C. Diebolt u.a. (Hrsg.): Handbook of Cliometrics

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Titel
Handbook of Cliometrics.


Herausgeber
Diebolt, Claude; Haupert, Michael
Erschienen
Berlin 2016: Springer VS
Anzahl Seiten
XXII, 590 S., 59 Abb., 20 Tab.
Preis
€ 319,93
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yaman Kouli, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Technische Universität Chemnitz

Das Schisma der Wirtschaftshistoriker in qualitativ und quantitativ arbeitende Wissenschaftler hat eine lange Tradition. Allerdings gibt es zahlreiche quantifizierende Publikationen seitens der Wirtschaftsgeschichte, die nicht als kliometrisch einzuordnen sind. Und umgekehrt können Arbeiten auch nach Heranziehung ökonometrischer Methoden auf der deskriptiven Ebene verharren. Trotzdem hat sich diese Sprachregelung durchgesetzt. Die Folgen dieser Trennung sind schwerwiegend, ergibt sich daraus doch, dass – von wenigen Foren wie dem Wirtschaftshistorischen Ausschuss des Vereins für Socialpolitik abgesehen – manchmal stärker übereinander als miteinander gesprochen und diskutiert wird. Wer auf einer Historikerkonferenz abfällige Bemerkungen über mathematisch fundierte Ansätze macht, dem sind die Lacher zwar sicher. Erheblich problematischer ist jedoch, dass es zu Kontroversen kaum noch kommt, da die Kontaktzonen – gemeinsam frequentierte Zeitschriften oder Konferenzen – rar geworden sind. Sicherlich deckt die Wirtschaftsgeschichte ein weites Feld ab. Arbeiten zur Moral am Markt werden mittlerweile überwiegend der Wirtschaftsgeschichte zugeordnet, so etwa die kliometrische Messung von border effects während der Zwischenkriegszeit. Intensive Gespräche miteinander sind selten geworden, und das ist äußerst bedauerlich, da beiden Seiten damit wichtige Erkenntnisse entgehen.

Der vorliegende Sammelband hat das Potenzial Abhilfe zu schaffen, auch wenn das möglicherweise nicht intendiert ist. Die Zielgruppe wurde von den Autoren nicht eindeutig benannt. Das Handbuch zur Kliometrie besteht aus 22 Aufsätzen und ist in sechs thematische Abschnitte unterteilt: Geschichte, Humankapital, Wachstum, Finanzwesen, Innovationen und Regierungen (government). Die Aufsätze sind jeweils als „Tertiärliteratur“ konzeptioniert, mithin als Darstellung der Beiträge der Kliometrie für den jeweils behandelten Gegenstand. In diesem Zusammenhang werden regelmäßig auch die jeweils genutzten Methoden genannt und beschrieben, so dass der Leser in die Lage versetzt wird, sich weiter zu informieren. Gleichzeitig werden die behandelten Themen historisch erläutert, so dass die Darstellung über eine Beschreibung der Leistungen der Kliometrie hinausgeht. Jedem Aufsatz ist darüber hinaus eine eigene Bibliographie beigefügt, so dass der Leser auf die richtige Spur geführt wird. Hier ist die elf Seiten lange Literaturliste von Markus Lampe und Paul Sharp („Cliometric Approaches to International Trade“) hervorzuheben, das gros der Autoren hat erheblich kürzere Listen beigebracht.

Der Beleg der Leistungen der Kliometrie gelingt den meisten Autoren sehr plausibel. Insbesondere bei den Untersuchungsobjekten, die sich für eine Quantifizierung eignen, können die Autorinnen und Autoren sehr überzeugend den Mehrwert ökonometrischer Ansätze darlegen. Die Aufsätze zum Humankapital, zum Wachstum sowie zum Finanzwesen stehen hierfür Pate.

Einen etwas anderen Anspruch verfolgen die übrigen Aufsätze. Die Lektüre von Engermann und Rosenberg zu Innovationen in historischer Perspektive dürfte beispielsweise nur für wenige Forscher lohnenswert sein. Kliometrie spielt nur eine sehr untergeordnete Rolle und die Hinweise der Autoren zu Innovationen in historischer Perspektive sind jedem Innovationsforscher hinlänglich bekannt. Grundsätzlich anders stellt sich die Lage beim exzellenten Aufsatz von Jochen Streb zur Rolle von Patenten dar, der durch eine weitergehende Systematisierung der Patente, unter anderem nach geographischer Herkunft, den Mehrwert einer kliometrischen Analyse hervorhebt. Thomas Rahlfs äußerst aufschlussreicher Aufsatz zu „Statistical Inference“ ist faktisch eher als Dogmengeschichte statistischer Auswertung konzipiert. Terence Mills Beitrag zu „Trends, Cycles, and Structural Breaks in Cliometrics“ erklärt die wichtigsten Ansätze zur Berechnung von Trends und ihrer Wachstumsraten sowie von Zyklen. Dabei gleicht es stärker einem Lehrbuch als einer Darstellung der Leistungen der Kliometrie. Die letzten beiden Aufsätze thematisieren die Wirtschaftskrise 1929 in den USA (Price Fishback) und die kliometrischen Herangehensweisen an Kriege als Untersuchungsobjekt (Jari Eloranta). Hierbei gehen sie wie die Aufsätze der ersten Abschnitte vor, indem sie die Errungenschaften und den Instrumentenkasten der Kliometrie zeigen.

Nicht in allen Fällen liegt die Leistung der Kliometrie darin, vorher unlösbare Probleme aufgeschlüsselt zu haben. Gregory Clarks Beitrag zur so genannten industriellen Revolution ist faktisch eine Dokumentation des Umstands, dass Wirtschaftshistoriker jedweder Couleur diesen epochalen Wandel bisher zwar wort- und formelreich beschreiben, aber weiterhin nicht erklären können. Das schmälert seine Leistung jedoch nicht im Geringsten. Man kann hierin aber auch ein Muster erkennen. Gerade bei multikausalen Phänomenen wie der industriellen Revolution, Innovationen oder Humankapital (die sich jedenfalls bisher nicht quantitativ erfassen lassen) zeigen sich auch die Grenzen der Kliometrie.

Die Qualität der Aufsätze ist überwiegend hoch, wenn es, wie oben beschreiben, auch Ausnahmen gibt. Auch lassen sich nicht alle beschriebenen Erkenntnisse auf die Kliometrie zurückführen, wie etwa beim – posthum erschienen – Beitrag von John James zu Zahlungssystemen hervorzuheben ist. Man muss freilich manches auch nachsichtig überlesen. Die Behauptung der beiden Herausgeber auf den ersten Seiten, die Kliometrie sei grundsätzlich die wissenschaftlichere Methode (S. viii), lässt sich vielleicht noch mit viel gutem Willen nachvollziehen. Dass nicht kliometrisch arbeitende Wirtschaftshistoriker die Ökonometrie jedoch „verabscheuen“, sich aber angesichts der Dominanz der Kliometrie in die Geschichtsinstitute zurückgezogen hätten (S. 20), dürfte vorwiegend für die USA und Großbritannien belegbar sein, ist aber dennoch eine unnötig scharfe Formulierung. Sie provoziert schon deswegen Widerspruch, weil sich nicht alle Ökonomen ökonometrischer Methoden bedienen. Diese Behauptung unterstellt auch, dass kliometrisch und nicht-kliometrisch arbeitende Wirtschaftshistoriker grundsätzlich dieselben Untersuchungsobjekte haben und sich allein in der Methodik unterscheiden. Das ist aber nicht der Fall: Die Rolle von Unternehmern, Unternehmensgeschichten oder auch der Aufstieg wissensbasierten Wirtschaftens sind Forschungsgebiete, bei der sich die nicht-kliometrischen Methoden als ergiebiger erwiesen haben. Das Nebeneinander beider Herangehensweisen ist daher nicht nur das Resultat der Beharrungskraft eines „gallischen Dorfes“ von Historikern, die die Kliometrie grundsätzlich ablehnen. Beide Seiten haben von der Konkurrenz profitiert.

Wer sollte also das Buch lesen? Für Kliometriker birgt es vermutlich kaum neue Erkenntnisse, und Ökonomen sind die beschriebenen Methoden sicherlich ebenfalls bekannt. Quantitativ arbeitende Soziologen und Politologen verfügen über eigene Handbücher. Damit erscheinen Historiker als die wichtigste Zielgruppe. Ihnen sei dieses Buch angeraten, wenn sie in einen konstruktiven Dialog mit Kliometrikern treten wollen, denn er könnte durchaus dazu führen, dass produktivere Kontroversen möglich werden.1 Und das sollte im Interesse beider Seiten sein.

Bedauerlicherweise jedoch – und damit wären wir beim wichtigsten Kritikpunkt – stellen die rund 300 Euro für den Erwerb des Buches beinahe einen Abwehrpreis dar. Kaum ein Historiker wird sich das Buch selbst leisten, und auch manche Bibliothek wird zurückhaltend sein, einen solchen Betrag zu investieren. Es bleibt daher zu hoffen, dass zeitnah eine erheblich günstigere Taschenbuchausgabe erscheinen wird.

Anmerkung:
1 Ein beredtes Beispiel ist die Replik von Michael Kopsidis und Daniel W. Bromley auf einen Aufsatz von Daron Acemoglu et al.: Daron Acemoglu / Davide Cantoni / Simon Johnson / James A. Robinson, The Consequences of Radical Reform: The French Revolution, in: American Economic Review 101 (2011), S. 3286–3307; Michael Kopsidis / Daniel W. Bromley, The French Revolution and German Industrialization: Dubios Models and Doubtful Causality, in: Journal of Institutional Economics 12 (2016), S. 161–190.

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