T. Beigel (Hrsg.): Wilhelm II.: Archäologie und Politik um 1900

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Titel
Wilhelm II.. Archäologie und Politik um 1900


Herausgeber
Beigel, Thorsten; Mangold-Will, Sabine
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
140 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die Beurteilung des letzten deutschen Kaisers, Wilhelm II. (1859–1941), blieb unter Zeitgenossen wie Historikern gleichermaßen umstritten. Einer traditionellen aristokratischen Grundhaltung stand ein ausgeprägtes Faible für die Modernität des Industriezeitalters gegenüber. Unberechenbar, schillernd, sprunghaft, impulsiv und narzisstisch sind einige Adjektive, mit denen man versucht hat, sein widersprüchliches Wesen zu erfassen. Der egozentrische Charakter des Monarchen zeigte sich auch in seiner Vorliebe für Phantasie-Uniformen oder in der Verwendung des Akronyms „Hidekk“, einer Verschlüsselung für „Hauptsache ist, die Engländer kriegen Keile“.

Der vorliegende Sammelband enthält acht kleinere Beiträge, die aus der Feder von insgesamt neun Autorinnen und Autoren verschiedener Disziplinen stammen und mehrheitlich aus einer Tagung im Jahr 2012 hervorgegangen sind. Dabei dominiert die politikwissenschaftlich-zeithistorische Ausrichtung, während die Vertreter der Antikeforschung deutlich schwächer repräsentiert sind. Wie die Herausgeber Thorsten Beigel und Sabine Mangold-Will in ihrer Einleitung formulieren, verfolgt die Publikation das Ziel, das breitgefächerte archäologische Engagement Wilhelms II. nicht als bloße Marotte abzutun. Vielmehr steht das Desiderat von Ausgrabungsdisziplin und Herrscher im Mittelpunkt, „es sollen aber auch Forscher, Institutionen und konkrete Grabungsprojekte behandelt werden“ (S. 12).

Den Auftakt macht ein stark geraffter Überblick von Suzanne Marchand über die deutsche Archäologie in der Wilhelminischen Ära. Als primäre Absicht wird den Repräsentanten der „Spatenwissenschaft“ ein vom Kaiser unterstütztes offensives Vorgehen attestiert, das das Ziel verfolgt habe, „to give German scholarship and museums greater prestige, and make Germany a more powerful player in the world beyond Europe“ (S. 18). Matthias Steinbach skizziert anschließend das Verhältnis des Hohenzollern zu den Gelehrten von der Kasseler Gymnasialzeit über die Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft“ bis zum Exil, wobei die Bedeutung seines „Lieblingsarchäologen“ Wilhelm Dörpfeld (S. 30 u. 33) und des Ethnologen Leo Frobenius hervorgehoben wird.

Der zentrale Teil des Buches widmet sich der bereits recht gut erforschten kaiserlichen Orientreise von 1898. Dieter Vieweger, Julia Serr und Marcel Serr gehen auf den Palästina-Besuch ein, der die deutsch-osmanischen Beziehungen stärken und mit dem Bau der Erlöserkirche in Jerusalem ein dauerhaftes Zeichen deutscher Präsenz in der Levante schaffen sollte. Zudem sei es durch den Erwerb von Grabungslizenzen für Baalbek und Babylon gelungen, „einen gewaltigen Schub“ für die Archäologie zu erzielen (S. 51). Den Effekt mit der größten Nachhaltigkeit sehen die Autoren jedoch in der Gründung des „Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaften des Heiligen Landes“ (DEI). Deutliche Reminiszenzen an den Stauferkaiser Friedrich II., den legendären Sultan Saladin und die Kreuzzüge arbeitet Mangold-Will in ihren Ausführungen zur Nahost-Visite heraus. Wilhelm II. habe die Vorstellung einer chronologischen und geographischen Abfolge von den Sumerern des Zweistromlandes über Vorderasien, Griechenland, Ägypten und Rom nach Preußen als Vollendung dieser Evolution besessen. Die Archäologie habe bei dieser „doppelten Translatio“ eine überragende Rolle gespielt, um die eigene Regentschaft wissenschaftlich abzusichern (S. 64).

Die Ausgrabungen in Baalbek, dem antiken Heliopolis, erörtert der Klassische Archäologe Lars Petersen. Er unterstreicht die monumentale Faszination der Ruinenstadt, die „hervorragend in die imperiale Vorstellungswelt des deutschen Kaisers“ passte, da er hier seine Ideen „von Herrschaft und Religion verbinden konnte“ (S. 74). Seiner romantischen Ader folgend, ließ Wilhelm bei seinem Besuch das Zeltlager in den historischen Trümmern aufschlagen. Trotz starker finanzieller Förderung konnte die Publikation der Forschungsergebnisse jedoch erst rund 20 Jahre nach Abschluss der Grabungen erfolgen. Dennoch habe die deutsche Baalbek-Expedition von 1898 bis 1905 wegen der Zusammenarbeit von Archäologen, Bauforschern, Historikern und Geographen sowie der Dokumentation mit der neuartigen Photogrammetrie bis in unsere Zeit Maßstäbe gesetzt.

Zwischen Wilhelm II. und der 1911 gefundenen, in Stein gebannten Gorgo des Artemistempels auf Korfu bildete sich eine besondere Verbindung heraus, die Beigel nachzeichnet. Jahrzehntelang stand der Monarch im Bann dieser Entdeckung, publizierte mehrere Abhandlungen zu dem Thema und bezeichnete sich sogar selbstironisch als „Gorgologe“ (S. 87). Im Exil interpretierte er das Relief als wesentliches Indiz für eine in antiken Zeiten existierende Brücke des Austausches von Asien nach Europa. Unter dem Einfluss der Kulturmorphologie stellte er nach der Meinung des Wuppertaler Althistorikers eine Analogie zur Gegenwart fest und sah einen Gegensatz zwischen „orientalischen“ Deutschen einerseits und „okzidentalen“ Franzosen sowie Engländern andererseits.

Die niederländische Lebensphase nach der erzwungenen Abdankung des Hohenzollern sowie die Person des erwähnten Ethnologen Frobenius bilden auch den Fluchtpunkt für Christoph J. Franzens Ausführungen über die „Doorner Arbeitsgemeinschaft“ (D.A.G.). In der D.A.G., später als Akademie bezeichnet, versammelte sich ein heterogen zusammengesetzter Zirkel von Professoren unter dem Patronat des selbsternannten Gorgo-Experten. Aus den Reihen der Altertumswissenschaftler und Orientalisten waren unter anderem Walter F. Otto, Karl Reinhardt, Carel W. Vollgraff, Franz Böhl und Julius Jordan vertreten, wobei die „Dioskuren“ Franz Altheim und Karl Kerényi stellvertretend für ganz unterschiedliche Biografien stehen können.1 Während die angesehenen, aber meist nonkonformistischen Gelehrten darauf hofften, von der Nähe zum Akademie-Chef zu profitieren, suchte Wilhelm die Anerkennung durch die Fachwelt; so formulierte er in einem Brief an Frobenius am 21. Dezember 1924 überspitzt: „Da wird ein Dilettant stolz wie ein Pfau!“ (S. 116).

In einer „Schlussbetrachtung“ stellt die Neuzeithistorikerin Mangold-Will nochmals die Bedeutung der Ausgrabungsdisziplin für Wilhelm II. als moderne Wissenschaft im Dienste der Herrschaftslegitimation heraus. Weder könne man von einer systematischen Archäologie-Politik des Kaisers sprechen, noch sei seine Orientbegeisterung im Europa des imperialen Zeitalters auf merkliche Gegenliebe gestoßen, sondern habe provozierend gewirkt. Ein knappes Dutzend Abbildungen, ein Autoren- und Personenregister sowie ein Literaturverzeichnis komplettieren das Werk.

Die Aufsatzsammlung betont die Implikationen von politischen Erwägungen und Wilhelms Enthusiasmus für die Archäologie. Angesichts der relativ kurzen Beiträge wirkt es allerdings wenig gelungen, dass es zu thematischen Überschneidungen bis zu wortgleichen Zitaten kommt (vgl. S. 33 u. 95). Weiterhin führt die Konzentration auf die Orientreise von 1898 zur Vernachlässigung anderer Bereiche. Ausgeblendet werden beispielsweise die Aktivitäten zur Rekonstruktion des Saalburg-Kastells nebst seiner propagandistischen Inszenierung.2 Staatlich unterstützte Grabungskampagnen in Assur, Milet, Priene, Pergamon oder Didyma werden ebenso vernachlässigt wie die institutionelle Förderung durch den Homer- und Schliemann-Verehrer. Man denke an die Gründung der Römisch-Germanischen Kommission (RGK) in Frankfurt am Main am 1. Oktober 1902 oder die Lancierung von Altertümer-Sammlungen in den Berliner Museen. Als Schnittstelle von Monarch und Fachwissenschaft ziehen namhafte Vertreter der „Zunft“ die Aufmerksamkeit auf sich, auf die nur am Rande eingegangen wird. Stellvertretend kann auf Wilhelms Kasseler „Leidensgenossen“, Theodor Wiegand, verwiesen werden, in dessen Gestalt sich wie in einem Brennglas persönliche Beziehungen, Feldforschung, staatliche Repräsentationspolitik und Kontinuitätsproblematik bündeln.3 Daher besteht das eingangs festgestellte Desiderat von Kaiser und Archäologie im Deutschen Reich fort.

Anmerkungen:
1 Vgl. Volker Losemann, Die „Krise der Alten Welt“ und der Gegenwart. Franz Altheim und Karl Kerényi im Dialog, in: Peter Kneissl / Volker Losemann (Hrsg.), Imperium Romanum. Studien zur Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1998, S. 492–518.
2 Vgl. Egon Schallmayer (Hrsg.), Hundert Jahre Saalburg. Vom römischen Grenzposten zum europäischen Museum, Mainz 1997.
3 Vgl. Johannes Althoff / Frederick Jagust / Stefan Altekamp, Theodor Wiegand (1864–1936), in: Gunnar Brands / Martin Maischberger (Hrsg.), Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus, Bd. 2, Rahden in Westfalen 2016, S. 1–37.

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