T. Schneider (Hrsg.): Auszeiten vom Töten

Cover
Titel
Auszeiten vom Töten. Remarques Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und die Verfilmung Arch of Triumph


Herausgeber
Schneider, Thomas F.
Reihe
Erich Maria Remarque Jahrbuch XXVI (2016)
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
191 S., 172 Abb.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mariana Parvanova, München

Mit dem „Erich Maria Remarque Jahrbuch 2016. Auszeiten vom Töten“ ist es dem Herausgeber Thomas Schneider erneut gelungen, weitere wichtige Beiträge zur Remarque-Forschung zu bündeln. Das Jahrbuch ist ein Beweis dafür, dass es bei der Tiefenforschung gut bekannter Werke Remarques wie „Im Westen nichts Neues“ und „Der Weg zurück“ noch Neues zu entdecken gibt. Gleichzeitig zeigt es, dass die Remarque-Forschung immer breiter und vielseitiger wird.

Ein Beleg dafür ist beispielsweise der Beitrag „‚Arch of Triumph’ – US-Spielfilm im Noir Style von Lewis Milestone (1948) nach dem gleichnamigen Roman von Erich Maria Remarque (1945)“ von Peter Dörp, der erst dank der fortschreitenden Digitalisierung möglich wurde. Der Autor entführt den Leser in die Kinowelt der 1940er- und 1950er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und rekonstruiert mithilfe eines Computers minutiös folgende Versionen des Films: den Director’s Cut im Rohschnitt, die restaurierte Fassung des amerikanischen Spielfilms und den deutsch synchronisierten Film. Die Analyse beschreibt nicht nur die Unterschiede der genannten Filmfassungen, sondern benennt vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Films die Gründe für die entstandenen Kürzungen und die Auswirkung auf die Vertonung ins Deutsche im Hinblick auf den Filmkompositionsstil „Noir Style“.

Dabei zeigt sich „[...], dass die deutschen Untertitel zum Originalton mitunter erheblich vom Synchronton der deutschen Spielfilmfassung abweichen“ (S. 76) und die originale Gesamtheit aus Ton und Bild nicht wiedergeben. Diese Feststellung wird mit einer nahezu vollständigen Analyse der einzelnen Filmszenen untermauert. Dörp verbindet die Sprach- und Aussageanalyse konsequent mit der Analyse der Mittel des Noir Styles. Dem Verfasser gelingt es zu beweisen, dass die gegenüber dem Roman vermeintlich gekürzte und somit fehlende politische Aussage zugunsten der Themen Hass, Freundschaft und der Liebesgeschichte zwischen Ravic und Joan Madou auch im Film durchaus subtil präsent ist. Ferner wird gezeigt, wie Lewis Milestone aus Licht und Schatten die Welt der Pariser Emigranten konstruiert hat. Durch Lichtakzente wird mit der Phantasie des Zuschauers à la „low key photography“ gespielt. Die vielen Auslassungen, Vorausdeutungen und Rückblenden widerspiegeln die inneren Stationen der literarischen Vorlage und schlagen die Brücken zu den politischen und historischen Hintergründen. Im Ergebnis zeigt Dörp, dass diese Regie- und Kompositionsmittel die herausgeschnittenen Szenen mit politischen Nuancen kompensieren und entgegen der Meinung von Tilman Westphalen und Max Honert die ganzheitliche Aussage des Remarque-Werkes bewahren. Er entkräftet mit seiner Analyse die negative Filmkritik und empfiehlt dem Leser sich die vierstündige Rohfassung von „Arch of Triumph“ anzuschauen, um sich selbst eine Meinung zu bilden.

Oleg Pokalenkov untersucht in seinem Aufsatz die Struktur des Erzählens im Roman „Der Weg zurück“. Abgesehen davon, dass der Autor keine Begründung dafür liefert, warum er seine Analyse ausschließlich auf der Theorie von Mieke Bal über das Problem des Erzählers und der unterschiedlichen Textebenen stützt und wenig weiterführende sekundäre Literatur verwendet, liegt hier eine in sich konsequente Analyse vor. Die These der Änderung der Erzählperspektive in Abhängigkeit vom Ziel des Autors stellt er entlang der Theorie von Bal in sechs Punkten mit fast mathematischer Präzision auf. Die Terminologie und die Auswahlkriterien sind gut definiert. Das Ergebnis der Analyse folgt ebenfalls Bals theoretischem Gerüst: Die Person des Erzählers und die Vielschichtigkeit seiner Erzählperspektive sind demnach ausschlaggebend für den Umwandlungsprozess der Fabel in eine Erzählung im Roman. Merkwürdig ist lediglich Pokalenkovs Argumentation aus der Wir-Perspektive. Handelt es sich um einen „pluralis auctoris“ oder ein Überbleibsel der üblichen kollektiven Wir-Perspektive der sowjetischen Literaturkritik?

Zwei weitere Beiträge in diesem Jahrbuch widmen sich der Rezeption und dem Einfluss Remarques in Russland und in Katalonien. Jordi Jané-Lligé berichtet über die Bedeutung des Romans „Im Westen nichts Neues“ für die Entstehung der katalanischen Kultur und Literaturlandschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er beschreibt die Veröffentlichung der katalanischen Übersetzung des Buches als „das meist verkaufte Buch“ auf Katalanisch und als „einen passenden Anlass“ für die katalanische Literaturkritik, über ein „globales Phänomen“ (das Phänomen der Kriegsliteratur) zu debattieren (S. 44ff.). Seine Untersuchung macht klar, dass „Im Westen nichts Neues“ der einzige Kriegsroman gewesen ist, der ins Katalanische übersetzt worden ist. Der Autor gewährt bei seiner Analyse einen detaillierten Einblick in den Prozess der Ablösung der katalanischen Kultur und Literatur von der spanischen. Er schildert die historischen und kulturellen Hintergründe dieses Prozesses und interpretiert Remarques Werk als besondere Verlockung für die Katalanen, wieder Weltliteratur auf Katalanisch zu lesen.

Roman Tschaikowsky legt eine chronologische Geschichte der Übersetzungen des Romans „Der Weg zurück“ ins Russische vor. Er gibt einen guten Überblick der Übersetzungen in den Emigrationszeitungen und -zeitschriften und in der Sowjetunion seit 1930. Tschaikowsky liefert Hintergrundinformationen zu der Biografie und zum Werdegang der einzelnen Übersetzer und auch zu den historischen und politischen Hintergründen zum Zeitpunkt der Entstehung der Übersetzungen. Die politisch-ideologischen Unterschiede zwischen Remarques Pazifismus und der offiziellen sowjetischen Ideologie sind hier nachvollziehbar als die Gründe dargestellt, die zu einem Übersetzungsstopp von Remarques Büchern zwischen 1936 und 1956 geführt haben (S. 65). Erst nach Stalins Tod, in der Zeit des Tauwetters unter Chruschtschow, wurde das Buch 1956 erneut übersetzt und redaktionell überarbeitet herausgegeben. Tschaikowskys Bewertung, dass die neuere Übersetzung nicht zwingend besser ist, ist verständlich und durch die angebotene Vergleichsanalyse nachvollziehbar (S. 69). Wie bei Pokalenkov verwirrt etwas die Wir-Perspektive der Analyse.

Der Beitrag von Ursula Meyer gibt dem Leser anhand des erfolgreichsten englischen Kinder- und Jugendbuch Autors Michael Morpurgo einen Einblick in die englische Tradition der Darstellung des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Ihre Analyse verfolgt die Wandlung dieser Kriegsliteraturtradition von den 1920er-Jahren bis heute in der Erwachsenen- sowie in der Kinder- und Jugendliteratur. Sie zeigt stellenweise Parallelen zu Remarques Kriegsdarstellung. Interessant ist Meyers Erkenntnis, dass es heute in Deutschland insgesamt ein viel geringeres Interesse an dem Thema „Erster Weltkrieg“ als in England gibt. Dies benennt sie als den Grund, weswegen die Bücher von Morpurgo bei uns nur mäßigen Erfolg haben.

Der titelgebende Aufsatz von Marc Hieger „Auszeiten vom Töten“ beschäftigt sich mit der Darstellung des Zivilen in „Im Westen nichts Neues“. Der Autor widmet sich bekannten Themen aus der Remarque-Forschung wie der Diskussion um die angeblich fehlende politische Positionierung des Autors, dem filmischen/episodenhaften Aufbau des Romans und dem Thema der „verlorenen Generation“. Neu ist jedoch die gründliche Analyse auf Basis bisher unveröffentlichter Manuskripte und Materialien Remarques. Anhand der Ergebnisse verdeutlicht er das Spannungsverhältnis zwischen der Optimierung des Textes zwecks besserer Vermarktung einerseits und der Kraft der politischen Aussage bei der Darstellung des Zivilen andererseits. Hiegers Analyse des Empfindens von Paul Bäumer ist im Grunde genommen eine detaillierte und textimmanente Umschreibung des Phänomens der sogenannten „verlorenen Generation“. Leider wird dieser Begriff in der Analyse nicht mit einbezogen. Somit entgeht dem Forscher die Möglichkeit, aus einem vollen Reservoir vorhandener literaturwissenschaftlicher Erkenntnisse schöpfen zu können, um seine Aussagen noch mehr zu präzisieren.