Cover
Titel
Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics


Autor(en)
Beckert, Jens
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 373 S.
Preis
£ 31.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„The Future Matters“ (S. 3), lautet ein zentrales Diktum von Jens Beckerts lesenswertem Essay, das eine Historikerin oder einen Historiker hellhörig werden lässt. Gilt nicht vielmehr „history matters“? Diese Frage drängt sich auf, schließlich wird die Gegenwart maßgeblich von vergangenen Ereignissen und sozialen Strukturen geprägt. Beckert verneint dies keinesfalls. Aber ebenso sei die Zukunft – oder vielmehr verschiedene Vorstellungen über mögliche Zukünfte – entscheidend. So würden Akteure ihre Perspektive auf eine prinzipiell offene sowie unsichere Zukunft ausrichten und dabei Vorstellungen über mögliche Entwicklungen entwerfen. Diese fiktionalen oder erdachten Erwartungen („fictional expectations“) würden dann die den kapitalistischen Wirtschaftssystemen inhärenten Dynamiken wie Wachstum und Wirtschaftskrise, aber auch politischen und soziokulturellen Wandel erzeugen.

Als treibende Mechanismen benennt Beckert zwei Faktoren: den sozialen und wirtschaftlichen Wettbewerb sowie die kreditbasierte Finanzierung von Investitionen. Beides schaffe sowohl die Möglichkeiten wie auch das systematische Verlangen nach dynamischem Wandel und permanenter Veränderung. Die sozialen Akteure verfolgen, angetrieben durch die erdachten individuellen wie kollektiven Erwartungen, ihre wirtschaftlichen Interessen und Ziele, argumentiert Beckert. Als Ausgangspunkt seiner Analyse wählt er damit die Mikroperspektive; diese weitet er jedoch auch auf gesamtgesellschaftliche Prozesse aus und versucht so, wirtschaftssoziologische und volkswirtschaftliche Ansätze miteinander zu verbinden. Beckert betont dabei, die Vorstellungen über die Zukunft wirkten gemeinschaftsstiftend, ähnlich wie dies Benedict Anderson mit seinen „imagined communities“1 gezeigt hat. Während jedoch Andersons Perspektive auf Vergangenheit und Gegenwart liegt, sieht Beckert die Handlungsoptionen auf die Zukunft gerichtet. Das primäre Ziel sei es, zukünftig Gewinne zu erzeugen oder das Einkommen und den sozialen Status zu verbessern. Aufgrund der prinzipiell offenen Zukunft ist es aber unklar, ob sich diese Pläne realisieren lassen oder ob aufgrund unvorhersehbarer Risiken die Vorstellungen verpuffen und sich eine andere Realität einstellt.

Gerade weil Beckerts Arbeit dieses Spannungsverhältnis zwischen vorgestellten Zukünften und der eingetretenen Realität stets im Blick behält, ist sie so lesenswert. Die Zukunftsvorstellungen selbst würden durch die Vergangenheit, zum Beispiel in Form von sozialen Strukturen und kulturellen Kodes, geprägt. Beckert argumentiert weiter, dass „fictional expectations“ aber auf die Zukunft ausgerichtet seien und von den sozialen Akteuren so behandelt werden, als ob sie bereits Realität geworden wären.2 Dadurch wirken die Erwartungen einerseits handlungsleitend und prägen das Verhalten in der Gegenwart. Sie stellen also einen interpretativen Rahmen zur Verfügung, wodurch in einer zunächst ergebnisoffenen Situation die Wahlmöglichkeiten eingegrenzt werden. Anders gewendet: Die Akteure versuchen mit ihren Entscheidungen die Vorstellungen über zukünftige Entwicklungen „wahr“ werden zu lassen. Andererseits bleiben die Erwartungen aber stets flexibel und können an reale Entwicklungen angepasst werden, wenn die Zukunft beginnt, sich von den „imagined futures“ zu entfernen. Das bedeutet aber auch, dass zu jedem Zeitpunkt unterschiedliche erdachte Erwartungen existieren (können) und um die Deutungshoheit im öffentlichen Diskurs konkurrieren.

Beckerts Essay zeichnet in zehn Kapiteln, die wiederum auf drei Abschnitte verteilt sind, überzeugend nach, wie die „imagined futures“ Dynamiken in kapitalistischen Wirtschaftssystemen entstehen lassen. Im ersten Teil, „Decision-Making in an Uncertain World“, fasst er zunächst die Forschungspositionen soziologischer, historischer und wirtschaftswissenschaftlicher Arbeiten zu Zukunftsvorstellungen zusammen. Abschließend argumentiert Beckert, dass die zeitliche Orientierung der Akteure in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem auf die Zukunft ausgerichtet sei. Somit prägen Vorstellungen über zukünftige Entwicklungen das Verhalten der Gegenwart. Anschließend geht Beckert auf die Bedeutung von Erwartungen und Unsicherheit im Kapitalismus ein, bevor er sein Konzept der „fictional expectations“ entwirft.

Im zweiten Teil – dem empirischen Herzstück des Essays – diskutiert Beckert die Bedeutung der erdachten Erwartungen für die vier „Building Blocks of Capitalism“: Geld und Kreditwesen; Investitionen; Innovationen; Konsum. Jedes dieser Elemente sei perspektivisch auf die Zukunft ausgerichtet. Damit das Finanzsystem funktioniert, müssten die sozialen Akteure die Erwartung teilen, dass das Geldwesen stabil und die Kreditwürdigkeit der Schuldner gewährleistet bleiben. Investitionen wiederum werden getätigt, wenn an sie die Erwartung eines zukünftigen Gewinns geknüpft ist, welches die möglichen Risiken aufwiegt. Anhand technologischer Innovationen können drittens Projektionen für das zukünftige gesellschaftliche Zusammenleben entworfen werden. Viertens treiben, so Beckert, die an den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen geknüpften Erwartungen den Konsum an. Gerade in Wohlstandsgesellschaften leitet sich der Wert von Konsumgütern aus ihrer symbolischen Bedeutung ab, die ihnen durch Kommunikationsprozesse sowohl von Produzenten wie auch Konsumenten eingeschrieben werden. Entscheidend für den Erfolg von Gütern ist letztlich der ihnen zugeschriebene Wert – eine weitere Form einer „fictional expectation“. Die in die Konsumgüter gesteckte Erwartung, die zum Beispiel von einer Bedürfnisbefriedigung bis hin zu einem sozialen Statusgewinn reichen kann, stellt sich in dem Augenblick ein, wenn sie erworben werden. Gleichsam führt der Konsum zu einer gefühlten „Entwertung“ der Produkte, wodurch erneut Erwartungen erzeugt und die Suche nach neuen Konsumgütern beginnt. Wie solche Prozesse ablaufen, schneidet Beckert in seinem Essay jedoch lediglich kurz an. So beschreibt das sogenannte „contact charisma“ (S. 197) die Aufwertung eines Konsumguts, sobald es von einer berühmten Person erworben bzw. öffentlich getragen wird. Immer wieder fragt der Leser an solchen Stellen, inwiefern diese Thesen nun zeitlich und geografisch zu verorten sind und ob sie nicht weiter differenziert werden müssten. Als Essay muss Beckerts Arbeit hier jedoch nicht die empirisch fundierte Basis liefern; wichtiger ist, dass er zum Nachdenken über die Bedeutung von Zukunftsvorstellungen und die Dynamiken das Kapitalismus anregt.

Im dritten Teil, „Instruments of Imagination“, geht Beckert auf Prognosen und Wirtschaftstheorien ein. Beides sind Instrumentarien, um erdachte Erwartungen zu generieren. Sie wirken damit unmittelbar handlungsleitend, da sie den Möglichkeitsraum der offenen Zukünfte einengen. Vorhersagen sind somit zum Beispiel Mechanismen, welche die Handlungen koordinieren, die dann wiederum zukünftige Realität prägen. Das sei letztlich das entscheidende Element und eben nicht, ob sich die Voraussagen bewahrheiten – was ohnehin in der Regel nicht zutreffe. Die zentrale Aufgabe von Prognosen ist es somit nicht, die Zukunft vorherzusagen. Vielmehr sollen sie glaubwürdige erdachte Erwartungen generieren, anhand derer Akteure ihr Handeln ausrichten können. Beckert rundet die theoretischen und empirischen Ausführungen in seiner Zusammenfassung ab, indem er sie an die Theorien zu modernen kapitalistischen Wirtschaftssystemen rückbindet, und stellt damit die „imagined futures“ in einen größeren Rahmen.

Jens Beckerts systematische, analytisch und argumentativ überzeugende Arbeit kann jedem empfohlen werden, der sich mit der Bedeutung von Zukunft und Zukunftsvorstellungen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts befassen möchte.3 Erstens lassen sich Beckerts theoretische Überlegungen für historische Fragestellungen adaptieren. Zweitens regen gerade der zweite und dritte Teil des Buches zum Nachdenken darüber an, inwiefern die angeschnittenen Zusammenhänge und die empirischen Versatzstücke um historisch-empirische Studien ergänzt werden könnten.

Anmerkungen:
1 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Mit einem Nachwort von Thomas Mergel, Frankfurt am Main 2005.
2 Für einen philosophischen Ansatz hierzu vgl. v.a. Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, 7. Aufl., Leipzig 1922.
3 Für eine Zusammenfassung aktueller Forschungsarbeiten vgl. exemplarisch Martina Heßlers Rezension zu Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München 2017, in: H-Soz-Kult, 20.06.2017, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27105 (11.09.2017).

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