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Titel
Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch


Herausgeber
Horlacher, Stefan; Jansen, Bettina; Schwanebeck, Wieland
Erschienen
Stuttgart 2016: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
VI, 382 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yves Müller, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Das Handbuch Männlichkeit der Dresdner Literaturwissenschaftler/innen Stefan Horlacher, Bettina Jansen und Wieland Schwanebeck folgt einer Reihe von Überblicksdarstellungen und Handbüchern zur Männlichkeitenforschung1, die sich jedoch auf den englischsprachigen Wissenschaftsdiskurs konzentrierten.2 Ziel der Herausgebenden ist es, den „Dialog zwischen den primär US-amerikanischen Masculinity Studies sowie der in Europa betriebenen Männlichkeitsforschung“ herzustellen und „das von den jeweiligen Fachdisziplinen und Künsten hervorgebrachte Wissen über Männlichkeiten heraus[zu]arbeiten“ (S. 4).

Die Erforschung von ‚Männlichkeit’ ist älter als die Männlichkeitenforschung selbst und kann so auf eine Vorgeschichte zurückblicken, wie der einführende Beitrag von Walter Erhart, einem Pionier der deutschsprachigen Forschung, aufzeigt. Wichtige Impulse lieferte dann neben dem Konzept der Geschlechtsrollenidentität und Klaus Theweleits „Männerphantasien“3 die Männerbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre, die eine ‚Männerforschung’ begründete. Gleichwohl blieb ‚Männlichkeit’ lange „ein noch weithin unbeschriebenes Blatt.“ (S. 14) Bezog sich die frühe Männlichkeitenforschung insbesondere auf die anglophone Soziologie und Psychologie, wie auch der Beitrag zur „englischsprachige[n] Männlichkeitsforschung“ von Todd W. Reeser nachvollzieht, entdeckte seit den 1990er-Jahren ein Teil der Geschichtswissenschaft die Kategorie Männlichkeit und legte den Fokus auf den nicht immer geradlinigen Konstruktionsprozess vielschichtiger Männlichkeiten seit Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Inzwischen ist man insbesondere in den Literatur- und Kulturwissenschaften auf virile wie deviante Männlichkeiten sowie die Fragilität und Krisenanfälligkeit hegemonialer Männlichkeitskonstruktionen aufmerksam geworden. Die Queer Theory wiederum stellt die Frage nach dem Konstruktionscharakter der Geschlechterbinarität und damit überhaupt der Tauglichkeit von ‚Männlichkeit’ als wissenschaftlicher Analysekategorie.

Wie stark die Männlichkeitenforschung im deutschsprachigen Raum von der anglophonen Forschung inspiriert und bestimmt ist, zeigt der Beitrag von Reeser. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Rezeption der englischsprachigen Forschungsdiskurse selektiv geschieht. Reeser referiert das in der deutschsprachigen Männlichkeitenforschung bis heute dominante methodisch-theoretische Konzept der Hegemonialen Männlichkeit nach Raewyn Connell4, geht aber darüber hinaus, indem er die Komplexität und Pluralität von sowie die Interaktionsprozesse zwischen ‚masculinities’ betont.

Der Beitrag über die Forschung in Russland sowie der Ukraine, Tschechien und Polen (Alexander Wöll) weist auf den nachholenden Charakter aufgrund der spezifischen Situation der ehemaligen Ostblockstaaten hin, in denen eine unabhängige Geschlechterforschung bis Anfang der 1990er-Jahre kaum möglich war beziehungsweise marginalisiert blieb. Westliche Genderkonzeptionen seien „weitgehend unfruchtbar geblieben“; gleichzeitig wird „die fehlende eigene Sprache der Gender- und Männlichkeitsforschung in Russland als Hauptproblem“ gesehen (S. 45). Während auch über den Forschungsstand in den romanischen Ländern Westeuropas sowie in Lateinamerika berichtet wird, fehlen Beiträge zu den Ländern und Regionen Afrikas, Ozeaniens (mit Australien) und Asiens in dieser Sektion ebenso wie sie in den weiteren Beiträgen nahezu keine Rolle spielen.

Ein weiterer Abschnitt widmet sich einzelnen Wissenschaftsdisziplinen und ihren Zugängen zu Männlichkeit: Der Blick auf die Archäologie (Linda R. Owen) führt vor Augen, wie stark der vergeschlechtlichte Blick der Forschenden binäre Geschlechtsrollenmodelle erst konstruierte. Unsere Vorstellungen von geschlechtsbasierter Arbeitsteilung in prähistorischen Gemeinschaften (Jagen=männlich, Sammeln=weiblich) stammen aus archäologischen Studien. Männlichkeiten im Paläolithikum (ebenso wie im Neolithikum) in ihrer Varianz aufzufächern, hieße, die Vergangenheit zu ‚entzerren’, die meist prekäre ethnographische Datenbasis neu zu bewerten. In der Humanmedizin und -biologie (Markus Schubert) hingegen liegen die Herausforderungen in der Erforschung der genregulatorischen sowie neurobiologischen Determinanten, deren gesellschaftliche Relevanz insbesondere in Fragen der natalen Geschlechtsbestimmung und der Geschlechtsidentität, insbesondere in Bezug auf Transsexualität, zum Tragen kommt. Natürlich darf eine Darstellung der geschichtswissenschaftlichen Männlichkeitenforschung (Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz/Daniel Albrecht) nicht fehlen. Wenngleich Natalie Z. Davies bereits vor 40 Jahren aus der marginalisierten Perspektive einer damals jungen historischen Frauenforschung forderte, die Einbeziehung von Gender zur „second nature“5 zu machen, dauerte es lange, bis der Männlichkeitengeschichte die wissenschaftliche Anerkennung zuteilwurde, die sie heute hat. Inzwischen hat die Kategorie Männlichkeit mit ihrer Historisierung eine enorme methodisch-theoretische Ausdifferenzierung erfahren, die neben der Relationalität auch die Instabilität und Prozesshaftigkeit sowie die Diskursivierung von Männlichkeit(en) berücksichtigt. Wolfgang Mertens stellt die männliche Persönlichkeitsentwicklung des Jungen in den verschiedenen Lebensphasen in den Vordergrund seines Beitrages zur Psychoanalyse, während die Psychologie (Holger Brandes) Schwerpunkte in der Vater- und Bildungsforschung sowie der männerorientierten Therapie findet. Die geschlechtlich vorstrukturierte Macht des Rechts hinterfragt der Beitrag zur Rechtswissenschaft (Richard Collier), die Männlichkeit bisher weitgehend ignoriert. Vice versa müsse aber auch die Männlichkeitenforschung deutlicher Bezüge herstellen und rechtswissenschaftliche Fragen in den Vordergrund rücken. Der Abschnitt schließt mit Beiträgen zur Religionswissenschaft (Björn Krondorfer) und Soziologie (Michael Meuser), die den Stellenwert der Männlichkeitenforschung in den beiden Disziplinen beschreiben, der unterschiedlicher kaum sein könnte. Denn während die soziologische Männlichkeitenforschung sowohl in Theorie als auch Gegenwartsanalysen einen zentralen Platz innerhalb der Gesamtdisziplin einnimmt und ebenso für andere Disziplinen immer wieder als Stichwortgeberin fungiert, scheint die Theologie hier Nachholbedarf zu haben. Dabei ist das empirische Reservoir in seinen zeitlichen Längen (von prähistorischen Religionen bis heute) wie globalen Ausmaßen (der Shintoismus in Japan, die afrobrasilianische Religion des Candomblé usw.) schier unerschöpflich.

Ein weiteres Kapitel ist den Künsten gewidmet. Neben Aufsätzen u.a. über Film und Musik beschreiben allein fünf Beiträge den Forschungsstand in den Literaturwissenschaften. Toni Tholen verweist dabei auf die Etablierung der Männlichkeitenforschung in der Germanistik, die nicht nur Männlichkeitsbilder und -stereotypen des Helden, Kriegers oder Familienoberhauptes untersucht, sondern sich auch mit „der narrativen Herstellung männlicher Identität“ (S. 271) oder Homosexualität und -erotik sowie nicht-hegemonialen Erzählungen und effeminierten Männlichkeiten in der Literatur befasst. Etwas zu kurz kommt allerdings die DDR-Literatur; nicht erwähnt wird der Wenderoman. In seinem Beitrag zur Englischsprachigen Literatur verweist Rainer Emig darauf, dass eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Prozess ’männlichen’ Schreibens bisher ausblieb, während in der Slawistik das Ost-West-Verhältnis jede literaturwissenschaftliche Männlichkeitenforschung überlagert, wie Alexander Wölls Aufsatz zeigt.

Ein wissenschaftliches Handbuch dient dem Zweck, vorhandenes Wissen um einen Gegenstand zusammenzutragen, aufzubereiten und zu ordnen. Es trägt den inner- und interdisziplinären state of the art zusammen und ist FAQ, Wörterbuch und Regelwerk in einem. Diesem Anspruch wird das Handbuch Männlichkeit ohne Frage gerecht: Die sachdienliche Kapiteleinteilung mit den das Gros der relevanten Disziplinen umfassenden, alphabetisch geordneten Darstellungen sowie nützliche Sach- und Personenregister formen ein Nachschlagewerk, das bisher fehlte. Form und Umfang der Berichte variieren mitunter; nicht alle Einträge liefern auch einen Ausblick oder weisen auf Desiderata hin. Insgesamt wären zusammenfassende Einführungen der einzelnen Kapitel durch die Herausgeber/innen sinnvoll gewesen. Einige Aufsätze zeigen das Wechselverhältnis von Wissenschaft, gesellschaftlichem Diskurs, Praxis und Politik auf. Anzumerken ist sicherlich das Fehlen einer kritischen Selbstverortung der Männlichkeitenforschung als Wissenschaft des Ungleichzeitigen: Wie etabliert ist der Forschungszweig? Gerät die ‚Zauberformel’ vom interdisziplinären Zugang an Grenzen, und wo liegen diese? Wird Männlichkeitenforschung eher als zeitweiliger Trend wahrgenommen, der seine Innovationsfähigkeit erst unter Beweis stellen muss? Kann sie sich gegenüber dem rechten Backlash langfristig behaupten?

Der Band zeigt, dass die Männlichkeitenforschung „als Fortführung, Erweiterung und Ergänzung geschlechtertheoretischer und geschlechtergeschichtlicher Fragestellungen“ (S. 18) ihren Platz innerhalb der Forschungslandschaft gefunden hat. So bietet der Band nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern liefert auch Anknüpfungspunkte und das nötige Handwerkszeug für darüber hinausgehende Fragestellungen.

Anmerkungen:
1 Anders als die Herausgeber/innen und Autor/innen, die von „Männlichkeitsforschung“ sprechen, verwende ich den Begriff der Männlichkeitenforschung, um die Pluralität und Fragilität von Männlichkeiten zu unterstreichen.
2 Michael S. Kimmel u.a. (Hrsg.), Handbook of Studies on Men & Masculinities, Thousand Oaks 2005; Michael S. Kimmel / Amy Aronson (Hrsg.), Men & Masculinities. A Social, Cultural and Historical Encyclopadia, 2 Bde., Santa Barbara 2004; Elisabetta Ruspini u.a. (Hrsg.), Men and Masculinities around the World. Transforming Men’s Practices, New York 2011.
3 Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg 1980.
4 Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Geschlecht und Gesellschaft 8), 4. durchges. u. erw. Auflage, Wiesbaden 2015 (zuerst Englisch: 1995).
5 Natalie Z. Davies, „Women's History“ in Transition: The European Case, in: Feminist Studies 3,3/4 (1976), S. 83–103, hier: 90.

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