Y. Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl

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Titel
The Golden Age Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe


Autor(en)
Petrovsky-Shtern, Yohanan
Erschienen
Anzahl Seiten
431 S.
Preis
€ 25,74
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexis Hofmeister, Departement Geschichte, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel

Die Geschichte der Marktflecken in den Westgebieten des Russischen Reiches, die einst einer sozio-ökonomisch differenzierten und dabei ethnisch und religiös mannigfaltigen Bevölkerung Heimat boten, ist sehr ungleich erforscht. Während die gegen Ende des 19. Jahrhunderts rapide zunehmenden sozialen und ethnischen Konflikte Gegenstand literarischer Beschreibungen wie historischer Darstellungen geworden sind, hat das erste Drittel des 19. Jahrhunderts, in dem sich der russländische Staat die nach den Teilungen Polen-Litauens gewonnenen Bevölkerungsgruppen einverleibte, weniger Aufmerksamkeit gefunden. Ein Grund für dieses Ungleichgewicht mag in der weitaus blutigeren Geschichte des 20. Jahrhunderts liegen, die sich als erinnerungspolitischer Sperrriegel vor das 19. Jahrhundert geschoben hat. Ein Hinweis auf bloodlands, wie die killing-fields Osteuropas bezeichnet wurden, soll hier genügen.1

Der größere Teil der Historiographie zum shtetl hält allerdings bedauerlicherweise bis heute an einer bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen exkludierenden Perspektive fest. Dies trifft etwa für die ukrainische Geschichtswissenschaft, aber auch für die israelische Historiographie zu. Die historische Vielfalt des multikulturellen Erbes der polnischen Adelsrepublik wurde von beiden erst vor kurzem entdeckt; je nach Standpunkt wurden jüdische oder nichtjüdische Teile der Bevölkerung mehr oder weniger ausgeblendet.2 Neben der im Schatten von Napoleons Russlandfeldzug stehenden, vergleichsweise zurückhaltenden Beschäftigung mit der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, wirkte sich auch die gerade unter Sozialhistorikern dominante Erzählung vom sozialen Abstieg nichtstädtischer Bevölkerungsgruppen im ausgehenden Zarenreich aus.

Yohanan Petrovsky-Shtern legt mit seiner Darstellung vom „Golden Age shtetl“ einen Gegenentwurf vor, der – so seine Hauptthese – das „hölzerne“ shtetl der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Ort ökonomischer und kultureller Blüte rehabilitieren will und nebenbei verspricht, seine Mikrogeschichte zu erzählen.3 Dazu wird in den einzelnen Kapiteln, die sich jeweils bestimmten Ausschnitten jüdischen Alltagslebens widmen, ein reiches Anschauungsmaterial ausgebreitet. Dieses schöpft der Autor vorwiegend aus Verwaltungsschriftgut, das er vor allem in ukrainischen Archiven eingesehen hat. Die Beispiele berücksichtigen die Regionen Podolien, Wolhynien und die rechtsufrige Umgebung von Kiew.

Explizit widerspricht Petrovsky-Shtern der Darstellung Yuri Slezkines, der als ebenfalls in der Sowjetunion geborener Jude, das 20. Jahrhundert zum „jüdischen Jahrhundert“ erklärte – Verfolgung und Massenmord zum Trotz.4 Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem shtetl in die Metropolen des Russischen Reiches, der frühen Sowjetunion sowie Nordamerikas strebenden jungen Juden – Slezkines modernisierende Merkurianer – stellten nach Meinung Petrovsky-Shterns geradezu die Gegenthese zur shtetl-Bevölkerung dar. Dabei sieht Petrovsky-Shtern das shtetl durch widersprüchliche Kräfte von innen und von außen bedroht: durch die zunehmend antipolnische russische Administration, durch die einseitige russländische Industrialisierungspolitik sowie durch den revolutionären Mystizismus und die Klassenkampfideologie jüdischer wie nichtjüdischer Regierungsgegner.

Bemerkenswert und weiterführend sind die einführenden Überlegungen des Autors zur einzigartigen historischen Gestalt des shtetl. Nach Meinung Petrovsky-Shterns verdankte sich diese singuläre Gestalt der nur wenige Jahrzehnte (von 1790 bis 1830) währenden Balance zwischen den Regulierungsansprüchen der aufgeklärten Verwaltung und der ungebrochenen Legitimität der alten ökonomischen und sozialen Ordnung mit dem polnischen shtetl-Besitzer an der Spitze. Die Garantien ökonomischer Freiheit und rechtlicher Sicherheit durch die neuen russländischen Herren kamen insbesondere der jüdischen Bevölkerung zugute, obwohl diese eng mit der polnischen Adelsökonomie verflochten blieb. Der russländische Staat garantierte ihr zunächst ein hohes Maß an innerer Autonomie; der jüdische Kahal – die organisatorische Einheit der lokalen jüdischen Selbstverwaltung – wurde erst 1844 verboten. Darüber hinaus profitierte die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung im Zarenreich laut Petrovsky-Shtern von zwei weiteren Gleichgewichtslagen. Die Marktflecken standen zwischen städtischer und agrarischer Wirtschaft. Die dem Festkreis des christlichen Jahres folgenden Messen und Jahrmärkte des shtetl zogen über seinen unmittelbaren Wirtschaftskreis hinaus Handel und Warenaustausch an, der vor allem von jüdischer Seite organisiert und getragen wurde. Insofern ist die deutsche Bezeichnung Marktflecken präziser als Kleinstadt oder Städtel wie es slawische Bezeichnungen – etwa mestečko – nahelegen. Als Händler, Gast- und Schankwirte, Pächter, Fuhrleute und Handwerker lebten viele Juden von dieser funktionalen Zwitterstellung des shtetl. Schließlich war die Balance zwischen grenzüberschreitendem Fernhandel u.a. mit Luxusgütern für den adligen Bedarf und der regionalen Versorgung des agrarischen Umlandes ein Markenzeichen des shtetl. Zwar lebte auch in den Dörfern des westlichen Grenzsaumes des Russischen Reiches eine jüdische Bevölkerung. Doch hier spielte sie nicht die Schlüsselrolle für die Vermittlung zwischen polnischem Adel und russischem Zentrum, zwischen agrarischer Wirtschaft und überregionalem Handel, zwischen Ex- und Import einerseits und lokaler Produktion andererseits.

Petrovsky-Shtern behandelt im Einzelnen die statistische und ethnographische „Entdeckung“ des shtetl durch die zentralrussischen Beamten, die Veränderung des administrativen Blicks auf das shtetl und infolgedessen der entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen, die Dimension des Handels und seine Bedeutung für regionale und überregionale Wirtschaftskreisläufe, die soziale Ökonomie des Alkoholausschanks, Gewalt und ihre Regeln im shtetl, den Umgang mit Kriminalität, die Zentralität der jüdischen Familie für soziale und religiöse Integration, die Funktionen und Formen der Architektur im shtetl, das religiöse Leben und schließlich die ökonomische und kulturelle Schlüsselstellung des Buchdrucks. In einem Schlusskapitel analysiert Petrovsky-Shtern den Niedergang des shtetl seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Nicht alle Überschriften verraten den zu erwartenden Inhalt des folgenden Abschnitts oder Kapitels. Manchmal haben sie eher ornamentalen Charakter wie auch die ethnographisch höchst interessanten fotografischen Aufnahmen von Häusern, Gegenständen oder Menschen aus dem shtetl, die leider nur in Ausnahmefällen Gegenstand der Darstellung sind. In die Kapitel führen aussagekräftige Beispiele ein, die meist aus den Akten der zuständigen regionalen oder seltener zentralen Behörden stammen.

Das Kapitel zum Buchdruck mag hier exemplarisch stehen (S. 305–339). Die Denunziation, die zu dem überregional beachteten Fall der Schließung der Druckerei der chassidischen Brüder Shapira, die 20 Jahre Verbannungszeit absitzen mussten, dient als Einstieg in eine kurze Wirtschafts- und Kulturgeschichte des jüdischen Buches im Zarenreich.5 Die Interaktion lokaler und zentraler Interessen tritt sehr plastisch zu Tage, ebenso wie die Rahmenbedingungen jüdischen Lesens. Die antichassidische Mission der ersten Generation jüdischer Aufklärer sowie die Ideologie der Zentralisierung lokaler Angelegenheiten resultierten in der Konzentration des hebräischen Buchdrucks in Wilna (Familie Romm) und Schytomyr. An beiden Orten wurden im 19. Jahrhundert mehrmals Ausgaben des Talmud gedruckt. Doch viel höher im Kurs standen die wesentlich weniger voluminösen und um einiges praktischeren Kalender. Sie erschienen in Auflagen von über zehntausend Stück und enthielten historische Daten wie die Gründung St. Petersburgs oder Herrschergeburtstage. So erleichterten sie den Umgang mit der nichtjüdischen Welt – etwa auch durch Hinweise, wie mit russischen Beamten umzugehen sei. Das Verbot chassidischer Bücher wie generell die Zensur hebräischer Drucke, zu denen die Behörden sogenannte „gelehrte Juden“ heranzogen, habe sein Ziel nur teilweise erreicht, berichtet Petrovsky-Shtern. Er führt illegalen Druck, Bücherschmuggel und die Heiligung verbotener Werke durch die Frommen an, wobei diese in ihrer Wirkung mit Ikonen verglichen werden (S. 339). Doch am Kapitelende vermisste der Rezensent eine Zusammenfassung. Das Kapitel dient in seiner Gänze dazu, die anfangs ausgeführte grundlegende These beispielhaft zu illustrieren. Was im Einzelfall die Lesbarkeit erhöht, wirkt auf das gesamte Werk bezogen redundant.

In der Summe ergeben die von Petrovsky-Shtern detailreich belegten Beispiele ein impressionistisches Gesamtbild, dem aber die Tiefenschärfe fehlt. Die abgegriffene These der Abstiegsgeschichte des shtetl wird revidiert, aber nicht widerlegt. Sie wird lediglich um ein halbes Jahrhundert nach vorn verschoben.

Anmerkungen:
1 Jürgen Zarusky, Timothy Snyders „Bloodlands“ – kritische Anmerkungen zur Konstruktion einer Geschichtslandschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 1, S. 1–31; Dieter Pohl, Rez. zu: Timothy Snyder, Black Earth. The Holocaust as History and Warning, London 2015, in: H-Soz-Kult, 15.10.2015, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24652 (15.09.2017).
2 Israel Bartal, Imagined Geography. The shtetl, Myth, and Reality, in: Steven T. Katz (Hrsg.), The shtetl. New Evaluations, New York 2007, S. 179–192.
3 Den Wandel vom hölzernen zum steinernen shtetl thematisiert: Alla Sokolova, Brick as an Instrument of Innovative Assault. The Transformation of the House-Building Tradition in the shtetls of Podolia in the late 19th and early 20th centuries, in: Jurgita Šiaučiunaitė-Verbickienė (Hrsg.), Central and East European Jews at the Crossroads of Tradition and Modernity, Vilnius 2006, S. 188–219.
4 Yuri Slezkine, The Jewish Century, Princeton 2006.
5 Saul Ginsburg, The Drama of Slavuta, Lanham 1991.

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