J.-P. Guérend (Hrsg.): Franz Stock: Wegbereiter der Versöhnung

Titel
Franz Stock: Wegbereiter der Versöhnung. Tagebücher und Schriften


Herausgeber
Guérend, Jean-Pierre
Erschienen
Freiburg im Breisgau 2017: Herder Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elisabeth Steinfurt, Freiburg im Breisgau

Mit dem Erscheinen dieses sorgfältig edierten Quellenbandes werden zum ersten Mal die Tagebücher und Schriften des deutschen katholischen Priesters Franz Stock (1904–1948) einer breiten Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich zugänglich. Stock wirkte während der Besatzung Frankreichs durch Nazi-Deutschland (1940–1944) als Pfarrer der deutschen Gemeinde und als Seelsorger in den Wehrmachtsgefängnissen in Paris sowie von 1944–1947 in den Kriegsgefangenenlagern in Cherbourg und Chartres. Er wird heute in Frankreich und Deutschland als Wegbereiter der deutsch-französischen Versöhnung und für seine große Menschlichkeit und Nächstenliebe verehrt.

Die vier Originalschriften, das „Tagebuch der Erschossenen“ (1), welches eigentlich kein Tagebuch ist, sondern ein einfaches Heft mit kurzen Aufzeichnungen über die Erschießungen der Widerstandskämpfer und Geiseln auf dem Mont Valérien, das erst nach Stocks Tod so bezeichnet wurde, das zweite Tagebuch aus dem Kriegsgefangenenlager in Cherbourg (2), der Bericht über das Stacheldrahtseminar in Chartres (3) und die dort gehaltene Ansprache zur Schließung desselben (4) werden mit einer Darstellung des Lebens von Franz Stock durch Étienne François, einen umfangreichen Anmerkungsapparat sowie einen Anhang historisch kontextualisiert.

Étienne François liefert in seiner Darstellung nicht nur eine komprimierte Lebensbeschreibung Stocks, sondern gibt auch wertvolle Hinweise zur historischen Interpretation und Auswertung der Quellen, insbesondere zum Tagebuch der Erschossenen: Er analysiert präzise die Umstände, unter denen Stock seine Aufzeichnungen verfasste, was ihn daran hinderte, ausführlicher zu sein und was man aus den wenigen subjektiven bzw. emotionalen Einträgen über seine Persönlichkeit schließen kann. Hinzu kommt eine statistische Auswertung der Altersentwicklung der zum Tode Verurteilten (S. 25) im Zusammenhang mit der Einführung des Pflichtarbeitsdienstes (STO) im Jahr 1942.

Häufig hat Franz Stock im Telegrammstil lediglich die Anzahl der an einem Tag von den deutschen Besatzern exekutierten Personen („4 Exek“, S. 48), deren Namen, die Adressen der Angehörigen und den Begräbnisort notiert. Lediglich in manchen Fällen notierte er den Grund für die Verurteilung bzw. etwas zu den Aktivitäten im Widerstand oder weitere Details zur Herkunft oder zum Familienstand.

Dafür notierte er fast immer – was für einen Geistlichen, der die Menschen auf ihrem letzten Weg begleitete, zentral war – ob sie gläubig waren oder nicht und ob sie beispielsweise „gut gebeichtet“ (S. 124) hätten. Er schildert ebenfalls Auseinandersetzungen, die er mit Kommunisten hatte, die von einem Gott nichts wissen wollten. In einigen Fällen beschreibt er das Verhalten der Todgeweihten wenige Stunden vor dem nahenden Tod und hielt sogar deren letzte Worte fest. Seine Aufzeichnungen sind einzigartige Zeugnisse menschlichen Verhaltens in einer absoluten Ausnahmesituation.

Dennoch bleiben in dem Tagebuch die Lebenswege vieler Verurteilter im Dunkeln. In der ausführlichsten Biographie von Raymond Loonbeek über Stock (Dt. Übersetzung 2015, Eos-Verlag St. Ottilien) werden ebenfalls nur einzelne Protagonisten und deren Lebenswege von den über 1.000 verurteilten und am Mont Valérien hingerichteten Widerstandskämpfern exemplarisch genauer beleuchtet. Dort kann man sich beispielsweise über die besondere Beziehung zwischen Stock und den beiden berühmten Widerstandskämpfern Honoré d’Estienne d’Orves und Gabriel Péri informieren, die im Tagebuch nicht erwähnt werden, da deren Hinrichtungen schon vor Beginn der Einträge stattgefunden hatten.

Das besondere Verdienst dieser Ausgabe besteht darin, dass jede einzelne Nennung eines Exekutierten in den Fußnoten durch präzise Angaben zu Alter, Beruf und Zugehörigkeit zu einem Netzwerk oder einer Gruppe der Résistance ergänzt wird. Eine Kurzbeschreibung der Widerstandsaktivitäten mit Ortsangabe, zum Beispiel die Beteiligung an einem Attentat, die Verteilung von Flugblättern oder ähnliches und Informationen zur Behandlung durch die Besatzer (Verhaftung, Verhör, Folter) bzw. den Grund für die Verurteilung folgen.

In den Fußnoten werden sogar diejenigen Namen und Details zu hingerichteten Widerstandskämpfern aufgeführt, die Franz Stock ausnahmsweise gar nicht erwähnt hat (S. 152). Durch diese akribisch recherchierten Informationen können den vielen Namen Individuen zugeordnet werden, die das gesamte Spektrum der Résistance repräsentierten, von dem 46 Jahre alten Hotelier über den 22jährigen Pianisten bis zu Mitgliedern eines Nachrichtendienstes der polnischen Armee (S. 144). Dadurch gewinnt der Leser einen tiefen Einblick in das Schicksal der Betroffenen und in deren Leben vor der Inhaftierung sowie in politische, soziale und auch religiöse Dimensionen der französischen Résistance.

Diese Informationen in den Fußnoten sind nicht nur für eine historische Analyse von Bedeutung, sondern sie helfen auch den Nachkommen von Widerstandskämpfern, zu erfahren, ob der zu Tode Gekommene von Franz Stock im Gefängnis oder bei der Hinrichtung betreut wurde. Dafür ist die parallele französische Ausgabe (Franz Stock, Journal de guerre, Paris 2017) besonders relevant, mit der der Herausgeber und seine Unterstützer aus dem deutschen und dem französischen Franz-Stock-Verein das Anliegen Stocks für die deutsch-französische Verständigung fortführen.

Durch die Lektüre des Tagebuchs der Erschossenen werden auch weitere Details zu den Kontakten von Franz Stock zur deutschen Militärverwaltung in Paris oder zu anderen hochrangigen Vertretern des NS-Regimes bekannt. Exemplarisch verwiesen sei auf den ausführlichen Tagebucheintrag zur Reise mit dem Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn und Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller durch die Bretagne im Oktober 1942 (S. 95ff.). In der Stock-Biographie von Loonbeek findet sich dazu nur ein Satz.1

Knappe Erläuterungen zu NS-Organisationen (beispielsweise zur „Dienststelle Rosenberg“ und deren Unterstützung archäologischer Forschungen in der Bretagne, Fn. 118), zu Kriegsereignissen und Personen in den Fußnoten erweisen sich als sehr hilfreich. Die kurzen Darstellungstexte im Appendix zu den Pariser Gefängnissen, Haftanstalten, Hinrichtungsstätten und insbesondere zu zehn Widerstandsnetzwerken liefern wichtiges Hintergrundwissen, zumal eine wissenschaftliche Überblicksdarstellung der Résistance in deutscher Sprache immer noch auf sich warten lässt.

Für noch lebende Zeitzeugen bzw. deren Nachkommen auf deutscher Seite ist der Namensindex der sogenannte „Chartrenser“, also derjenigen, die als Theologiestudenten bzw. angehende Abiturienten im Kriegsgefangenenlager in Chartres waren, von Bedeutung. Für dieses außergewöhnliche theologische „Stacheldrahtseminar“ hatte die Universität Freiburg die Patenschaft übernommen und Professoren und Dozenten entsandt. Da Franz Stock selbst über keine akademische Qualifikation zur Leitung eines solchen Seminars verfügte, hatte ihm die Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde verliehen.2

Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch und ein gelungenes deutsch-französisches Projekt!

Anmerkungen:
1 Raymond Loonbeek, Franz Stock. Menschlichkeit über Grenzen hinweg [Aus dem Französischen von Elisabeth Steinfurt], St. Ottilien 2015, S. 270.
2 Universitätsarchiv Freiburg D8/104 Promotionsurkunde vom 13. Dezember 1947, zit. nach Bernd Martin, Aussöhnung von unten: Auf dem Wege zum Élysée-Vertrag (23. Januar 1963), Sonderdruck aus den Freiburger Universitätsblättern, hrsg. i.A. des Rektors der Albert-Ludwigs-Universität, Heft 202 (Dez. 2013).

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