechend unterschiedliche Risikowahrnehmungen und Risikopolitiken herausbildeten, wäre eine gewinnbringende Weiterentwicklung der Forschungsfragen, die Wehner aufgeworfen hat.

Darüber hinaus verlangt dieses Buch geradezu nach einem Fortsetzungsband für die Zeit nach Tschernobyl. Denn mit diesem Unfall wurde das exzessive Hypothetisieren über den größten anzunehmenden Schadensfall auf sehr konkrete Probleme heruntergebrochen – zum Beispiel für die westeuropäische Landwirtschaft auf Ernteausfälle durch kontaminiertes Blattgemüse. Wenn im Vergleich zu den sozialen und ökologischen Implikationen von Tschernobyl in Osteuropa derartige Aspekte auch nebensächlich erscheinen, so entpuppten sie sich hinsichtlich der mit ihnen verbundenen transnationalen Haftungsfragen doch als höchst komplex.