Titel
Diener des Rechts und der Vernichtung. Das Verfahren gegen die Teilnehmer der Konferenz von 1941 oder: Die Justiz gegen Fritz Bauer


Autor(en)
Schneider, Christoph
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 30
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christof Beyer, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ist eine zentrale Figur der bundesdeutschen Justizgeschichte. In den vergangenen Jahren ist ihm ein starkes Interesse zuteil geworden, das sich in einer großen Anzahl neuer Veröffentlichungen, Spielfilme und Tondokumente geäußert hat.1 Bauers Bemühungen um eine Ahndung der Patientenmorde im Nationalsozialismus fristen in diesem Kontext allerdings eine eher randständige Existenz. Das liegt auch an dem Scheitern dieser Bemühungen: Das Verfahren gegen Obergutachter und Schreibtischtäter der zentral in der Berliner Tiergartenstraße 4 organisierten „Euthanasie“-Morde, Werner Heyde, Friedrich Tillmann und Gerhard Bohne, platzte 1964 spektakulär: Heyde beging kurz vor Prozessbeginn Selbstmord, Tillmann stürzte tödlich aus einem Fenster, Bohne flüchtete nach Argentinien. Die Ermittlungen gegen die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte des „Dritten Reiches“, welche die „Euthanasie“-Morde deckten, blieben ebenfalls ohne juristische Konsequenzen. 1970 – zwei Jahre nach Fritz Bauers Tod – stellte das Landgericht Limburg das Verfahren gegen die verbliebenen Juristen ein, die in die „Euthanasie“-Morde eingeweiht gewesen waren.

Wie der Autor Christoph Schneider richtig feststellt, passen diese „Niederlagen“ in der Arbeit Bauers „weder in das popkulturelle Bild des Aufarbeitungshelden noch in die nationale Bewältigungsbilanz“ (S. 120). Gerade unter diesem Aspekt kommt Schneiders Arbeit das Verdienst zu, sich intensiv mit Fritz Bauers Ermittlungen gegen den Staatssekretär und zeitweiligen kommissarischen Leiter des Reichsjustizministeriums 1941/42, Fritz Schlegelberger, sowie der von ihm einberufenen Konferenz am 23. und 24. April 1941 zu befassen. Zu diesem „für die Geschichte der Vernichtungspolitik singuläre[n] Ereignis“ (S. 8) lud Schlegelberger die höchsten Vertreter der Justiz sowie die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte sämtlicher Oberlandesgerichtsbezirke nach Berlin, um sie über die bereits seit Beginn 1940 laufenden Gasmorde an Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen zu informieren. Anlass waren in den vorangegangenen Monaten immer wieder bei den Justizbehörden eingegangene Meldungen und Anzeigen, welche die Patientenmorde zum Gegenstand hatten. Auch konnten beispielsweise Gerichtsbeschlüsse und -bescheide nicht zugestellt werden, da deren Adressaten den „Euthanasie“-Morden zum Opfer gefallen waren (S. 58). Darum beschloss das Reichsjustizministerium, besagte Vertreter der Justiz bei der Konferenz in den laufenden Massenmord und seine Organisation einzuweihen. Sie wurden angewiesen, Anzeigen und Eingaben mit Bezug auf die „Euthanasie“-Morde unbearbeitet an das Reichsjustizministerium weiterzuleiten. Widerspruchslos fügten sich die Rechtsvertreter dieser Weisung – womit für die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt 1960 der Anlass gegeben war, gegen 19 der Konferenzteilnehmer wenige Tage vor der Verjährungsfrist ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Mord einzuleiten.

Die rechtshistorische Bearbeitung der juristischen Verfolgung von Patientenmorden im Nationalsozialismus scheint derzeit wieder gesteigertes Interesse hervorzurufen.2 Jedoch verwundert es Christoph Schneider zu Recht, warum die Konferenz von 1941 und das Schlegelberger-Verfahren bisher nur wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren haben, obwohl sie in der Geschichtswissenschaft und den grundlegenden Arbeiten zu den Patientenmorden immer wieder Erwähnung findet.3 Der Autor holt dies ausführlich nach und beschreibt in elf Kapiteln die Konferenz von 1941 selbst, den Verfahrensverlauf gegen Franz Schlegelberger und andere von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens 1960 bis zur Einstellung 1970, die Aussagen und Entlastungsstrategien der beschuldigten Juristen und die Umstände der Sicherung der Ermittlungsakten für die Nachwelt. Flankiert werden diese zentralen Elemente durch Einschätzungen der erinnerungspolitischen Bedeutung von Fritz Bauers Arbeit sowie der historischen Relevanz der Konferenz und des Ermittlungsverfahrens. Drei Geschichten von Opfern der „Euthanasie“-Morde ergänzen den Gang der Darstellung.

Schneider arbeitet plausibel heraus, dass der Schlegelberger-Konferenz im Kontext der noch folgenden nationalsozialistischen Verbrechen besondere Bedeutung zukommt, da sie – auch im Hinblick auf die „Euthanasie“-Morde als historischer Beginn des Holocaust – die „geschmeidige Anpassung des Justizapparats an die Erfordernisse der Vernichtungspolitik“ signalisierte (S. 106). Mit dieser Feststellung weitet Schneider seine Analyse zu einer Kritik des bürgerlichen Rechts aus. So unterstreiche das „leuchtende Beispiel“ des Vormundschaftsrichters Lothar Kreyssig, der aufgrund der „Euthanasie“-Morde Strafanzeige stellte und die Verlegung der unter seiner Vormundschaft stehenden Patienten untersagte, dass die etwa 1.600 weiteren Vormundschaftsrichter im Deutschen Reich nichts dergleichen unternahmen – und dies obwohl sie, wie das Beispiel Kreyssig ebenfalls zeigt, keine gravierenden Konsequenzen zu fürchten hatten. Damit folgt Schneider seinem engagiertem Ansatz, der auch seine erinnerungspolitische Analyse der Person Fritz Bauer bestimmt: „Irgendwann genügt es nicht mehr, mahnend auf das gute Beispiel hinzudeuten, es gilt, zu verstehen, wieso die Wirklichkeit eine andere war.“ (S. 68)

Dies betrifft eben auch die Verfasstheit der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz, in der Fritz Bauer eine Ausnahme war. Die Einlassungen der beschuldigten hohen Juristen im Schlegelberger-Verfahren verdeutlichen die damalige Argumentationsstrategie, nach der die Justiz im Nationalsozialismus allein ein „Anhängsel einer übermächtigen Maschine“ gewesen sei, die gegen „Hitlers Machtfülle“ nichts hatte ausrichten können (S. 113). Wie Schneider aufschlussreich darstellt, ging diese Selbstwahrnehmung von einer vom „Rechtspositivismus gefesselten Juristengeneration“ aus, welche die vom nationalsozialistischen Staat geschaffenen Gesetze und Normen anzuwenden hatte (S. 141). Doch gerade bei der Einweihung in die „Euthanasie“-Morde greife diese Argumentation nicht: Die gesamte Tötungsaktion lief 1941 bereits ohne Abstimmung mit der Justiz und auch ohne „technisch-juristische Verbrämung“ (S. 156). Es ging vielmehr um die Gewährleistung des weiteren reibungslosen Ablaufs der Patientenmorde. Dieser Ablauf sollte auch mittels zweier geheimer Rundverfügungen des Reichsjustizministeriums an die Justizverwaltungen vom Oktober 1941 erreicht werden, die den letzten Wohnort der ermordeten Patienten und damit das zuständige Nachlassgericht sowie sie betreffende Vormundschaftssachen und Anstaltseinweisungen betrafen. Mit dem Ziel der weiteren Geheimhaltung der zu diesem Zeitpunkt bereits gestoppten zentral organisierten „Euthanasie“-Morde formuliert, wurde die Justiz letztlich auf allen Ebenen und überall im Deutschen Reich über den Massenmord informiert.

Auch darum erschienen laut Schneider dem Justizbetrieb die Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft so „ungeheuerlich“, da sie das Potential hatten, die deutsche Justiz insgesamt zu diskreditieren (S. 130). Nachdem die Ermittlungen insgesamt schleppend verliefen, wurde das Schlegelberger-Verfahren kurze Zeit nach Fritz Bauers Tod wie erwähnt eingestellt und die Beschuldigten mit einem lapidaren Beschluss außer Verfolgung gesetzt. Auch wenn über die Interessenlagen bei diesem Beschluss nur spekuliert werden kann, zeigt doch die von Schneider beschriebene mühsame Suche nach dem Verfahren durch den Richter am Oberlandesgericht Braunschweig Helmut Kramer in den Jahren 1978 bis 1984 das geringe Interesse der bundesdeutschen Justiz, den Ermittlungen Bauers allzu große Bedeutung zukommen zu lassen.

Mit seinem Buch hat Christoph Schneider der Bedeutung der Schlegelberger-Konferenz und des entsprechenden Verfahrens den Platz eingeräumt, der ihm in der (rechts-)historischen Betrachtung der Patientenmorde im Nationalsozialismus zukommt. Gerade auch in der Verknüpfung mit der heutigen Erinnerungspolitik gewinnt das Buch zusätzlich an Relevanz: Fritz Bauer werde heute auch dafür geliebt, dass er dafür gesorgt habe, „dass man damals auf die Idee kommen konnte, es könne ein besseres Deutschland geben“ (S. 208). Umso wichtiger ist der Hinweis des Autors, dass Fritz Bauers berühmter Frankfurter Auschwitz-Prozess in der bundesdeutschen Justizgeschichte keine Vorreiterrolle zu einer vermeintlich folgenden „Aufarbeitung der Vergangenheit“ hatte, da die weiteren legislativen Maßnahmen und Verfahren wie der Düsseldorfer Majdanek-Prozess eher die Rückkehr zu einer „strafprozessualen Lässigkeit“ markierten (S. 212).

Diese Tendenz zeigte sich auch in den folgenden Verfahren gegen Täter der Patientenmorde, die ihren Endpunkt in den bekannten milden Urteilen gegen die „Euthanasie“-Ärzte Klaus Endruweit und Heinrich Bunke wegen mehrtausendfacher Beihilfe zum Mord 1986 und 1988 fand. Wie sich in Bezug auf die Patientenmorde die Rechtsprechung und Erinnerungspolitik gestaltet hätte, wenn die Prozesse gegen Werner Heyde et al. und Franz Schlegelberger et al. stattgefunden hätte, muss der Spekulation überlassen bleiben. Mit ähnlichen Spekulationen ist das ansonsten sehr lesenswerte Buch Schneiders an manchen Stellen etwas überfrachtet. Auch hätte man sich bei den drei eingefügten Geschichten von Opfern der Patientenmorde zumindest einige grundlegende Quellenangaben gewünscht. Diese geringen Einschränkungen schmälern aber nicht das Verdienst des Buches, das Schlegelberger-Verfahren und damit auch die juristischen Misserfolge Fritz Bauers in den Fokus zu rücken. Denn Bauers erfolglos geführte Ermittlungen und Prozessvorbereitungen zeigen sich hier einmal mehr sowohl als wichtige Quelle zum Verständnis nationalsozialistischer Verbrechen wie auch als Quelle zum Verständnis der Widerstände gegen die juristische Verfolgung dieser Verbrechen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht, München 2013; die Spielfilme „Im Labyrinth des Schweigens“ (2014), „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015), „Die Akte General“ (2016); Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Fritz Bauer. Sein Leben, sein Denken, sein Wirken. Tondokumente, Berlin 2017. Grundlegend zu Bauer: Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biografie, München 2009.
2 Vgl. z.B. Petra Schweizer-Martinschek, Die Strafverfolgung von NS-„Euthanasie“-Verbrechen in SBZ und DDR, Stöttwang 2016; Anika Burkhardt, Das NS-Euthanasie-Unrecht vor den Schranken der Justiz: eine strafrechtliche Analyse, Tübingen 2015.
3 Schneider, Diener des Rechts, S. 13 und S. 10, hier auch die Angaben zur Forschungsliteratur in FN 8. Zur Rolle Bauers bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Euthanasie zuletzt: Udo Dittmann, Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“, in: Juristische Zeitgeschichte 17 (2016), S. 363–392. Zum Schlegelberger-Verfahren: Hanno Loewy / Bettina Winter (Hrsg.), NS-„Euthanasie“ vor Gericht. Fritz Bauer und die Grenzen juristischer Bewältigung, Frankfurt am Main 1996; Helmut Kramer, Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte als Gehilfen der NS-„Euthanasie“. Selbstentlastung der Justiz für die Teilnahme am Anstaltsmord, in: Kritische Justiz 1 (1984), S. 25–43.

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